nutzbaren Gebieten und trockenen Steppen und Wüsten besteht, zu großen Teilen aus Bergland, das nur als Viehweide genutzt werden konnte. Einen Kontrast bildet zudem die städtische Lebenswelt in Jerusalem gegenüber dem dörflichen Kontext, in dem der Großteil der Bevölkerung lebte – als Kleinbauern (Viehzucht, Getreide-, Wein-, Obst- und Olivenanbau), Hirten und in den Küstenebenen und am See Genezareth auch als Fischer, als Handwerker (Weber, Färber, Töpfer, Schmiede, Schreiner), als Händler, Zöllner oder Tagelöhner. Die dörfliche Wohnsituation der Großfamilien in einräumigen, flachgedeckten Häusern aus Lehm und Stroh gemeinsam mit den Tieren (Ziegen, Schafe, Hühner, Esel, Kühe) und die Kleidung der Menschen, die Ernährung der Familie v.a. mit Brot, Obst und Gemüse und Milchprodukten sowie das Bildungswesen (und die Rolle der Wissenschaften wie z.B. der Medizin, des Bauwesens) spielen in Hinblick auf das Verständnis der Gesellschaft im 1. Jh. n. Chr. eine bedeutende Rolle. Die jüdische Religion mit Gebet und Synagogenbesuch, Lehrhaus für die |54|Schulkinder, religiösen Traditionen und Geboten, Festkalender und Wallfahrten zum Tempel in Jerusalem bestimmte das Leben.[11] Die vielfältigen Aspekte des Alltagslebens – insbesondere der Kinder im antiken Palästina – können von den SuS auf unterschiedliche Weise erschlossen werden, z.B. durch Freiarbeit,[12] durch Ganzschriftlektüre,[13] durch erzählende und beschreibende Textquellen, Bilder und Filme,[14] durch praktisches Erleben z.B. im Bibeldorf,[15] in Synagoge[16] oder Mikwe, durch Kochen und Backen,[17] Basteln, Töpfern und Werken.[18]
Auseinandersetzung mit soziokulturellen und kulturanthropologischen Modellen
Das NT nennt häufig Menschen am unteren Ende der Sozialpyramide:[19] Fischer (Mt 4,18Mt 4,18), Hirten (Lk 2,8Lk 2,8; Joh 10Joh 10), Tagelöhner (Mt 20,1–16Mt 20,10096>16), Bettler (Lk 18,35Lk 18,35; |55|Joh 9,8Joh 9,8) und Witwen (Lk 21,2f.) figurieren sowohl in den Wundern als auch in der Bildwelt der Verkündigung Jesu an prominenterer Stelle als Reiche wie z.B. Landbesitzer (Lk 12,16f.), Weinbergbesitzer (Mt 20,1–16Mt 20,10096>16), Sklavenbesitzer (Mt 24,45–51Mt 24,450096>51; PhlmPhlm) oder reiche Gemeindeglieder (Jak 2,1–9Jak 2,10096>9).[20] Neben den sozialen Bezügen in der Familie, im Haus oder Dorf, sind die religiösen und politischen Gruppierungen und Machtstrukturen in den Blick zu nehmen. Im Rahmen der Thematisierung sozialer Schichten[21] in der Gesellschaft ist auch die Bedeutung Kranker und Behinderter – der Ausgestoßenen der Gesellschaft – besonders in den Wundern Jesu hervorzuheben. Drei Ebenen sozialer Relationen können beispielhaft vertieft thematisiert werden:
1 Die Rolle der Frauen: Die Diskussion der Rolle der Frau (z.B. 1 Kor 111 Kor 11.141 Kor 14; Pastoralbriefe) verweist darauf, dass die positive Einstellung bei Jesus und Paulus zur Mitarbeit der Frauen einerseits und der traditionelle Kontext der antiken Umwelt andererseits den Umgang mit traditionellen Rollenmodellen in den Gemeinden problematisch machte.
2 Die Stellung der Sklaven: Sklaven bedienen häufig den bildspendenden Bereich der Gleichnisse (z.B. Lk 12,41–48Lk 12,410096>48), jedoch wird auch konkret ihre Unterordnung in der Hierarchie bestärkt (vgl. Mt 10,24f.; aber auch PhlmPhlm; 1 Kor 7,20–231 Kor 7,200096>23).[22]
3 Wohltäter und Patrone: Röm 16,1f. nennt die in der Hafenstadt Kenchreä wohnende Phoebe, der wahrscheinlich ein Hauswesen unterstand und die als Patronin der Gemeinde (Gastgeberin, Unterstützerin, Bürgin etc.) gedeutet werden kann. In diesem Themenfeld kommt es v.a. darauf an, dass die SuS die Bildwelt der Verkündigung Jesu und die soziale Struktur der Jesusbewegung und der frühen Gemeinden kennen lernen, um so – in Auseinandersetzung mit den kulturellen und religiösen Verhaltenskonventionen und Denkmustern der antiken Welt[23] – zu einem vertieften Verständnis der ethischen Argumentation |56|der ntl. Texte zu gelangen. Die Art und Weise, in der die Jesusbewegung und die ntl. Schriften die in der Welt des 1. Jh.s üblichen kulturanthropologischen Modelle übernahmen bzw. variierten ist von den SuS in Hinsicht auf die Interpretation und Wirkungsgeschichte der Texte zu berücksichtigen.
