des Neuen Testaments
Die 27 Schriften des NTs wurden vermutlich zwischen 50 und 120 n. Chr. auf Griechisch verfasst; als ältester Text gilt der 1 Thess, als jüngster der 2 Petr. Vor allem in den synoptischen Evangelien ist deutlich, dass sie einzelne (mündlich und schriftlich überlieferte) Erzählungen, Wunder und Worte integriert haben. Die genaue Entstehungsgeschichte der teilweise bis in den Wortlaut übereinstimmenden Evangelien ist immer wieder umstritten; als breiter Konsens gilt zur Zeit, dass Mt und Lk einerseits Mk und andererseits eine sogenannte Logienquelle (meist als Q abgekürzt)[4] vorlagen. Alle Evangelien haben aber in der jeweiligen Komposition ihre besondere theologische Perspektive auf Jesus herausgearbeitet.
Grundstock der Schriftensammlung des späteren NTs waren aber nicht die Evangelien, sondern Paulusbriefe. Zwar ist heute umstritten, ob alle unter dem Namen des Paulus verfassten Schriften tatsächlich von ihm und nicht eher von Paulus-Schülern verfasst wurden[5] (als nicht von Paulus stammend gelten heute 1 und 2 Tim, Tit und 2 Thess; unsicherer sind Eph und Kol), aber bereits um 200 liegt eine Sammlung von Paulusbriefen vor, die den heutigen Umfang hat.[6] Spätestens ab der Mitte des zweiten Jh.s werden in den Sonntagsgottesdiensten aber auch die Evangelien verlesen und gegen Ende des zweiten Jh.s stehen zumindest in Teilen der Christenheit die ersten zwei Drittel des späteren NTs faktisch in Geltung. Die endgültige Herausbildung des Kanons wurde neben der faktischen Durchsetzung in den christlichen Gemeinden auch durch Gruppierungen forciert, die z.T. eigene Sammlungen aufstellten (Marcion, Montanismus) – sie forderten die Kirche heraus, durch eine Festlegung der autoritativen Schriften ihren „Kanon“ (Messregel) zu fixieren. Gegen Ende des 3. Jh.s stand dann der heute vorhandene Umfang des NTs faktisch fest.[7]
|28|Die Kanonisierung in theologischer Sicht
„Mit Hilfe des Kanons als ‚Richtschnur‘ – in der ursprünglichen, griechischen Bedeutung des Wortes – lässt sich ermessen, wer sich ‚in der Wahrheit befindet‘ (Foucault) und wer nicht“.[8] Es ist also durchaus möglich, den Akt der Kanonisierung beispielsweise machtpolitisch zu verstehen – und die uns vorliegende Bibel wäre dann eben das Produkt möglicherweise sogar zufällig vorhandener Machtkonstellationen in der Alten Kirche. Solch ein Urteil greift aus mehrfacher Hinsicht zu kurz. Einmal ist es historisch zu simpel, weil es nicht zwischen einer „Kanonisierung via facti und einer Kanonisierung im Sinne eines Rechtsaktes“[9] unterscheidet – und von einem Großteil der biblischen Schriften ist zu sagen, dass sie sich faktisch in den Gemeinden als heilige Schriften durchgesetzt haben und sie nicht gleichsam „von oben“ dekretiert wurden. Gab es denn Kriterien für die Anerkennung? Hier wird man zurückhaltend sein müssen. Es gab das Kriterium der Apostolizität, aber es ist zu fragen, ob dies immer nur personal verstanden wurde, ohne dass man eine feste „regula fidei“ hatte. Auch war die Übereinstimmung mit den Schriften des ATs entscheidend. Und schließlich war die Durchsetzung in den Gemeinden als solche (via facti) wesentlich. Damit ist aber schon deutlich: Es gibt die Bibel als Kanon, weil es die Kirche gab, die ihn „beschlossen“ hat. Als Grund für die Kanonbildung kann sicher auch der identitätsstiftende Charakter, den v.a. J. Assmann herausgestellt hat, gesehen werden.[10] Deutlich aber ist schon damit, dass die Kanonbildung auch theologisch zu verstehen ist. Denn das Vorhandensein der Bibel Neuen und Alten Testaments ist als Bekenntnis der Kirche zu verstehen: Die „Feststellung als Kanon, seine Bezeichnung und Abgrenzung als solche [ist] ein Akt der Kirche, ein Akt ihres Glaubens, ihrer Erkenntnis und ihres Bekenntnisses“.