Kirsten Adamzik

Sprache: Wege zum Verstehen


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Borges und auch das Beispiel Herta Müller zeigen uns jedoch Folgendes: Wenn man beliebig (d.h. entsprechend sehr spezifischen Interessen und Bedürfnissen) kategorisieren will, dann greift man im Allgemeinen auf komplexe sprachliche Ausdrücke zurück: Einzelne Unterscheidungsmerkmale werden explizit genannt und miteinander kombiniert. Auf diese Weise ist jedwede Kategorienbildung (in jeder Sprache) möglich. Wiederum ist es gerade in wissenschaftlichen Untersuchungen oft notwendig, sehr spezielle Kategorien zu bilden. Beispielsweise könnte es für eine linguistische Untersuchung sinnvoll sein, die folgende Kategorie zu bilden: ›Personen, die zur Zeit in Genf ansässig sind, zwischen 1960 und 1980 geboren wurden, im August Geburtstag haben und deren Mutter zweisprachig ist‹. Nichts hindert, eine solche für die Untersuchung gebildete Kategorie dann auch noch mit einem sprachlichen Sonderzeichen zu belegen, etwa Zwimu (von zweisprachige Mutter), eine Vergleichsgruppe hieße dann natürlich Zwiva usw. Solche Ausdrücke für ›x-beliebige‹ Kategorien werden allerdings kaum eine Chance haben, in der Sprachgemeinschaft konventionalisiert zu werden, sie bleiben Ausdrücke der Gruppensprache der mitarbeitenden Forscher.

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      Textbeispiel 12: Die vierzig Kategorien des Universums

      In der Universalsprache, die John Wilkins um die Mitte des 17. Jahrhunderts erfand, definiert jedes Wort sich selber. Schon Descartes hatte in einem Brief, datiert vom November 1629, vermerkt, daß wir mit Hilfe der Zählung nach dem Dezimalsystem binnen eines einzigen Tages die Zählung sämtlicher Größenmengen bis zum Unendlichen erlernen und diese in einer neuen Sprache, nämlich in Ziffern, niederschreiben können, und hatte entsprechend die Bildung einer Allgemeinsprache vorgeschlagen, die das menschliche Denken organisieren und in sich befassen sollte. John Wilkins nahm um das Jahr 1664 diese Aufgabe in Angriff.

      Erteilte das Universum in 40 Kategorien oder Genera auf, die sich ihrerseits in »Differenzen« und diese wiederum in »Spezies« unterteilten. Jedes Genus bezeichnete er mit einer Silbe aus zwei Buchstaben; jede Differenz mit einem Konsonanten; jede Spezies mit einem Vokal. Zum Beispiel: de bedeutet: Element; deb das erste der Elemente, das Feuer; deba einen Teil des Elements Feuer, eine Flamme. In der ähnlich konstruierten Sprache von Letellier (1850) bedeut ›a‹ soviel wie Tier; ›ab‹ Säugetier; ›abo‹ Fleischfresser; ›aboj‹ Katzengattung; ›aboje‹ Katze, ›abi‹ Pflanzenfresser, ›abiv‹ Pferdegattung usw. […] Die Wörter der analytischen Sprache John Wilkins’ sind keine plumpen willkürlichen Symbole. Jeder einzelne der Buchstaben, aus denen sie sich zusammensetzen, ist bezeichnend, so wie für die Kabbalisten die Buchstaben der Heiligen Schrift. […]

      Nachdem wir Wilkins’ Methode definiert haben, müssen wir ein Problem untersuchen, das sich unmöglich oder nur schwer hintan halten läßt: die Gültigkeit der Vierzigertabelle, die der Sprache zugrunde liegt. Betrachten wir die achte Kategorie, unter die die Gesteine fallen. Wilkins unterteilt sie in gewöhnliche (Kiesel, Kies, Schiefer), in durchschnittliche (Marmor, Bernstein, Koralle), in kostbare (Perle, Opal), in durchsichtige (Amethyst, Saphir), in unlösliche (Steinkohle, Ton, Arsenik). Fast so beunruhigend wie die achte ist die neunte Kategorie. Sie führt uns vor Augen, daß die Metalle unvollkommen (Zinnober, Quecksilber), daß sie künstlich (Bronze, Messing), abfallartig (Eisenfeilspäne, Rost) und natürlich (Gold, Zinn, Kupfer) sein können. Die Schönheit hat ihren Ort in der sechzehnten Kategorie; sie ist ein lebendgebärender, länglicher Fisch. Diese Doppeldeutigkeiten, Überlagerungen und Fehlanzeigen erinnern an die Gebrechen, die Franz Kuhn einer gewissen chinesischen Enzyklopädie nachsagt, die sich betitelt: Himmlischer Warenschatz wohltätiger Erkenntnisse. Auf ihren weit zurückliegenden Blättern steht geschrieben, daß die Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, j) unzählbare, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen. Das bibliographische Institut in Brüssel befleißigt sich ebenfalls des Chaotischen: es hat das Weltall in tausend Unterteilungen zerstückelt. Nummer 262 entspricht dem Papst, 282 der römisch-katholischen Kirche, 263 dem Tag des Herrn, 268 den Sonntagsschulen, 289 dem Mormonismus und 294 dem Brahmanismus, Buddhismus, Schintoismus und Taoismus. Es schreckt vor den heterogensten Unterteilungen nicht zurück. So zum Beispiel Nummer 179: »Grausamkeit gegen Tiere. Tierschutz. Das Duell und der Selbstmord, moralisch betrachtet. Verschiedene Laster und Gebrechen. Verschiedene Tugenden und Qualitäten«.

