umfassend zu beschreiben (und gibt damit übrigens ein Sprachwissen wieder, über das kein einziger konkreter Sprachteilhaber wirklich verfügt).
Zusammenfassung
Es sind, so können wir zusammenfassend feststellen, hauptsächlich drei Tatbestände, die dazu führen, dass ein Wörterbuchartikel |65◄ ►66| viel komplizierter ist, als es das einfache Zeichenmodell von Saussure erwarten lässt:
Polysemie Wörter und Wendungen: Idiomatik
– Lexeme haben meist mehrere Lesarten (Polysemie).
– In ihrer Bedeutung konventionalisiert sind nicht nur Einzelausdrücke (von der Größe eines Worts, also Sack und weiß), sondern auch komplexere Ausdrücke, Fügungen wie der Weiße Sonntag, Redewendungen wie in den Sack hauen oder jemandem nicht das Weiße im Auge gönnen, Redensarten oder Sprichwörter wie Den Sack schlägt man, den Esel meint man und schließlich geläufige Sätze wie Ihr habt zu Hause wohl Säcke an den Türen. Auch diese Einheiten haben den Status von Lexemen in dem Sinne, dass sie fest im Lexikon gespeichert sind, d.h. nicht erst im jeweiligen Parole-Akt neu konstruiert werden.
Varietätenspezifik
– Lexeme und deren Lesarten sind zum Teil nur in bestimmten Varietäten der Sprache gebräuchlich. Ihre regional, stilistisch usw. nur begrenzt gültige Verwendbarkeit muss erläutert werden.
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12 Sprache als Mittel des Denkens: Die Kategorisierung der Welt
Bei der Betrachtung der Bedeutungsbeschreibung in Wörterbüchern waren wir bereits auf die Wichtigkeit der Polysemie von Lexemen für das Funktionieren einer natürlichen Sprache gestoßen. Die Polysemie von Lexemen kommt vor allem dadurch zustande, dass ein Ausdruck, der eigentlich für eine bestimmte Art von Referenten gebraucht wird, auch für ganz andere Referenten verwendet werden kann, die in irgendeiner Ähnlichkeitsbeziehung dazu stehen. Wenn sich ein solcher Gebrauch einbürgert, liegt eine neue konventionalisierte Lesart vor.
Die Vielfalt der außersprachlichen Gegenstände
Schon in einer einzelnen Lesart referiert jedoch ein Lexem potenziell auf Gegenstände, die einander durchaus nicht besonders ähnlich sein müssen. So kann man als Sack sowohl einen großen Behälter aus Jute bezeichnen, in dem z.B. Kartoffeln oder Kohle transportiert werden und der oben zugebunden werden kann, als auch einen großen Sack aus festem Papier (z.B. für Zement), der nicht zugebunden, sondern nur verklebt werden kann, als auch z.B. einen kleinen Plastikbeutel, in dem gerade einmal ein Kilo Mohrrüben Platz hat und der an zwei Stellen auf die gleiche Weise verschweißt ist. In manchen Gegenden des deutschen Sprachraums (in der Schweiz) kann man dann auch noch Plastikbeutel oder Papiertüten, wie sie z.B. in Supermärkten |66◄ ►67| ausgegeben oder verkauft werden, als Säcke bezeichnen. Im Norden würde man dagegen bei der Bitte um einen (Plastik-) Sack wohl auf ziemliches Unverständnis an der Kasse stoßen. Auch wenn jemand von seinem Schweizer Sackmesser oder vom zu geringen Sackgeld spricht, reizt das viele Nordlichter zum Lachen. Bei ihnen heißt es nämlich Taschenmesser bzw. Taschengeld.
Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Gegenständen sind relativ
Nun ist es natürlich nicht so, dass die Norddeutschen nicht in der Lage wären, die große Ähnlichkeit zwischen einer Plastiktüte der Coop und einem kleinen Beutel für Gemüse zu erkennen, denn beide haben miteinander ja wohl mehr gemeinsam als mit dem großen Kartoffelsack. Auch die Ähnlichkeit von solchen Säcken oder Säckchen mit der Hosen- oder Jackentasche kann man nicht als besonders abwegig ansehen, wenn man sogar die Ähnlichkeit zum Tränensack erkennt. Verschieden sind also nicht die kognitiven Fähigkeiten (nämlich Ähnlichkeiten zu sehen), sondern lediglich die sprachliche Strukturierung der Welt.