[11] Die Kirche hat diese Schriften also als Wort Gottes verstanden – oder genauer: dass die Kirche den Kanon „nur als schon geschaffenen und ihr gegebenen Kanon nachträglich nach bestem Wissen und Gewissen, im Wagnis und im Gehorsam eines Glaubensurteils, aber auch in der ganzen Relativität einer menschlichen Erkenntnis der den Menschen von Gott eröffneten Wahrheit“[12] festgestellt hat. Weil nun die Kirche früherer Zeiten die Bibel als Wort Gottes an sie verstand – allerdings nicht im Sinne einer Verbalinspiration, die den menschlichen Charakter der Schriften relativiert oder sogar negiert –, ist bereits die Existenz der Bibel in ihrem vorhandenen Umfang immer auch als Zumutung an uns zu verstehen: Die Bibel gilt als Zeugnis der einen Geschichte Gottes von der Erwählung Israels und der Schöpfung der Welt bis hin zur erhofften Neuschaffung der Welt am Ende |29|der Zeiten – und Mitte der Geschichte Gottes mit der Welt ist das Kommen Jesu Christi, der für die Menschen gestorben und auferstanden ist. Allerdings ist auch zu sehen, dass dieses Bekenntnis auch in der Kirche nicht immer nur auf Zustimmung gestoßen ist. So hat sich seit dem 17. Jh. eine Kanonkritik entwickelt, die dazu führte, die Bibel nicht mehr im Zusammenhang zu verstehen, sondern nur als einzelne Schriften – de facto bedeutete dies eine Dekanonisierung in der exegetischen Wissenschaft. Die Biblische Theologie versucht mit ihrem canonical approach hier eine Gegenbewegung[13] – das ist hoffnungsvoll, weil so dem Kanon als theologische Herausforderung nicht billig ausgewichen wird.
Keine Einseitigkeiten
Die Entstehung und Überlieferung der Bibel nur historisch zu betrachten ist zwar möglich, erklärt aber nicht die Sonderstellung und den Anspruch, den die Bibel in der christlichen Kirche und damit auch im RU gleich welcher Konfession hat: Sie ist als Zeugnis vom Weg Gottes zu verstehen. Wer aber nur die theologische Dimension im engeren Sinne akzentuiert, steht in der Gefahr, das historische Gewordensein der Bibel zu verkennen und sie vielleicht sogar letztlich mit Gott selber zu identifizieren. Dann werden vorhandene Spannungen in der Bibel möglicherweise harmonisiert, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Deshalb stehen beide Weisen, sich der Bibel zu nähern oder zu ermöglichen, dass die Bibel sich uns nähert, komplementär zueinander.
Entstehung und Kanonisierung der Bibel im Unterricht
In den meisten Lehrplänen ist das Thema „Entstehung der Bibel“ in der Sek 1 vorgesehen, manchmal in vereinfachter Form auch in der Primarstufe. Wichtig ist es dabei, auf das Wachstum und die historischen Hintergründe einzugehen und die Vielgestaltigkeit plausibel zu machen: Die Bibel ist eine Bibliothek. Wichtig aber wäre es darüber hinaus auf den Anspruch der Bibel einzugehen, der mit der Kanonisierung gegeben ist: Was macht die Bibel zu dieser einzigartigen Sammlung? Es wäre deshalb spannend, vielleicht am Ende der Sek 1 oder auch in der Sek 2, noch einmal auf die Thematik der Bibel zurückzukommen (wie es etwa Klemm[14] versucht).
|30|Leseempfehlungen
Alkier, Stefan/Hays, Richard B., Kanon und Intertextualität. Frankfurt a.M. 2010.
Barton, John/Wolter, Michael (Hg.), Die Einheit der Schrift und die Vielfalt des Kanons. Berlin 2003.
Becker, Eve-Marie/Scholz, Stefan (Hg.), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart – Ein Handbuch. Berlin 2012 (darin v.a. 389–700).
Dieckmann, Detlef/Kollmann, Bernd, Das Buch zur Bibel. Gütersloh 2010.
Feldmeier, Reinhard/Spieckermann, Hermann, Die Bibel. Entstehung – Botschaft – Wirkung. Göttingen 2004.
Grosse, Sven, Theologie des Kanons. Der christliche Kanon, seine Hermeneutik und die Historizität seiner Aussagen. Die Lehren der Kirchenväter als Grundlegung der Lehre von der Heiligen Schrift. Wien 2011.
Markschies, Christoph, Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen. Tübingen 2007 (darin v.a. 215–236).
Themenheft „Heilige Schriften“. Glaube und Lernen 31 (2016).
Fußnoten
So lautet die Basiserklärung des Ökumenischen Rates der Kirchen: „Der Ökumenische Rat der Kirchen ist eine Gemeinschaft von Kirchen, die den Herrn Jesus Christus gemäß der Heiligen Schrift als Gott und Heiland bekennen und darum gemeinsam zu erfüllen trachten, wozu sie berufen sind, zur Ehre Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“.
Vgl.