Carsten Burhop

Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs 1871-1918


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und frühen 20. Jahrhundert nicht außergewöhnlich war.97 Erklärungsbedürftig scheint vor allem der vergleichsweise geringe Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens in Großbritannien und das relativ niedrige Wachstum der Bevölkerung in Frankreich. Die wirtschaftshistorische Forschung hat sich in den vergangenen Dekaden vor allem der ersten Frage zugewandt. Die zweite Frage fällt vornehmlich in das Feld der Sozialgeschichte. Da sich das Einkommen pro Kopf per definitionem aus dem Einkommen je Beschäftigtem – der Arbeitsproduktivität – multipliziert mit der Erwerbsquote – dem Quotienten aus Erwerbstätigen und Bevölkerung – ergibt, können unterschiedliche Pro-Kopf-Einkommen zumindest vordergründig |51◄ ►52| auf Unterschiede in der Arbeitsproduktivität und der Erwerbsquote zurückgeführt werden.

      Tatsächlich blieb die Erwerbsquote in Großbritannien zwischen 1871 und 1913 nahezu konstant – 1871 betrug sie 44,5 Prozent, vier Dekaden später 45 Prozent. In Deutschland stieg sie von 42,3 auf 46,2 Prozent an. Dies bedeutet, dass ein Teil des im Vergleich zu Großbritannien rascheren Wachstums des deutschen Pro-Kopf-Einkommens auf das relative Wachstum der Erwerbsquote zurückzuführen ist. Ungleich stärker fiel der Anstieg in Frankreich aus, wo sich die Erwerbsquote zwischen 1872 und 1911 von 40,7 auf 53,4 Prozent vermehrte. Frankreich kompensierte also sein schwaches Bevölkerungswachstum zumindest teilweise durch eine stärkere Partizipation am Produktionsprozess.98

      Neben dem Anstieg der Erwerbsquote könnte das Wachstum der Arbeitsproduktivität zur vergleichsweise raschen Erhöhung des deutschen Pro-Kopf-Einkommens in der Zeit des Kaiserreichs mit beigetragen haben. Die Arbeitsproduktivität kann sowohl auf aggregierter Ebene anhand von Daten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung als auch auf disaggregierter Ebene ermittelt und mit Hilfe von Beschäftigungsanteilen auf das gesamtwirtschaftliche Niveau extrapoliert werden. Unter der disaggregierten Ebene versteht man die Ebene der einzelnen Sektoren und Branchen. Prinzipiell sollten beide Ansätze zu ähnlichen Ergebnissen führen. Im vorherigen Kapitel haben wir jedoch gesehen, dass die historische volkswirtschaftliche Gesamtrechnung lediglich ein ungefähres Bild der wirtschaftlichen Entwicklung in einem Land gibt. Werden nun zwei möglicherweise mangelhafte volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen zueinander in Beziehung gesetzt, dann können sich die Unzulänglichkeiten zufällig aufheben –sie können sich aber auch verstärken. Darüber hinaus sollte berücksichtigt werden, dass die Kaufkraft des Geldes in Ländern unterschiedlich sein und vom Wechselkurs durchaus abweichen kann. Daher basiert die moderne komparative quantitative Wirtschaftsgeschichte auf branchenspezifischen Produktivitätsvergleichen bei Verwendung von Kaufkraftparitätswechselkursen. Das Verfahren wird hier anhand der relativen Produktivität der deutschen und britischen Automobil- und Motorradindustrie im Jahre 1907 illustriert.99 1907 produzierte diese Branche in Großbritannien 8.800 Autos, 1.500 Karosserien und 3.700 Motorräder zu Stückkosten von 335, 425 und 37 Pfund. In Deutschland wurden im |52◄ ►53| gleichen Jahr 7.318 Automobile, 2.126 Karosserien und 3.703 Motorräder zu Stückkosten von 6.537, 9.472 und 607 Mark hergestellt. Unter der Annahme, dass in beiden Ländern im Durchschnitt Automobile, Karosserien und Motorräder gleicher Qualität produziert wurden, kann man die Kaufkraftparität für die drei Güter aus dem Verhältnis der Stückkosten in den jeweiligen Ländern berechnen. Diese Rechnung ergibt eine Kaufkraftparität von 19,51 Mark je Pfund für Automobile, von 22,29 Mark je Pfund für Karosserien und von 16,41 Mark je Pfund für Motorräder. Gewichtet man diese drei Kaufkraftparitäten mit den Produktionsanteilen der drei Güter in den beiden Ländern, dann ergibt sich für diese Branche eine Kaufkraftparität von 20,04 Mark je Pfund.100 Neben den drei Gütern, die miteinander verglichen werden konnten, produzierte die jeweilige Industrie Waren, die nur in einem Land hergestellt bzw. die nur in einem Land in der Produktionsstatistik separat ausgewiesen wurden. Man nimmt an, dass für diese Waren dieselbe Kaufkraftparität gilt. Insgesamt produzierte die britische Automobilindustrie bei einem Einsatz von 54.043 Mitarbeitern und Vorleistungen im Wert von 5,7 Millionen Pfund Waren im Wert von 11,6 Millionen Pfund, d. h. die Bruttowertschöpfung betrug 5,9 Millionen Pfund bzw. 109 Pfund je Mitarbeiter. Gemäß der oben ermittelten Kaufkraftparität entspricht dies einer Arbeitsproduktivität von 2.188 Mark. Die Bruttowertschöpfung je Mitarbeiter der deutschen Automobilindustrie betrug lediglich 1.925 Mark oder 88 Prozent der britischen. 101

