Hier zeigt sich, dass die Gesamtfaktorproduktivität um das Jahr 1910 in der Landwirtschaft in Großbritannien 140 und den Vereinigten Staaten 166 Prozent der deutschen ausmachte. Im verarbeitenden Gewerbe lagen die entsprechenden Raten bei 80 bzw. 145 Prozent und in der Gesamtwirtschaft schließlich bei 133 bzw. 126 Prozent. Relative Arbeitsproduktivität und komparative Gesamtfaktorproduktivität lagen somit in der Landwirtschaft nur wenige Prozentpunkte – neun im Falle von Großbritannien und viereinhalb im Falle der Vereinigten Staaten – auseinander. Im verarbeitenden Gewerbe stand Deutschland bei Verwendung der Gesamtfaktorproduktivität vergleichsweise gut dar, denn die deutsche Position verbesserte sich gegenüber Großbritannien um 15 und gegenüber den Vereinigten Staaten sogar um 47 Prozentpunkte. 106 Auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene hatte Großbritannien eine im Vergleich zur Arbeitsproduktivität höhere Gesamtfaktorproduktivität. Daraus kann gefolgert werden: Deutschland akkumulierte relativ mehr Kapital als Großbritannien. Allerdings hatten die Vereinigten Staaten bei Verwendung der Gesamtfaktorproduktivität einen geringeren Vorteil gegenüber Deutschland als bei Verwendung der Arbeitsproduktivität. Dies zeigt, dass in den Vereinigten Staaten von Amerika vergleichsweise kapitalintensiv produziert wurde, sowohl im Vergleich mit Deutschland als auch mit Großbritannien. Die relativ hohe Bedeutung des Produktionsfaktors Kapital für das Wachstum der amerikanischen Wirtschaft zeigt sich auch bei einer vergleichenden Wachstumsbilanzierung.107 Zwischen der Jahrhundertmitte und dem Ersten Weltkrieg weisen die Wachstumsbilanzen für die drei Länder Beiträge des Produktionsfaktors Arbeit am Wirtschaftswachstum von 33,5 Prozent (Deutschland), 31,2 Prozent (Großbritannien) und 40,7 Prozent (Vereinigte Staaten) aus. Der Produktionsfaktor Kapital trug in Deutschland 25,2 Prozent, in Großbritannien 24,2 Prozent und in den Vereinigten Staaten 32,2 Prozent zum Wirtschaftswachstum bei. Auf das Wachstum der Gesamtfaktorproduktivität – den sogenannten technischen Fortschritt – sind in Deutschland 41,1 Prozent, in Großbritannien 44,6 Prozent und in den Vereinigten Staaten nur 27 Prozent der Produktionssteigerung zurückzuführen. Im Großen und Ganzen wurde das Wachstum in den Vereinigten Staaten von Amerika größtenteils durch Faktorakkumulation verursacht, in den |56◄ ►57| beiden europäischen Volkswirtschaften war stattdessen die höhere Gesamtfaktorproduktivität für das Einkommenswachstum verantwortlich.
Tabelle T6: Beschäftigungsstruktur
Quelle: Broadberry, Anglo-German productivity differences, S. 252; Broadberry, How did the United States, S. 385.
Eine höhere Gesamtfaktorproduktivität kann sowohl durch höheres technisches Wissen als auch durch eine Reallokation von Produktionsfaktoren von verhältnismäßig unproduktiven Sektoren in produktive Sektoren verursacht werden. Die relative Arbeitsproduktivität zweier Volkswirtschaften hängt somit, neben der komparativen Arbeitsproduktivität in den einzelnen Branchen, auch von der Verteilung der Arbeitskräfte auf die Branchen ab. Ein außerordentlich großer Produktivitätsvorteil in einer unwichtigen Branche kann bei aggregierter Betrachtung durch einen kleinen Produktivitätsnachteil in einer wichtigen Branche ausgeglichen werden. Mit Hilfe der in Tabelle T6 zusammengestellten Beschäftigtenzahlen kann dieses Problemfeld weiter untersucht werden.
Im Deutschen Reich und den Vereinigten Staaten von Amerika waren rund ein Drittel aller Erwerbstätigen in der Landwirtschaft beschäftigt. Der Anteil dieses Sektors in Großbritannien zu Beginn des 20. Jahrhunderts machte dagegen lediglich rund ein Zehntel aus. Großbritannien und die Vereinigten Staaten hatten im Vergleich zu Deutschland in diesem Sektor einen erheblichen Vorsprung bei der Arbeits- und Gesamtfaktorproduktivität. Dies bedeutet, dass vor allem die geringe Bodenintensität der deutschen Landwirtschaft bzw. die Überbesetzung des Bodens mit Arbeitskräften für die Produktivitätslücke verantwortlich war. Der deutsche Agrarsektor war ineffizient. Hohe Agrarzölle verhinderten eine Größenanpassung des Agrarsektors und erst nach dem Zweiten Weltkrieg setzte ein deutlicher Rückgang des Beschäftigungsanteils ein. Im verarbeitenden |57◄ ►58| Gewerbe war in Deutschland und Großbritannien rund ein Drittel, in den Vereinigten Staaten rund ein Fünftel der Erwerbstätigen beschäftigt. In diesem Sektor hatte Deutschland einen Vorsprung bei der Arbeits- und der Gesamtfaktorproduktivität gegenüber Großbritannien, aber zugleich einen Rückstand gegenüber den Vereinigten Staaten. Diese Gemengelage macht eine detaillierte Untersuchung des verarbeitenden Gewerbes notwendig. Tabelle T7 zeigt die relative Arbeitsproduktivität Deutschlands im Vergleich zu Großbritannien und den Vereinigten Staaten für das verarbeitende Gewerbe sowie für vier Branchen innerhalb dieses Sektors. Verglichen mit Großbritannien zeigt Deutschland eine sehr ungleichmäßige relative Arbeitsproduktivität: Deutschland war in der chemischen Industrie, der Metallerzeugung und der Metallverarbeitung – dazu zählen der Maschinenbau und die Elektroindustrie – sehr produktiv, in der Textil-und Bekleidungs- sowie Nahrungs- und Genussmittelindustrie hingegen weniger produktiv. Verglichen mit den Vereinigten Staaten gab es in Deutschland, mit Ausnahme der chemischen Industrie, durchweg eine sehr niedrige Arbeitsproduktivität.
Tabelle T7: Relative Arbeitsproduktivität
circa 1910 | Deutschland = 100 | |
---|---|---|
Großbritannien | Vereinigte Staaten von Amerika | |
Chemie | 87,8 | 137,3 |
Metallerzeugung und Metallverarbeitung | 71,8 | 205,7 |
Textilien und Bekleidung | 121,5 | 183,1 |
Nahrungs- und Genussmittel | 149,5 | 205,1 |
verarbeitendes Gewerbe | 95,2 | 192,3 |
Quelle: eigene Berechnungen. Broadberry und Burhop, Comparative productivity, S. 321; Broadberry, Manufacturing, S. 786.
Das Verständnis der Produktivitätsunterschiede wird durch branchenspezifische Fallstudien vertieft. Allerdings liegen nur für sehr wenige Branchen länderübergreifende, quantitativ vergleichende Studien vor. Eine der wenigen drei Länder umfassenden Branchenstudien untersucht die Eisen- und Stahlindustrie. In dieser lassen sich im 19. Jahrhundert anhand der Außenhandelsstatistik drei Phasen des internationalen Wettbewerbs feststellen.108 Bis 1870 dominierte Großbritannien den Welthandel von Eisen und Stahl, wobei deutsche und nordamerikanische Produzenten nicht auf dem Weltmarkt aktiv waren. Im Verlauf der 1870er Jahre trat Deutschland als Mitbewerber auf dem Weltmarkt auf. Die |58◄ ►59| Vereinigten Staaten importierten nach wie vor große Mengen Eisen und Stahl aus Großbritannien. Im Verlauf der 1890er Jahre stieg jedoch die Wettbewerbsfähigkeit der amerikanischen Industrie an, weshalb die britischen Importe dorthin deutlich zurückgingen und amerikanische Hersteller ihre Waren auf dem Weltmarkt zunehmend verkauften. Diese drei Phasen lassen sich vordergründig durch die Preisentwicklung erklären: Der Tonnenpreis für Eisenbahnschienen betrug beispielsweise um 1860 rund 129 Mark in Großbritannien, 227 Mark in Deutschland und 224 Mark in den Vereinigten Staaten. In der Dekade vor dem Ersten Weltkrieg kostete dieses Produkt 121 Mark in Großbritannien, 110 Mark in Deutschland und 115 Mark in den Vereinigten Staaten. Die Preiskonvergenz zwischen den drei Ländern kann einerseits durch fallende Gewinne der Produzenten in Deutschland und den Vereinigten Staaten und andererseits durch fallende Kosten für Zwischenprodukte und Produktionsfaktoren – Kohle, Eisenerz, Arbeit, Kapital – sowie durch technischen Fortschritt begründet sein. In den Vereinigten Staaten nahm zwischen 1880 und 1913 vor allem die Kapitalintensität stark zu – bei allerdings leicht fallender Kapitalproduktivität –, wodurch auch die Arbeitsproduktivität stark anstieg. Wenn zu Beginn des 20. Jahrhunderts einem amerikanischen Stahlarbeiter Maschinen mit einer Leistungsfähigkeit von 10,8 PS zur Verfügung standen, dann konnte ein englischer und deutscher Arbeiter lediglich 5,3 bzw. 4,8 PS zu Hilfe nehmen. Die Kapitalproduktivität war aber in Europa deutlich höher als in Übersee: In den Vereinigten Staaten betrug die Kapitalproduktivität 7,8 Tonnen Eisen und Stahl je PS, in Deutschland und Großbritannien waren die entsprechenden Raten nur 14,6 bzw. 9,0 Tonnen. Die im Vergleich zu Deutschland etwa 20 Prozent