Um sich zunächst darüber Klarheit zu verschaffen, wie diese Lexeme verwendet werden, wird man ein semasiologisches Wörterbuch benutzen (also eines, in dem die Ausdrücke alphabetisch angeordnet und mit einer Bedeutungsbeschreibung versehen sind). Wahrscheinlich müssen dies auch manche Personen mit Deutsch als Muttersprache tun, denn einige der genannten Ausdrücke sind nicht allen Sprachteilhabern vertraut. Außerdem werden sie (von verschiedenen Gruppen und in verschiedenen Situationen) auch unterschiedlich verwendet. Wir stoßen hier also erneut auf den früheren Befund, dass nämlich die Bedeutungsbeschreibung in Wörterbüchern kompliziert ist (und sein muss), weil Lexeme polysem sind und es verschiedene Varietäten einer Einzelsprache gibt. Dies ist nun auch der Grund dafür, dass man die Erläuterungen aus traditionellen Wörterbüchern nicht einfach vollständig in eine Komponentenanalyse des oben dargestellten Formats übersetzen kann. Es fehlen dort meist bestimmte Ebenen der Analyse.
In der Semantiktheorie ist sehr umstritten, wie diese Phänomene angemessen behandelt werden können, und es wurden zahlreiche Lösungen vorgeschlagen. Diese können hier nicht im Einzelnen vorgestellt werden. Vielmehr geht es vor allem darum, einige grundlegende Unterscheidungen zu treffen, die es uns erlauben, über die verschiedenen Ebenen des konventionalisierten Lexemgebrauchs zu sprechen. Ferner sollen an den Beispielen die Veränderlichkeit von Wortgebräuchen, die Interaktion verschiedener Bedeutungskomponenten und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten für die Lexikografen aufgezeigt werden. Denn wie wir schon am Beispiel von Sack gesehen haben, sind die für die erste Auflage dieses Buchs herangezogenen Nachschlagewerke kontinuierlich neu bearbeitet worden, und das betrifft auch mehrere der hier diskutierten Beispiele. Schließlich haben sich die Arbeitsbedingungen für Lexikografen im letzten Jahrzehnt erheblich geändert und man kann heute auf Ressourcen zurückgreifen, die früher noch nicht zur Verfügung standen. Auch dies soll ansatzweise an den Beispielen demonstriert werden.
Beginnen wir mit dem Lexempaar Baby – Säugling. Im Duden Universalwörterbuch
Baby – Säugling
1996 fanden wir folgende Erklärungen:
Baby ›Säugling, Kleinkind im ersten Lebensjahr‹
Säugling ›Kind, das noch an der Brust der Mutter oder mit der Flasche genährt wird‹
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Offenbar sind beide Ausdrücke also synonym. In den neueren Ausgaben der Wörterbücher aus dem Dudenverlag ist nun die Bedeutung von Säugling in zwei Unterlesarten aufgespalten:
Säugling
a. ›Kind, das noch an der Brust der Mutter oder mit der Flasche genährt wird‹
b. ›Kind im ersten Lebensjahr‹
Das überrascht insofern, als die durch beide Bestimmungen definierten Gruppen ja referenzidentisch sind. Es sind eben Kinder im ersten Lebensjahr, die nur flüssige Nahrung zu sich nehmen können. Die frühere Differenz hatte ich damit erklärt, dass die relative Motiviertheit von Säugling, seine Verwandtschaft mit dem Verb saugen, bei der Bedeutungsbeschreibung ausgenutzt und ins Gedächtnis gerufen wird. Damit wird also die Ernährungsweise von Kleinkindern in den Mittelpunkt gerückt und dieses Merkmal zur Klassifizierung benutzt. In der Bedeutungsbeschreibung von Baby ist das nicht der Fall, hier wird das Alter als Differenzierungsmerkmal eingesetzt, denn Säuglinge haben eben auch die Eigenschaft, klein und vor noch nicht allzu langer Zeit geboren worden zu sein.
Die veränderte Eintragung lässt darauf schließen, dass nach Einschätzung der Lexikografen das Wachrufen der Motiviertheit von Säugling in den Hintergrund rückt und die Sprachteilhaber gar nicht mehr (immer, häufig) an diese Beziehung denken. Dies würde bedeuten, dass Säugling ein weniger sprechender Ausdruck ist als z.B. Brust-, Flaschenkind oder auch Neugeborenes und Wickelkind, dass es ein ziemlich neutraler Ausdruck ist, da in bestimmten Kontexten das geläufigere Baby nicht vorkommt (vgl. z.B. Säuglingsstation, Säuglingsschwester, Säuglingssterblichkeit ).
