Kirsten Adamzik

Sprache: Wege zum Verstehen


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›poche‹

      c. ›porte-monnaie, bourse‹

      2. ??? (injure)

      3. ›lacrymal‹

      4. ›testicule‹

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      Polysemie Lesarten

      Obwohl wir nun davon ausgehen können, dass wir es mit einem einzigen Lexem zu tun haben, ruft der signifiant auch hier nicht genau einen, sondern mehrere – und sehr verschiedene! – signifiés im Geiste hervor. Das Lexem ist offenbar mehrdeutig. Hier handelt es sich nun jedoch nicht (wie bei der Homonymie) um eine gewissermaßen regelwidrige Ausnahmeerscheinung, sondern um den Normalfall. Er wird als Polysemie (›viel-bedeutend‹) bezeichnet. Wie man jedem Wörterbuch schnell entnehmen kann, sind die meisten Lexeme polysem; ihnen sind mehrere Bedeutungsvarianten oder Lesarten zugeordnet, die allerdings irgendwie miteinander zusammenhängen. Der Bedeutungszusammenhang kann enger oder weiter sein, deswegen hat man sich in dem Wörterbuch bei unserem Beispiel für die Unterscheidung von vier Lesarten entschieden, von denen die erste in nochmals enger verwandte Unterlesarten zerfällt.

      Bedeutungsübertragung

      Es ist auch ganz leicht zu erkennen, warum die Varianten der ersten Lesart enger zusammenhängen; sie fallen nämlich alle unter denselben Oberbegriff. In der Bedeutungsbeschreibung wird er bezeichnet als ›Behältnis‹, d.h. ›ein Gegenstand, in den man etwas hineintun, in dem man etwas verstauen kann‹. Das gilt natürlich für die Lesarten 3 und 4 nicht; es handelt sich dabei ja um Körperteile. Wie kommt es dennoch dazu, dass auch diese Referenten mit dem Ausdruck Sack bezeichnet werden können, und warum sehen wir darin eine Erscheinung der Polysemie, gehen also davon aus, dass diese Lesarten etwas miteinander zu tun haben? Auch die Antwort auf diese Frage ist nicht sehr schwer zu finden: Die Gemeinsamkeit der Referenten, auf die man sich mit dem Zeichen in den Lesarten 3 und 4 einerseits und 1 andererseits bezieht, besteht nicht in ihrer Funktion (Behältnis), sondern in der Form: Tränensäcke und Hodensäcke erinnern an die Form bestimmter Referenten des Lexems in der Lesart 1, nämlich an kleine Beutel, Behältnisse aus einem flexiblen Material, die an sich eigentlich keine fixe Form haben, sondern ihre besondere Gestalt (nach unten breit, ausgebuchtet) dadurch gewinnen, dass man etwas hineintut. Wir haben es hier also mit einer übertragenen Bedeutung zu tun, und der Anlass der Übertragung, das tertium comparationis, ist die Ähnlichkeit in der Form. Selbstverständlich können auch andere Ähnlichkeiten zum Anlass für Bedeutungsübertragungen werden. In einem anderen Wörterbuch der deutschen Sprache, dem Wahrig (Ausgabe 1997), wird dies in der Beschreibung einer Lesart ausdrücklich festgestellt:

      etwas mit einem Sack (1) [d.h. in der Lesart 1 = ›länglicher Behälter …‹] Vergleichbares, entweder weil es nur einen Eingang u. keinen Ausgang hat [Sackgasse] oder weil es schlaff oder bauschend hängt.

      Freilich sind die Ähnlichkeiten immer nur relativ und nicht unbedingt auf den ersten Blick erkennbar. In unserem Beispiel ist vor allem die |60◄ ►61| Lesart 2, Sack als Schimpfwort in Verbindungen wie alter, fauler, blöder Sack, wohl recht schwer rekonstruierbar. Worin könnte die Ähnlichkeit eines Menschen mit dem Behälter bestehen? Ist es vielleicht die Form (z.B. dicker Bauch) bzw. die Formlosigkeit eines Menschen, der ›sich hängen lässt wie ein Sack‹, d.h. sowohl in der Körperhaltung als auch im moralischen Sinne keine Standfestigkeit, kein Rückgrat hat? Oder ist der Grund für die Übertragung vielleicht darin zu sehen, dass Säcke im Allgemeinen keinen großen materiellen Wert haben? Sie sind typischerweise aus grobem Stoff oder Wegwerfmaterial (Papier, Plastik) gefertigt. Vielleicht spielt auch beides eine Rolle, oder noch etwas anderes?

