Sozialprodukts von der Verteilungsseiteund einer Berechnung des realen Sozialprodukts von der Entstehungsseite, auch Berechnungen des realen und nominalen Sozialprodukts von der Verwendungsseite. Der Quotient der beiden letztgenannten Datenreihen ergibt den Sozialproduktdeflator, der zur Umrechnung aller nominalen Sozialproduktreihen in reale Größen verwendet werden kann. Veränderungen des Preisniveaus werden dabei ausgeblendet.
Abbildung A2: Systematik der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung
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Damit liegen in der wirtschaftshistorischen Forschung vier Zeitreihen des realen Sozialprodukts für die Jahre 1851 bis 1913 vor: zwei Verteilungsrechnungen, eine Entstehungsrechnung und eine Verwendungsrechnung. Einschränkend muss sogleich festgehalten werden, dass alle vorliegenden Rechnungen Nettosozial- bzw. Nettoinlandsprodukte und nicht die eigentlich gesuchten Bruttosozial- bzw. Bruttoinlandsprodukte ergeben, da nahezu keine Informationen über die Höhe des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks und der Abschreibungen auf diesen vorhanden sind.64 Die vorliegenden Nettoreihen sollten zudem geringfügig voneinander abweichen, da sich aus der Verwendungsrechnung das Nettosozialprodukt zu Marktpreisen, aus der steuerstatistischen Verteilungsrechnung das Nettosozialprodukt zu Faktorkosten sowie aus der lohn- und gewinnstatistikbasierten Verteilungsrechnung und der Entstehungsrechnung das Nettoinlandsprodukt zu Faktorkosten ergibt. Postuliert man das Nettosozialprodukt zu Marktpreisen als die gesuchte Größe, dann sind für den Übergang vom Nettoinlandsprodukt zum Nettosozialprodukt Angaben über das Nettoeinkommen aus dem Ausland und für den Übergang vom Nettosozialprodukt zu Faktorkosten zum Nettosozialprodukt zu Marktpreisen Daten über indirekte Steuern notwendig. 65 Der Übergang vom Inlands- zum Sozialprodukt gestaltet sich hingegen etwas schwieriger, da Angaben über aus dem Ausland erhaltene bzw. an das Ausland geleistete Arbeits- und Kapitaleinkommen nicht vorliegen. Zunächst wird daher die Annahme getroffen, dass das Nettoarbeitseinkommen aus dem Ausland Null beträgt.66 Das Nettokapitaleinkommen aus dem Ausland kann mit Hilfe von verschiedenen Annahmen über die Höhe des Nettoauslandsvermögens und dessen Rentabilität ermittelt werden.67 Da die Verwendungsrechnung von |34◄ ►35| vornherein als Nettosozialprodukt zu Marktpreisen vorliegt, kann diese direkt aus dem Werk von Hoffmann übernommen werden.68 Zur Entstehungsrechnung 69 müssen die indirekten Steuern (Übergang von Faktorpreisen zu Marktpreisen) sowie das Nettoauslandseinkommen (Übergang vom Inlands- zum Sozialprodukt) addiert werden. Die auf Lohn- und Gewinndaten basierte Verteilungsrechnung 70 muss um dieselben Größen bereinigt und mit dem impliziten Sozialproduktdeflator auf das Preisniveau von 1913 basiert werden. Die auf Steuerdaten basierte Verteilungsrechnung71 muss dagegen nur um indirekte Steuern bereinigt werden, da Einkommen unabhängig vom Ort der Entstehung in der Steuerstatistik erfasst wurden. Diese Zeitreihe muss ebenfalls mit Hilfe des impliziten Sozialproduktdeflators auf das Preisniveau von 1913 umbasiert werden. Die vier Serien des realen Nettosozialprodukts zu konstanten Marktpreisen sind in Abbildung A3 dargestellt.
Offensichtlich gibt es große Unterschiede zwischen den vier Reihen, die laut Definition identisch sein sollten. Zwar weisen alle Sozialproduktreihen einen Wert von ca. 52,5 Milliarden Mark für das Jahr 1913 aus, aber für das Jahr 1871 schwanken die Schätzungen zwischen 14,7 und 18,3 Milliarden Mark. Diese unbefriedigende Situation führte zur kritischen Analyse der von Hoffmann bei der Berechnung seiner Zeitreihen gemachten Annahmen. Als Resultat wurde unter anderem eine neue Zeitreihe für die Investitionen im gewerblichen Sektor,72 das Kapitaleinkommen im gewerblichen Sektor, das Kapitaleinkommen aus dem |35◄ ►36| Ausland und die Industrieproduktion73 berechnet. Zudem wurde der Basiswert der Nettowertschöpfung in Bergbau und Industrie im Jahre 1913 berichtigt.74
Abbildung A3: Das Nettosozialprodukt zu Markpreisen in Milliarden Mark (in Preisen von 1913). Standardisierte Reihen nach Hoffmann, Wachstum sowie Hoffmann / Müller, Volkseinkommen.
