Carsten Burhop

Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs 1871-1918


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diese Periode in quantitativ orientierten Darstellungen der deutschen Wirtschaftsgeschichte häufig übergangen. Die Ursache für diese Begrenzung dürfte in der schlechten Datenlage liegen, die selbst den Doyen der quantitativen Wirtschaftsforschung, Walther Hoffmann, von einer Schätzung des Sozialprodukts während des Krieges abgehalten hat. Dennoch haben verschiedene Autoren während der vergangenen Jahrzehnte Schätzungen des Sozialprodukts für die Kriegsjahre publiziert.86 Die Frage nach der Höhe des deutschen Volkseinkommens vor und nach dem Ersten Weltkrieg wurde bereits im Mai 1921 der Statistischen Abteilung der Deutschen Reichsbank gestellt, da die deutsche Regierung zur Vorbereitung der Londoner Friedenskonferenz – dort sollte über die endgültige Höhe der deutschen Reparationen befunden werden – entsprechende Zahlen verlangte.87 Da eine amtliche Volkseinkommensstatistik nicht vorlag, stellten die Experten der Reichsbank zwei Schätzungen auf, wobei eine auf der Steuerstatistik und die andere auf Lohnindex- und Beschäftigungsreihen beruhte. Insgesamt |46◄ ►47| reduzierte sich, so die Berechnungen der Reichsbank, das reale Volkseinkommen pro Kopf zwischen 1913 und 1919 um rund 37 Prozent.88 Da im gleichen Zeitraum die Bevölkerung um rund sechs Prozent schrumpfte, nahm das gesamte Volkseinkommen zwischen 1913 und 1919 um rund 41 Prozent ab.89 Die zeitgenössische Punktschätzung für 1919 liegt damit sehr nahe bei einer kürzlich von Wirtschaftshistorikern auf Grundlage von Produktionsziffern von Landwirtschaft, Industrie und Verkehr erstellten Schätzung. Im Gegensatz zur Schätzung der Reichsbank weist diese neuere Arbeit auch Zahlen für die Einkommensentwicklung in den Jahren 1914 bis 1918 aus.90 Nach dieser Schätzung verringerte sich das Einkommen von 1913 = 100 im ersten Kriegsjahr um zehn Prozent, um dann weiter auf 1915 = 81,1 und 1916 = 75,8 zu fallen. In den Jahren 1917 und 1918 pendelte sich das Volkseinkommen auf niedrigem Niveau mit 1917 = 73,5 und 1918 = 71,0 ein, bevor es dann im Jahre 1919 auf 60,8 zurückging. Während der vier Kriegsjahre wurden somit die Früchte von jahrzehntelangem Wachstum zerstört, denn das reale Pro-Kopf-Einkommen des Jahres 1919 entsprach in etwa dem Niveau des Einkommens von 1885.

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      Quelle: Zahlen für 1936 aus Rainer Fremdling / Rainer Stäglin, An Input-Output table for Germany and a new benchmark for German gross national product in 1936. Groningen Growth and Development Center, Januar 2009, Tabellen 2 und 3. Beschäftigungszahlen aus Hoffmann, Wachstum, S. 196–196.

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      IV. Das Wachstum der deutschen Wirtschaft in internationaler Perspektive

      Im vorangegangenen Kapitel haben wir gesehen, dass die deutsche Volkswirtschaft zwischen Reichsgründung und Weltkrieg deutlich wuchs, sich das Einkommen pro Kopf signifikant erhöhte und sich die Wirtschaftsstruktur vom Agrar- zum Industriestaat wandelte. In diesem Kapitel soll der Frage nachgegangen werden, ob Deutschland damit ein Land unter vielen war oder ob sich die Entwicklung in Deutschland punktuell oder insgesamt von derjenigen in anderen Nationen unterschied. Der Bezugspunkt der komparativen Wirtschaftsgeschichte war und ist Großbritannien. Bereits während der deutschen Frühindustrialisierung forderte Friedrich List den Schutz der aufstrebenden deutschen Industrie vor der übermächtigen englischen Konkurrenz durch die Einführung von Zöllen. Friedrich Engels analysierte wenige Jahre später die Auswirkungen der englischen Industrialisierung auf die Lage der Arbeiter und Adolf Soetbeer verglich auf Basis von Einkommensteuerdaten das Volkseinkommen in Preußen mit jenem im Großbritannien.91

      In der Historiographie wurde lange Zeit ein wirtschaftlicher Sonderweg Deutschlands gezeichnet. Dabei wurden insbesondere die wachstumsfördernde Rolle der Großbanken und des Staates durch gezielte Kreditvergabe und Förderpolitik, die moderne Organisation der deutschen Unternehmen in großen Aktiengesellschaften sowie deren Koordination in Kartellen betont. Am Schnittpunkt zwischen Staat und Unternehmen wurden zudem die vorbildliche Wissenschafts- und Technologiepolitik und die frühe Errichtung von industriellen Forschungslaboratorien gewürdigt. Demgegenüber sah man in England Familienunternehmen, die die Entstehung von effizienten Großunternehmen behinderten. Englische Banken sollen zudem die Kapitalversorgung der Industrie beschränkt und sich stattdessen zunehmend der Finanzierung von Kolonialgesellschaften zugewandt haben. Verfehlte Wissenschaftspolitik habe zudem dazu beigetragen, dass englische Unternehmer den Anschluss an die neuen Wachstumsindustrien verpassten. Ganz anders hingegen die Entwicklung in den Vereinigten Staaten: Dort hätten sich wie in Deutschland moderne Großunternehmen entwickelt, die ihre Aktivitäten, wenn nicht über Kartelle, so aber in Konzernen bzw. Trusts koordiniert hätten. Industrieforschung sei zwar nur in vergleichsweise geringem Umfang in Unternehmen durchgeführt worden, aber dafür habe es einen regen Markt für Technologie gegeben. Kurzum: Die klassi-sche|49◄ ►50| Wirtschaftsgeschichte sieht in Deutschland und den Vereinigten Staaten zwei rasch aufwärts strebende Volkswirtschaften, während die englische stagnierte und von den beiden neuen Kontrahenten schließlich überholt wurde.92 Diese Sichtweise steht zumindest teilweise im Widerspruch zu den Ergebnissen der vergleichenden quantitativen Wirtschaftsgeschichte. Sie zeigt, dass am Anfang des 20. Jahrhunderts das Pro-Kopf-Einkommen und die gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität in Großbritannien wesentlich höher als in Deutschland waren und dass es nur eine gemächliche Konvergenz der Einkommen gegeben hat.93 Der scheinbare Widerspruch kann teilweise aufgelöst werden, denn der moderne Industriesektor – auf den sich die klassische Forschung bezog – wuchs in Deutschland tatsächlich vergleichsweise rasch und zog zumindest mit Großbritannien gleich. Gleichwohl blieb Deutschland sowohl hinsichtlich der gesamtwirtschaftlichen wie auch der industriewirtschaftlichen Entwicklung weit hinter den Vereinigten Staaten zurück.94

      Der wirtschaftshistorische Vergleich hat somit verschiedene Länder und Maßgrößen zur Beurteilung der deutschen Wirtschaftsentwicklung verwendet. Die komparative Wirtschaftsgeschichte hat das Augenmerk auf den Vergleich des Sozialprodukts, des Sozialprodukts pro Kopf, der Arbeitsproduktivität, der Beschäftigungsstruktur sowie der Veränderung dieser Größen über die Zeit gerichtet. Ebenso wurden die Faktoren, die in den einzelnen Ländern hinter dem Wachstum standen, miteinander verglichen: der technische Fortschritt, die Kapitalintensivierung und der Strukturwandel. Tabelle T4 fasst wichtige Kennzahlen – Sozialprodukt, Bevölkerung, Sozialprodukt pro Kopf – für die vier größten Volkswirtschaften jener Jahre und für die beiden Stichjahre 1871 und 1913 zusammen. 95 1871 war das neu gegründete Deutsche Reich mit einem Sozialprodukt von 17,2 Milliarden Mark, nach den Vereinigten Staaten von Amerika mit |50◄ ►51| einem Sozialprodukt von 27,3 Milliarden Mark und Großbritannien mit einem Sozialprodukt von 21,3 Milliarden Mark, die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt, gefolgt von Frankreich mit einem Sozialprodukt von 15,4 Milliarden Mark. Bis 1913 arbeitete sich das Deutsche Reich mit einem Sozialprodukt von nun 53,7 Milliarden Mark auf den zweiten Rang vor. Den Abstand gegenüber Frankreich, das 1913 auf ein Sozialprodukt von nur 31,1 Milliarden Mark kam, vergrößerte sich vor allem aufgrund des wesentlich stärkeren Bevölkerungswachstums. Großbritannien, das im letzten Vorkriegsjahr ein Sozialprodukt von 46,4 Milliarden Mark aufwies, konnten die Deutschen aufgrund des stärkeren Produktivitätswachstums hinter sich lassen. Auch gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika, die ein Sozialprodukt von 118,7 Milliarden Mark erwirtschafteten, wies das Deutsche Reich eine überlegene Entwicklung des Pro-Kopf-Wachstums auf. Allerdings fiel man in Bezug auf die Gesamtgröße der Volkswirtschaft aufgrund des raschen Bevölkerungswachstums in den Vereinigten Staaten deutlich zurück. Nimmt man das Niveau des Volkseinkommens pro Kopf als Maßstab für den Wohlstand eines Landes, dann zeigt sich, dass Frankreich und das Deutsche Reich etwa gleichauf lagen, allerdings beide nur die Hälfte bzw. drei Viertel des britischen Pro-Kopf-Einkommens in den Jahren 1871 bzw. 1913 aufwiesen. Durchschnittlich erzielte ein Einwohner in Deutschland und Frankreich in den Jahren 1871 bzw. 1913 ein jährliches Einkommen von rund 420 bzw. 790 Mark. Der Durchschnittsbrite kam auf 810 bzw. 1.120 Mark. Das Einkommen pro Kopf in den Vereinigten Staaten war eineinhalb Mal so hoch wie in Deutschland und betrug 690 Mark bzw. 1.235 Mark.96