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      Quelle: Nettosozialprodukt für Deutschland, Großbritannien und Frankreich. Bruttosozialprodukt für die Vereinigten Staaten; in Mrd. Mark bzw. Mark pro Kopf. Bevölkerung in Mio. Umgerechnet nach Kaufkraftparitäten nach Williamson, Evolution, S. 184. Britische Daten aus B.R. Mitchell, British Historical Statistics. Französische Daten aus Levy-Leboyer und Bourguigon, L’economie francaise. Amerikanische Daten aus Balke / Gordon, Estimation.

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      Nun kann mit diesem Verfahren Branche für Branche miteinander verglichen werden. Mit Hilfe der Beschäftigtenzahlen in den jeweiligen Produktionszweigen können weiterhin die branchenspezifischen relativen Produktivitätsniveaus zunächst auf der sektoralen und schließlich auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene zusammengefasst werden.102 Tabelle T5 stellt das Ergebnis für die drei Länder Deutschland, Großbritannien und die Vereinigten Staaten von Amerika für die Zeit um 1910 dar, wobei das Arbeitsproduktivitätsniveau in Deutschland gleich 100 gesetzt wurde.103 Dies impliziert, dass ein Tabellenwert über 100 einen Produktivitätsvorteil des jeweils anderen Landes gegenüber Deutschland indiziert, ein Wert unter 100 aber einen deutschen Produktivitätsvorsprung anzeigt. Um das Jahr 1910 wies die deutsche Wirtschaft im Vergleich zu den Vereinigten Staaten von Amerika in allen sieben marktwirtschaftlich orientierten Zweigen eine deutlich niedrigere Arbeitsproduktivität auf. Insgesamt waren Beschäftigte in den Vereinigten Staaten rund 58 Prozent produktiver als in Deutschland. Das durchschnittliche Niveau der Arbeitsproduktivität in Deutschland betrug lediglich 63 Prozent des amerikanischen. Im Vergleich mit Großbritannien schneidet Deutschland hingegen besser ab. Einerseits gab es erhebliche Produktivitätsrückstände in der Landwirtschaft, im Bergbau und im Handel sowie bei Banken, Versicherungen und sonstigen Dienstleistungen. Andererseits war die Arbeitsproduktivität in Deutschland im verarbeitenden Gewerbe, im Baugewerbe, in der Gas-, Wasser- und Elektrizitätsversorgung sowie im Transport- und Kommunikationswesen deutlich höher.

      Im Durchschnitt waren Erwerbstätige in Großbritannien um 1910 lediglich 16 Prozent produktiver als deutsche Werktätige. Deutschland schloss somit am |54◄ ►55| Vorabend des Weltkriegs nahezu zum Mutterland der Industrialisierung auf. Diese Ermittlung der relativen Arbeitsproduktivität ergibt folglich ein für Deutschland verhältnismäßig positives Bild, denn die Arbeitsproduktivität, ermittelt aus der historischen volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und mit Hilfe von amtlichen Wechselkursen transformiert, weist für Deutschland einen Rückstand von 36 Prozent gegenüber Großbritannien im Jahre 1910 aus.104 Gleichwohl belegen beide Verfahren einen Rückstand Deutschlands.

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      Quelle: eigene Berechnungen aufgrund von Daten aus Broadberry, How did the United States, S. 380; Broadberry / Burhop, Comparative productivity, S. 321; Broadberry, Anglo-German productivity in services, S. 233; Broadberry, Anglo-German productivity differences, S. 251.

      Eine Ursache der markanten Unterschiede der komparativen Arbeitsproduktivität zwischen den drei Ökonomien könnte eine unterschiedliche Kapitalausstattung gewesen sein. Offensichtlich ist dieser Effekt in der Landwirtschaft, bei der auf jeden männlichen Landarbeiter in Deutschland im Jahre 1910 nur 6,6 Hektar fruchtbarer Boden entfiel. In Großbritannien waren es hingegen 11,4 Hektar und in den Vereinigten Staaten 44,1 Hektar.105 Die positiven Wirkungen |55◄ ►56| des höheren Kapitaleinsatzes auf die Arbeitsproduktivität werden berücksichtigt, wenn man anstelle der Arbeitsproduktivität die Gesamtfaktorproduktivität betrachtet. Dies ist jedoch, da Kapitalstockdaten