Insbesondere Niveau und Wachstum der Industrieproduktion im Kaiserreich sind für das Verständnis der deutschen Industrialisierung wichtig. Basierend auf Hoffmanns Methodik und den in den vergangenen Jahren erstellten Reihen wird hier ein neuer Index der Industrieproduktion präsentiert.75 Wie Hoffmann verwende ich Indizes für die physische Produktion einer Reihe von Industrien und fasse diese in zwölf Branchen zusammen.76 Für diese zwölf Branchen werden anhand der in den Jahren 1882 und 1907 durchgeführten Gewerbezählungen Beschäftigtenzahlen ermittelt und diese mit der Nettowertschöpfung je Beschäftigtem in der jeweiligen Branche im Jahre 1936 – dem Jahr des ersten deutschen Industriezensus – multipliziert und anschließend in Indexgewichte transformiert.77 Anschließend werden die Produktionsreihen der zwölf Branchen mit ihrem jeweiligen Indexgewicht multipliziert, sodass in einem Zwischenschritt zwei Industrieproduktionsindizes entstehen, die im Jahr 1895 miteinander verknüpft werden, sodass ein durchgehender Index der Industrieproduktion für die Jahre 1871 bis 1913 vorliegt. Dieser Index wird mit einer Schätzung der Nettowertschöpfung von Industrie und Handwerk im Jahre 1913 multipliziert, um auf diesem Weg zu einer Schätzung der realen Nettowertschöpfung von Industrie und Handwerk für die Jahre 1871 bis 1913 zu gelangen.
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Abbildung A4: Index der deutschen Industrieproduktion, 1871–1913.
Tabelle T3 am Ende dieses Kapitels zeigt die korrigierten Arbeitsproduktivitätsdaten für 1936 und die Beschäftigtenzahlen für die Jahre 1882 und 1907 sowie die daraus ermittelten Indexgewichte für die Jahre 1871 bis 1895 und 1895 bis 1913. Der aus den neuen Gewichten unter Berücksichtigung der neuen Zeitreihe der Bauproduktion ermittelte Index der deutschen Industrieproduktion wird in Abbildung A4 dargestellt und mit Hoffmanns klassischem Index der deutschen Industrieproduktion verglichen.
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Durchschnittlich nahm die reale Industrieproduktion um 3,7 Prozent jährlich zu, wobei das Wachstum während der 1870er Jahre besonders niedrig und während der 1880er Jahre besonders hoch war. Die beiden Jahrzehnte vor dem Weltkrieg zeichneten sich durch eine insgesamt hohe Wachstumsdynamik mit jährlichen Wachstumsraten von rund 3,8 Prozent aus. Blickt man auf die einzelnen Industrien, dann stellt man fest, dass die noch relativ unbedeutende Versorgungswirtschaft – Gas, Wasser, Elektrizität – mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von 9,2 Prozent während der Jahre 1871 bis 1913 die größte Dynamik entfaltete, gefolgt von der Papierindustrie, der chemischen Industrie sowie dem großen Bereich der Metallerzeugung und Metallverarbeitung. Vergleichsweise langsam wuchsen in der Zeit des Kaiserreichs hingegen die konsumnahen Industrien: die Textil-, Bekleidungs- und Nahrungsmittelindustrie.
In Abbildung A5 wird gezeigt, dass die Standardisierung der hoffmannschen Sozialproduktreihen und die anschließenden Korrekturen die Unsicherheit über den Verlauf des Wachstumspfads während der deutschen Industrialisierung reduziert haben. Die im Vergleich zu Hoffmann vorgenommenen Korrekturen umfassen die Neuberechnung des Kapitaleinkommens im gewerblichen Sektor, der gewerblichen Nettoinvestitionen sowie der Nettowertschöpfung in Bergbau und Industrie. Die Graphik zeigt die absolute Differenz zwischen der jeweils höchsten und niedrigsten Angabe aus den vier Originalreihen und den vier korrigierten Reihen sowie eine aus den vier korrigierten Reihen abgeleitete Kompromissschätzung des deutschen Nettosozialprodukts.78 Es zeigt sich, dass die Standardisierung und Korrektur die Präzision der Daten für die Jahre zwischen Gründung des Kaiserreichs und Ausbruch des