Festus (60–62 n. Chr.) fällt die Verhaftung und der Prozess des Paulus (ab Apg 21,27Apg 21,27)[9] sowie 62 n. Chr. der Tod des Herrenbruders Jakobus (vgl. Jos. Ant. 20,197–203Jos. Ant. 20,197–203). Gravierende wirtschaftliche und soziale Probleme belasteten das Land, v.a. Hungersnöte (vgl. in diesem Zusammenhang die Kollekten, Apg 11,27–30Apg 11,27–30; Gal 2,10Gal 2,10) und der Aufschwung der zelotischen Bewegung, einer der vier jüdischen Religionsparteien (außerdem Pharisäer, Sadduzäer, Essener). Diese politische, ökonomische und soziale Situation führte zu erneuten Aufständen unter Agrippa II., die den Jüdischen Krieg gegen Rom einleiteten (66–70 n. Chr.). Dieser endete mit der Zerstörung des Tempels unter Vespasians Sohn Titus (70 n. Chr.), der Vertreibung aller Juden aus Jerusalem und der Stationierung der Legio X. Fretensis in der Stadt (vgl. evtl. die Anspielung auf deren Wappentier, den Eber, in Mk 5,1–20 parMk 5,1–20 par..). Mit dem Verlust des Tempels ging die Umwidmung der Tempelsteuer in den Fiscus Judaicus einher (vgl. zur |41|Bedeutung der römischen Steuern allg. Mk 12,13–17Mk 12,13–17; Mt 17,24–27Mt 17,24–27)[10] sowie die Umbenennung der Stadt in Aelia Capitolina.[11] Die Erfahrung dieser Krisensituation fällt mit der Entstehung der Evangelien zusammen.
Die griechisch-römische politische Geschichte sowie geographische Gegebenheiten v.a. in Palästina und den von Paulus bereisten Provinzen mit ihren sozialen, religiösen, politischen und ökonomischen Folgeentwicklungen bilden den Hintergrund der ntl. Ereignisse. Das Gewahrsein der historischen Referenzialität ntl. Texte bietet den SuS grundsätzlich die Möglichkeit, die Wahrnehmung und Deutung der antiken Wirklichkeit im frühen Christentum in der Interpretation der Bibeltexte zu berücksichtigen.
Die religiöse Umwelt der Jesusbewegung und des frühen Christentums
Im Rahmen der „Third Quest“ wurde gegenüber dem Differenzkriterium der historischen Jesusforschung das historische Plausibilitätskriterium hervorgehoben, das Jesus verstärkt im historischen Kontext des antiken Judentums verortet.[12] E.P. Sanders wies darauf hin, dass das Judentum im Palästina der Antike eine in viele Strömungen und Parteien zersplitterte Volksreligion war, die durch bestimmte gemeinsame Grundüberzeugungen zusammengehalten wurde („common Judaism“; z.B. Monotheismus, Bundesnomismus, Heilige Schriften und Traditionen etc.).[13] Den im NT erwähnten Religionsparteien der Sadduzäer, Pharisäer und Zeloten werden zumeist die Essener zur Seite gestellt, die lange Zeit vorrangig mit der Siedlung in Khirbet Qumran verknüpft wurden.[14] Die Sadduzäer, Angehörige der Priesterklasse, standen in enger Verbindung mit dem Tempelkult in Jerusalem,[15] die Pharisäer werden mit der Institution von Synagoge bzw. Lehrhaus verbunden. Die Jesusbewegung ist in enger |42|Auseinandersetzung – in Übereinstimmung ebenso wie Abgrenzung – mit den Überzeugungen (z.B. Eschatologie, Rolle der Tora, Determinismus etc.) und Praktiken (z.B. Reinheitsriten, Gemeinschaftsideal etc.) dieser innerjüdischen Gruppierungen zu betrachten.[16]
Neben dem verstärkten Einbezug des Judentums gewannen auch die Kulte und Religionen des hellenistisch-römischen Kontexts an Bedeutung. Der Götterkult der Antike spielte sich v.a. an Tempelheiligtümern ab, Kult und Opfer, Feste und Wallfahrten bestimmten die religiöse Welt.[17] Einzelne Göttergestalten wie Zeus und Hermes (vgl. Apg 14,11–13Apg 14,11–13) oder der Heilgott Asklepios (vgl. dazu Joh 5,1–9Joh 5,1–9) werden im NT – insbesondere im Rahmen von Wunderheilungen[18]Joh 2,1–11 – in Auseinandersetzung mit dem antiken Götterglauben genannt, ebenso die Problematik antiker religiöser Praktiken (vgl. z.B. in Bezug auf die Tempelmähler die Götzenopferfleischdebatte in 1 Kor 8–101 Kor 8–10). Charakteristika der antiken Mysterienkulte[19] sowie des Vereinswesens[20] prägen auch das frühe Christentum, das vielleicht aufgrund dessen eine besondere Anziehungskraft auf die antike Gesellschaft ausübte. Daneben spielt die hellenistische Heroen- und Herrscherverehrung eine Rolle, insbesondere der römische Kaiserkult (vgl. z.B. Joh 20,28Joh 20,28; Offb).[21] Darüber hinaus sind – z.B. in der Deutung des historischen Jesus oder in Bezug auf die Argumentation der pln Briefe – aber auch Aspekte der griechisch-römischen Philosophie maßgeblich, v.a. der Kynismus[22] und die Stoa (vgl. auch Apg 17,22–33Apg 17,22–33).[23]
|43|Grundkenntnisse ideengeschichtlicher Paradigmen, die Entstehung, Entwicklung und Wirkung politischer, philosophischer und religiöser Traditionen und Fragestellungen sind für die SuS eine Grundvoraussetzung für den Umgang mit dem NT und lassen die Bezugnahme der ntl. Texte auf den geistesgeschichtlichen Kontext erkennen. Im Rahmen zeitgeschichtlicher Thematiken können diese Aspekte im RU erarbeitet werden.
Zeitgeschichte im RU – Aspekte und Möglichkeiten
Im Religionsunterricht liegt der Schwerpunkt auf der Vermittlung von Sachwissen über die historische Situation zur Zeit Jesu und der frühen Gemeinden. Leben und Verkündigung Jesu und der ersten Christen sind in diesem Rahmen zu situieren. Die Fülle der historischen Sachinformationen lässt sich v.a. auf zwei zentrale Themenbereiche konzentrieren:
Zeit und Umwelt Jesu
Im Lehrplan der Orientierungsstufe wird das Thema „Zeit und Umwelt Jesu“ behandelt. Die SuS sollen im Rahmen dieses Themenfelds einen Einblick in den politischen und geographischen Kontext der Umwelt Jesu bekommen, um ein vertieftes Verständnis der ntl. Texte sowie der Person und der Botschaft Jesu zu erlangen.[24] In Hinsicht auf das Wirken Jesu in Galiläa und Jerusalem können z.B. die Wanderungen Jesu, der Gegensatz von ruralem, durch Agrarwirtschaft geprägtem Gebiet und urbanem Raum oder die ethnischen und kulturellen Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen im antiken Palästina reflektiert werden. Die innerjüdischen religiösen Differenzen (die Religionsparteien und ihre Charakteristika) sind in Hinsicht auf das Verständnis der Jesusbewegung und des frühen Christentums im antiken Kontext ebenso von Bedeutung wie die politischen und wirtschaftlichen Folgen der römischen Besatzung (Steuern und Abgaben; Zollstationen und ihre Bedeutung für die Bauern, Handwerker und Händler; stationierte Legionen und der Einfluss der römischen Präsenz auf das alltägliche Leben, vgl. Mt 8,5–13 parMt 8,5–13 par..; Mt 8,28–34Mt 8,28–34 par.; das Klientelkönigtum und die Aufteilung des Landes; etc.), die großen Einfluss auf die Gesellschaft des antiken Palästina, auf die Messias- und Endzeiterwartungen, die sozialen Gegebenheiten und Lebensbedingungen (→ Art. Ntl. Sozial- und Kulturgeschichte) ausübten und somit eine bedeutende Rolle für die Deutung der Jesusbewegung darstellen. Die Stellung Jesu zum Tempel und Tempelkult, zu den jüdischen Autoritäten sowie zu den religiösen Traditionen des Umfelds sind ebenfalls zu thematisieren.
|44|Leben des Paulus und Entstehung und Entwicklung der frühen Christengemeinden
In der Sekundarstufe I wird das Leben und Wirken des Paulus sowie die Ausbreitung des Christentums thematisiert und die Entstehung und Entwicklung der frühen Gemeinden im Römischen Reich reflektiert. Im Hinblick auf Paulus und die paulinischen Gemeinden können verschiedene zeitgeschichtliche Aspekte im RU aufgegriffen werden: Die Reisen des Paulus, die aufgrund des gut ausgebauten Straßensystems des Römischen Reiches möglich waren (z.B. anhand der Infrastruktur – Straßen und Häfen – und der Transportmittel, Reisezeiten und Wegstrecken)[25] und die seine Missionsstrategie begünstigten, v.a. die Hauptstädte der Provinzen zu bereisen und vor Ort immer zunächst die jüdische Diasporagemeinde aufzusuchen. Auch die im Rahmen der Biographie des Paulus verankerte, wissenschaftlich kontrovers diskutierte Frage nach der römischen Bürgerschaft des Paulus spielt hier eine Rolle.[26]Apg 18,11Apg 13,7Apg 24,27
Neben den Lebensbedingungen und Konflikten der ersten Christengemeinden, z.B. der Frage nach dem Götzenopferfleisch (vgl. 1 Kor 8–10)1 Kor 8–10, nach der Struktur der Gemeinden und der Gottesdienste (vgl. 1 Kor 121 Kor 12; Röm 12Röm 12), der Rolle der Frau und der Sklaven in der Gemeinde (1 Kor 111 Kor 11; 141 Kor 14 [→ Art. Ntl. Sozial- und Kulturgeschichte]), dem Apostolat und dem alltäglichen Leben der Missionare und Gläubigen (1 Kor 91 Kor 9; u.v.m.),[27] ist auch die Situation der Christen im Römischen Reich bis ins 4. Jh. in den Blick zu nehmen, z.B. im Hinblick auf Verfolgungen.[28] Letzterer Aspekt kann auch im Rahmen des curricularen Themenfelds „Konfessionen“ aufgriffen werden, indem das Leben als Christ heute (z.B. in Deutschland vs. im Iran) mit dem Leben als Christ im Römischen Reich verglichen wird. Auf die Diasporasituation der