      Ich habe Wilkins, den unbekannten (oder apokryphen) chinesischen Enzyklopädisten und das Bibliographische Institut in Brüssel mit einer Aufstellung von Beliebigkeiten vorgeführt. Bekanntlich existiert keine Klassifikation des Universums, die nicht willkürlich und mutmaßlich ist. Aus einem sehr einfachen Grund: wir wissen nicht, was das Universum ist.

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      Bei der Beschreibung des Systems einer Einzelsprache kommt es nun genau darauf an zu rekonstruieren, welche Kategorisierungen konventionalisiert sind, nämlich Lexemen der langue (eines Systems, das für eine ganze Sprachgemeinschaft oder größere Untergruppen davon verbindlich ist) entsprechen.

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      13 Bedeutungsverwandte Ausdrücke: Wortfelder

      Das Wortfeld Oberbegriff – Unterbegriffe

      Da die valeur eines Lexems sich daraus ergibt, welche anderen Lexeme ihm an der Seite stehen, besteht ein erster Schritt der Rekonstruktion der sprachspezifischen Kategorien in der Zusammenstellung von Lexemen, die einander ähnlich sind, sich eben gegenseitig begrenzen. Solche Gruppen bedeutungsverwandter Lexeme werden mit dem Terminus Wortfeld bezeichnet. Genauer gesagt werden jedoch bei der Zusammenstellung immer nur einzelne Lesarten dieser Lexeme berücksichtigt. Die Fragestellung ist also zunächst onomasiologisch: Welche Lexeme gibt es für diesen Gegenstandsbereich? Für den Gegenstandsbereich ›Behältnisse‹ kommen z.B. neben Sack und Tasche im Deutschen noch in Frage: Tüte, Beutel, Netz, Ranzen, Korb, Mappe, Tornister, Dose, Kiste, Truhe … Alle fallen unter einen Oberbegriff (man benutzt dafür auch den Terminus Hyperonym, zu griechisch hyper- ›über‹), hier: ›Behälter‹. Umgekehrt spricht man von Unterbegriff (oder Hyponym, zu griechisch hypo- ›unter(halb)‹). Mann, Frau, Kind, Junge, Mädchen usw. sind z.B. hyponym zu ›Mensch, Person‹.

      Synonymie

      Bedeutungsverwandte Ausdrücke sind einander natürlich mehr oder weniger nahe. Eng bedeutungsverwandte Ausdrücke können |70◄ ►71| gleichermaßen auf ein und denselben Referenten angewandt werden. So kann man für einen bestimmten Gegenstand etwa durchaus wählen zwischen Tasche, Tüte und Beutel; auf keinen Fall könnte man dagegen für denselben Gegenstand Dose, Kiste oder Truhe verwenden. Wenn zwei Lexeme ohne jeden Bedeutungsunterschied in jedem möglichen Parole-Akt gegeneinander ausgetauscht werden können, sprechen wir von strenger Synonymie. Ein solcher Fall kommt jedoch nur selten vor, meistens gehören die Ausdrücke nämlich mindestens einer anderen Varietät an: Beispielsweise sagt man im Süden Samstag, im Norden Sonnabend, in Frankreich quatre-vingt-dix, in der französischen Schweiz und Belgien nonante usw.

      Das Beispiel der Personenbezeichnungen

      Hat man bedeutungsverwandte Ausdrücke zusammengestellt, kommt es weiter darauf an zu bestimmen, was sie inhaltlich gemeinsam haben und worin sie sich unterscheiden. Wir suchen also nach den Differenzierungsmerkmalen. Beginnen wir mit einem ganz einfachen Beispiel, den gängigsten Personenbezeichnungen im Deutschen: Mensch, Kind, Frau, Mann, Mädchen, Junge. Alle diese Lexeme haben eines gemeinsam: Sie bezeichnen menschliche Wesen, daher ist der Ausdruck Mensch der Oberbegriff zu den anderen. Als Differenzierungsmerkmale kommen offensichtlich das Geschlecht und das Alter ins Spiel. Man kann diese Verhältnisse zusammenfassend in der folgenden Tabelle darstellen:

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      Semantische Merkmale/Seme

      Wie man sieht, lässt sich die Bedeutung der sechs Lexeme säuberlich voneinander unterscheiden, wenn man drei Differenzierungsmerkmale berücksichtigt. Diese