Wir kommen damit auf Saussures Begriff der valeur und der Systemgebundenheit sprachlicher Zeichen zurück. Wir hatten im neunten Kapitel festgestellt: Die potenzielle Referenz eines Ausdrucks ergibt sich letztlich erst daraus, welche anderen Ausdrücke ihm an der Seite stehen. Während man im Englischen zwischen sheep und mutton differenziert, steht dem im Französischen nur mouton gegenüber. Gleiches gilt für unser Beispiel: Im Norddeutschen beschränkt die Existenz von Tasche die potenzielle Referenz von Sack, während dies im Süddeutschen – und erst recht im Französischen (sac) – nur zum Teil bzw. gar nicht der Fall ist. Letztlich bedeutet dies aber nichts anderes, als dass wir die Bedeutung, den Stellenwert (valeur), eines Lexems überhaupt nicht genau beschreiben können, ohne zugleich andere Lexeme zu berücksichtigen. Bedeutungsverwandte Ausdrücke müssen also im Zusammenhang gesehen werden, damit man feststellen kann, welche spezifische Strukturierung eines Weltausschnitts in einer bestimmten Sprache gegeben ist, d.h. für welche Kategorien es in der Sprache konventionalisierte Zeichen gibt.
Kategorisierung
Es geht also grundlegend um das Phänomen der Kategorisierung; diese erfolgt einerseits durch Abstraktion (kognitive Nivellierung von Verschiedenheiten), andererseits durch Differenzierung (kognitive Hervorhebung von Verschiedenheiten). Die beiden Vorgänge lassen sich folgendermaßen erläutern:
Abstraktion
Die Abstraktion ist notwendig, weil nicht jeder einzelne Gegenstand in der Welt einen eigenen ›Namen‹ bekommen kann. Man will ja oft eine Vielzahl von individuellen Objekten zu einer Klasse zusammenfassen und muss dabei von vielen ihrer besonderen Eigenschaften absehen. Man kann fast beliebig weit abstrahieren und z.B. sämtliche Unterschiede zwischen individuellen Objekten beiseite lassen; das geschieht mit Ausdrücken wie Ding oder quelque chose. Sehr viel weniger |67◄ ►68| (aber immer noch Milliarden von) Individuen werden in der Klasse zusammengefasst, für die es im Deutschen den Ausdruck Mensch gibt.
Differenzierung
Die Differenzierung ist notwendig, weil wir oft auch kleinere Klassen bilden, d.h. verschiedene Dinge gegeneinander abgrenzen wollen. Dabei müssen speziellere Eigenschaften herausgehoben werden. Mit Mensch beziehen wir uns z.B. nur auf solche Etwasse, die die Eigenschaften haben, ›Lebewesen‹ und ›menschlich‹ zu sein.
Eigennamen
Man kann auch beliebig weit differenzieren – im äußersten Fall bildet man gar keine Klasse mehr, sondern bezieht sich auf ein Etwas als ganz Individuelles. Dafür stehen spezielle sprachliche Ausdrücke zur Verfügung, nämlich Eigennamen: Johann Wolfgang von Goethe. Das reicht aber nicht immer aus: Herta Müller, verwitwete Adamzik, geb. am 11.6.1931 in Kiel könnte man nämlich verwechseln mit Herta Müller, Schriftstellerin, geb. 1953 in Nitzkydorf (Rumänien), 2009 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.
Die Relativität von sprachlichen Kategorien
Man kann nicht nur beliebig weit abstrahieren bzw. beliebig fein differenzieren, vielmehr kann man im Prinzip auch auf beliebige Art differenzieren. Dies zeigt das Textbeispiel 12, dessen Kategorisierungen (Tiere, die dem Kaiser gehören; Tiere, die den Wassertopf zerschlagen haben; Tiere, die mit einem feinen Pinsel gezeichnet sind, usw.) uns wohl ziemlich absurd vorkommen. Allerdings ist jede Kategorisierung nur relativ gültig und sinnvoll. Wenn wir mit Kategorisierungen konfrontiert werden, die wir nicht gewohnt sind – und dies ist eben häufig schon der Fall, wenn man den konventionellen Kategorisierungen einer fremden Sprache oder Varietät begegnet –, löst das zwar oft Befremden oder Belustigung aus, in der Regel reicht jedoch einiger guter Wille, um die (relative) Nützlichkeit auch dieser fremden Kategorisierung zu begreifen. Auch ungewohnte Kategorisierungen, besonders wenn sie sehr fein sind, dienen nämlich im Allgemeinen bestimmten Zwecken: Je genauer man sich mit einem Gegenstandsbereich auseinandersetzt, desto genauer wird man differenzieren. Daher besteht auch eine wesentliche Eigenschaft von Wissenschaften in der Kreation neuer Differenzierungen, neuer Termini bzw. einer ganzen Fachsprache (ein Typ von Varietät). Wenn es z.B. für den an Sprache nicht weiter Interessierten ausreicht, über Ausdrücke wie Wort und Zeichen zu verfügen (diese kennt aber wirklich jeder Deutschsprachige), so sieht man sich bei genauerer Analyse des Gegenstandes veranlasst, weiter zu differenzieren und etwa zwischen Lexem und Wort oder signifiant und signifié zu unterscheiden.
Kategorienbildung