Kontrafaktische Gegenwelten in der Gleichnisinterpretation
In der Orientierungsstufe sieht der Lehrplan die Beschäftigung mit den Gleichnissen vor, die einen zentralen Inhalt der Verkündigung Jesu transportieren: seine Vision vom Reich Gottes. Die Bildwelt der Gleichnisse knüpft an die Erfahrungen der Hörer, an ihnen bekannte soziale Verhältnisse und alltägliche Lebensbedingungen an, die illustrierend und kontrastierend mit der Botschaft vom Gottesreich verknüpft werden.[24] L. Schottroff geht im Rahmen ihres befreiungstheologisch-feministischen Ansatzes davon aus, dass die Lebenswelt (besonders die Arbeits- und soziale Welt) der Menschen im Römischen Reich des 1. Jh.s n. Chr. realistisch in die Gleichnisse aufgenommen wurde; zugleich dienen diese aber nicht lediglich der ‚neutralen‘ Darstellung, sondern werden transparent für die Wirklichkeit der Gottesherrschaft, die Gleichnisse vermitteln gleichzeitig eine sozialpolitische und eine theologische Botschaft.[25] Dies ist im RU zu verdeutlichen, indem die SuS herausarbeiten, dass Jesu Botschaft neue Handlungsmöglichkeiten, neue Sichtweisen auf die alltägliche Wirklichkeit eröffnet (z.B. Mk 3,1–6 parMk 3,10096>6 par..; Mt 8,5–13 parMt 8,50096>13 par..; Lk 10,38–42Lk 10,380096>42; Mk 2,13–17 parMk 2,130096>17 par.. etc.). Die SuS sollen erkennen, dass Jesus mit seiner Botschaft die Hoffnung auf eine bessere Welt weckt: Er erzählt vom Gottesreich (z.B. Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, Mt 20,1–16Mt 20,10096>16; vom großen Gastmahl, Lk 14,15–24Lk 14,150096>24; vom Senfkorn, Mt 13,31f. parMt 13,31f. par..), er fordert von seinen Hörern die Überprüfung und Veränderung ihrer Einstellungen und ruft zu neuem Handeln auf (z.B. Gleichnis vom barmherzigen Samariter, Lk 10,25–37Lk 10,250096>37).
|57|E. Schüssler Fiorenza betont auch in Bezug auf Gleichnisse die Bedeutung der ‚kritischen Pädagogik‘: Die Beschäftigung mit biblischen Texten soll die Fähigkeit zu kritischem Denken anregen und einen Prozess des sozialen Wandels anstoßen. Ungerechtigkeit soll nicht nur erkannt, sondern auch bekämpft werden.[26] Dieser bibeldidaktische Ansatz ist in der Beschäftigung mit dem Thema der sozialen und politischen Verantwortung in der Sekundarstufe II fruchtbar zu machen: Die SuS sollen sich mit dem christlichen Staatsverständnis auseinandersetzen und dies in Bezug auf die christliche Ethik reflektieren. Soll man sich dem Staat unterordnen oder kann man unter Berufung auf das christliche Gewissen gegen staatliche Vorgaben handeln? Dieser Aspekt berührt die Thematik der sozialkritischen Prophetie sowie die Rückfrage nach dem Streben für Gerechtigkeit und der Entwicklung der Gesellschaft (vgl. hierzu Mk 12,13–17Mk 12,130096>17; Mt 20,1–16Mt 20,10096>16; sowie die Besitzkritik in Lk).
Leseempfehlungen
Berg, Horst Klaus, So lebten die Menschen zur Zeit Jesu. Freiarbeit Religion. Stuttgart 21998.
Crüsemann, Frank (Hg.), Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel. Darmstadt 2009.
Erlemann, Kurt et al. (Hg.), Neues Testament und Antike Kultur. 5 Bde. Neukirchen-Vluyn 2004–2008 (Nachdruck Neukirchen-Vluyn 2011).
Göhrum, Volker/Fuchs, Martin, Bei Jesus zu Hause: wohnen und arbeiten im alten Palästina dargestellt an einem Hausmodell mit Ausschneidebogen und Kopiervorlagen. Stuttgart 1998.
Horsley, Richard A., Die ersten Christen. Sozialgeschichte des Christentums. Bd. 1. Gütersloh 2007 (engl. Original: A People’s History of Christianity. Vol. 1 Christian Origins. Minneapolis 2005).
Stegemann, Wolfgang/Stegemann, Ekkehard W., Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und in den Christusgemeinden in der mediterranen Welt. Stuttgart et al. 1995.
Tilly, Michael, So lebten Jesu Zeitgenossen. Alltag und Frömmigkeit im antiken Judentum. Stuttgart 2008.
Zimmermann, Ruben (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu. Gütersloh 22015.
Fußnoten
Der erste Satz aus dem Roman The Go-Between von Leslie Poles Hartley (London 1953).