Dass tatsächlich die relative Motiviertheit ganz aus dem Bewusstsein verschwinden kann, zeigen am besten tote Metaphern wie etwa Handschuh, wo niemand mehr an die Übertragung des Ausdrucks für die Fußbekleidung denkt. Das ist erst recht der Fall bei synchron nicht mehr durchschaubaren Lexemen wie dem französischen enfant, das zurückgeht auf den lateinischen Ausdruck infans. Dieser ist relativ motiviert und benutzt das Nicht-Sprechen der Säuglinge als Differenzierungsmerkmal (in: ›Privativ/Negativ‹ und fans zu fari ›reden‹).
Da die genannten Eigenschaften den betreffenden Referenten alle gleichzeitig zukommen, sind die Ausdrücke referenziell identisch. Würde man also eine große Gruppe Menschen verschiedenen Alters an einem Ort versammeln und eine Person beauftragen, auf alle Babys zu zeigen, einer zweiten sagen, sie solle alle Säuglinge streicheln usw., dann müssten alle jeweils dieselben Menschen auswählen und dieselbe Gruppe von ›Kindern unter einem Lebensjahr‹ zusammengreifen. Dennoch sind die Lexeme semantisch unterschiedlich, sie fokussieren |76◄ ►77| nämlich einen jeweils anderen Differenzierungsaspekt – die Referenten werden unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet. Im Unterschied
Konnotative Bedeutungsmerkmale
zu den referenziellen oder denotativen Merkmalen sprechen wir hier von konnotativen Bedeutungsmerkmalen (lateinisch con- ›mit‹).
Venus – Morgenstern – Abendstern
Führen wir dafür noch einige Beispiele an. Ein besonders berühmtes, das auch sehr schön verdeutlicht, inwiefern es um den jeweiligen Blickwinkel geht, ist der zweite Planet unseres Sonnensystems. Dieses Objekt gibt es nur einmal, es existieren aber drei geläufige Lexeme dafür im Deutschen: Von der Venus spricht man, wenn man das Gestirn im Zusammenhang mit unserem Sonnensystem betrachtet, vom Morgenstern, wenn man die Himmelskörper unter dem Gesichtspunkt betrachtet, wie es am Morgen aussieht, vom Abendstern, wenn man dasselbe für den Abendhimmel tut.
Lexem – Semem
In den bisherigen Ausführungen zur Semantik haben wir auch schon eine solche Differenzierung nach unterschiedlichen Gesichtspunkten vorgenommen: Von einem Lexem spricht man unter dem Gesichtspunkt, dass das Zeichen zum Lexikon einer Sprache gehört, von einem Semem unter dem Gesichtspunkt, dass es sich aus Semen zusammensetzt.
Göre und Balg
Versuchen wir jetzt, die Lexeme aus unserer obigen Liste zu bestimmen, die sich gleichfalls auf Grund besonderer konnotativer Merkmale von anderen unterscheiden. Dafür kommen vor allem Göre und Balg in Frage. Für die beiden Ausdrücke fanden wir im Duden Universalwörterbuch (1996) die folgenden Erklärungen:
Gör(e): (nordd., oft abwertend): | 1. ›[schmutziges, unartiges] Kind‹ |
2. ›vorwitziges, freches kleines Mädchen‹ | |
Balg: (ugs., meist abwertend): | ›[unartiges, schlecht erzogenes] Kind‹ |
Abwertende Ausdrücke: die Pejoration
Wie man sieht, wird uns hier gleich eine ganze Reihe von differenzierenden Merkmalen präsentiert. Zunächst interessiert uns die Charakterisierung ›(oft/meist) abwertend‹, also die Pejoration. Diese betrachten wir als einen Spezialfall der Konnotation: Mit pejorativen Ausdrücken (zu lateinisch peior, Komparativ von malus ›schlecht‹) bringt man ja auch einen bestimmten Blickwinkel, nämlich eine emotionale Einstellung ins Spiel, und zwar eine negative. Wer Lexeme wie Gör und Balg benutzt, bringt zum Ausdruck, dass ihm die Kinder auf die Nerven gehen, dass er sich über sie ärgert oder dergleichen. Nun gehen Kinder anderen (besonders erwachsenen) Menschen natürlich im Allgemeinen nicht überhaupt, sondern nur unter bestimmten Bedingungen und aus bestimmten Gründen auf die Nerven, z.B. wenn sie Arbeit machen – das tun sie, wenn sie sich schmutzig machen –, oder wenn sie etwas tun, was man für unartig, vorwitzig, frech hält, wenn man sie als schlecht erzogen erlebt. All diese Bestimmungen werden in der Bedeutungsbeschreibung genannt, und eigentlich erscheinen sie als denotative|77◄ ►78| Merkmale. Es handelt sich also nicht um echte Synonyme zu Kind, sondern um Ausdrücke für eine Untergruppe von Kindern, nämlich solche, die unartig usw. sind. Bei