      Die Bedeutung der Sach- und Sprachgeschichte für die Erklärung von Polysemie

      Wie man sieht, begeben wir uns mit solchen Fragen auf die Suche nach der relativen Motiviertheit der Anwendung bestimmter Lexeme auf bestimmte Referenten, anders gesagt: Wir versuchen zu rekonstruieren, wie es zu solchen Lexemverwendungen und zu bestimmten Lesarten kommen konnte. Um solche Fragen beantworten zu können, ist es oft nützlich, ja manchmal notwendig, in die Geschichte zurückzublicken, sowohl in die Sach- als auch in die Sprachgeschichte. Wenn z.B. auch ein Portmonnee mit dem Ausdruck Sack belegt wird, so liegt das natürlich am Geldverkehr zu früheren Zeiten. Als es noch kein Papiergeld, sondern nur Münzen gab, trug man diese in mehr oder weniger großen Behältern von sackartiger Form bei sich. Für Geldscheine eignet sich dieser Aufbewahrungsbehälter nicht besonders gut, als Behältnisse kamen also Gegenstände anderer Form in Gebrauch. Sie hatten jedoch noch dieselbe Funktion wie die früheren Geldbeutel oder -säcke, und dies bildet einen hinreichenden Grund für die Beibehaltung des Lexems. Beispiele für solchen Wandel gibt es in Hülle und Fülle; wir führen nur ein zweites an: Schreibgeräte, die auf Deutsch als Bleistifte, auf Französisch als crayons bezeichnet werden, enthalten heutzutage weder Blei (›plomb‹) noch Kreide (›craie‹), sondern Grafit; die Ähnlichkeit in Funktion und Form bildet den Grund für die Anwendung des Lexems auch auf den neuen Typ der Stifte.

      Die Relativität der Grenze zwischen Homonymie und Polysemie

      Mitunter haben sich die Dinge derartig stark verändert, dass eine Rekonstruktion der früher mehr oder weniger offenkundigen Ähnlichkeit nicht mehr unmittelbar möglich ist. In diesen Fällen würde man dann das Vorliegen von Homonymie rekonstruieren. So ist es z.B. für viele schwer einsehbar, was das Gemeinsame an einer serrure und einem château sein soll; für Schloss werden dementsprechend zwei unabhängige Lexeme rekonstruiert. Für andere gehören jedoch beide Bedeutungen klar zum Verb schließen, denn bei dem Gebäude Schloss hatte man zunächst eine befestigte Burg vor Augen, in der man sich vor Eindringlingen schützen, sich abschließen konnte. Erst später bauten sich die Mächtigen besonders prunkvolle und repräsentative Gebäude, die keineswegs mehr einen besonderen Schutz nach außen bieten. Wer diese Verbindung sieht, rekonstruiert demnach ein Lexem mit mehreren Lesarten.

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      11 Wortbedeutungen im Bewusstsein der Sprecher

      Können wir nun sagen, dass die eine oder die andere Lösung die richtige ist? Welche Aufgabe hat der Wörterbuchschreiber, der Lexikograf? Soll er erklären, wie es zu der Bedeutungsvielfalt von Lexemen (Polysemie) und zu verschiedenen Lexemen mit identischem signifiant (Homonymie) gekommen ist, oder ist es nur wichtig festzuhalten, welche Lexeme gegenwärtig konventionell in welchen Bedeutungen gebraucht werden? Die Frage stellt sich um so mehr, als es ja in der parole ständig zu neuen Bedeutungsübertragungen kommen kann. Wer z.B. seinen Computer nur zu Textverarbeitungszwecken benutzt (und das waren einmal viele!), für den könnte es durchaus naheliegen, ihn als Schreibmaschine zu bezeichnen. Soll man deswegen für das Lexem Schreibmaschine eine Lesart ›Computer, der nur mit einem Textverarbeitungsprogramm ausgestattet ist‹ rekonstruieren? Schließlich haben wir auch eine elektronisch unter einem bestimmten Namen gespeicherte Datenmenge schon als Dokument bezeichnet, als etwa das Duden Universalwörterbuch in diesem Zusammenhang nur die Lesarten ›Urkunde, amtliches Schriftstück‹ und ›Beweisstück, Zeugnis‹ vorsah, was ja nicht auf Computerdokumente passt. Inzwischen ist auch die folgende Variante verzeichnet: ›(EDV) strukturierte, als Einheit erstellte u. gespeicherte Menge von Daten; [Text]datei‹.

      Synchronie und Diachronie im Wörterbuch

      Bei der Beantwortung der Frage, was denn nun die Aufgabe des Lexikografen, oder allgemeiner: der Sprachwissenschaft, ist, sollten wir noch einmal an Saussures Überlegungen zurückdenken. Nach seiner Auffassung geht es in der Linguistik der langue um die Rekonstruktion des Sprachsystems zu einem gegebenen Zeitpunkt (Synchronie). Wie die Verhältnisse früher einmal waren – die Diachronie also – ist für die Rekonstruktion des Systems irrelevant. Folgt man dieser Auffassung streng, so sind irgendwelche Erklärungen sprachlicher Phänomene, für die man erst auf frühere Sprach- und Weltzustände zurückgreifen muss, für die Rekonstruktion des Systems ohne Bedeutung. Viele konkrete Entscheidungen bei der Beschreibung einer Einzelsprache, wie man sie etwa in Wörterbüchern und Grammatiken findet, werden denn auch tatsächlich mit dem synchronen Standpunkt begründet: