Kirsten Adamzik

Sprache: Wege zum Verstehen


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will von einem alten Mann erzählen, von einem Mann, der kein Wort mehr sagt, ein müdes Gesicht hat, zu müd zum Lächeln und zu müd, um böse zu sein. […]

      Der alte Mann machte morgens einen Spaziergang und nachmittags einen Spaziergang, sprach ein paar Worte mit seinem Nachbarn, und abends saß er an seinem Tisch.

      Das änderte sich nie, auch sonntags war das so. Und wenn der Mann am Tisch saß, hörte er den Wecker ticken, immer den Wecker ticken.

      Dann gab es einmal einen besonderen Tag, einen Tag mit Sonne, nicht zu heiß, nicht zu kalt, mit Vogelgezwitscher, mit freundlichen Leuten, mit Kindern, die spielten – und das Besondere war, daß das alles dem Mann plötzlich gefiel.

      Er lächelte.

      »Jetzt wird sich alles ändern«, dachte er […]

      Aber im Zimmer war alles gleich, ein Tisch, zwei Stühle, ein Bett. Und wie er sich hinsetzte, hörte er wieder das Ticken, und alle Freude war vorbei, denn nichts hatte sich geändert.

      Und den Mann überkam eine große Wut. […]

      »Immer derselbe Tisch«, sagte der Mann, »dieselben Stühle, das Bett, das Bild. Und dem Tisch sage ich Tisch, dem Bild sage ich Bild, das Bett heißt Bett, und den Stuhl nennt man Stuhl. Warum denn eigentlich?« Die Franzosen sagen dem Bett »li«, dem Tisch »tabl«, nennen das Bild »tablo« und den Stuhl »schäs«, und sie verstehen sich. Und die Chinesen verstehen sich auch.

      »Weshalb heißt das Bett nicht Bild«, dachte der Mann und lächelte, dann lachte er, lachte, bis die Nachbarn an die Wand klopften und »Ruhe« riefen.

      »Jetzt ändert es sich« rief er, und er sagte von nun an dem Bett »Bild«.

      »Ich bin müde, ich will ins Bild«, sagte er, und morgens blieb er oft lange im Bild liegen und überlegte, wie er nun dem Stuhl sagen wolle, und er nannte den Stuhl »Wecker«.

      Er stand also auf, zog sich an, setzte sich auf den Wecker und stützte die Arme auf den Tisch. Aber der Tisch hieß jetzt nicht mehr Tisch, er hieß jetzt Teppich. Am Morgen verließ also der Mann das Bild, zog sich an, setzte sich an den Teppich auf den Wecker und überlegte, wem er wie sagen könnte.

      Dem Bett sagte er Bild.

      Dem Tisch sagte er Teppich.

      Dem Stuhl sagte er Wecker.

      Der Zeitung sagte er Bett.

      Dem Spiegel sagte er Stuhl.

      Dem Wecker sagte er Fotoalbum.

      Dem Schrank sagte er Zeitung.

      Dem Teppich sagte er Schrank.

      Dem Bild sagte er Tisch.

      Und dem Fotoalbum sagte er Spiegel.

      Also:

      Am Morgen blieb der alte Mann lange im Bild liegen, um neun läutete das Fotoalbum, der Mann stand auf und stellte sich auf den Schrank, damit er nicht an die Füße fror, dann nahm er seine Kleider aus der Zeitung, zog sich an, schaute in den Stuhl an der Wand, |51◄ ►52| setzte sich dann auf den Wecker an den Teppich und blätterte den Spiegel durch, bis er den Tisch seiner Mutter fand.

      Der Mann fand das lustig, und er übte den ganzen Tag und prägte sich die neuen Wörter ein. Jetzt wurde alles umbenannt: Er war jetzt kein Mann mehr, sondern ein Fuß, und der Fuß war ein Morgen und der Morgen ein Mann. […]

      Der alte Mann kaufte sich blaue Schulhefte und schrieb sie mit den neuen Wörtern voll, und er hatte viel zu tun damit, und man sah ihn nur noch selten auf der Straße.

      Dann lernte er für alle Dinge die neuen Bezeichnungen und vergaß dabei mehr und mehr die richtigen. Er hatte jetzt eine neue Sprache, die ihm ganz allein gehörte. […]

      Und es kam so weit, daß der Mann lachen mußte, wenn er hörte, wie jemand sagte:

      »Gehen Sie morgen auch zum Fußballspiel?« Oder wenn jemand sagte: »Jetzt regnet es schon zwei Monate lang.« […]

      Er mußte lachen, weil er all das nicht verstand.

      Aber eine lustige Geschichte ist das nicht. Sie hat traurig angefangen und hört traurig auf. Der alte Mann im grauen Mantel konnte die Leute nicht mehr verstehen, das war nicht so schlimm. Viel schlimmer war, sie konnten ihn nicht mehr verstehen.

      Und deshalb sagte er nichts mehr.

      Er schwieg, sprach nur noch mit sich selbst, grüßte nicht einmal mehr.

      Die relative Motiviertheit

      Wenn die Beziehung zwischen signifiant und signifié – da sie ja arbiträr ist – für jedes Gesamtzeichen einzeln gelernt werden müsste, wäre die Aufgabe, eine Sprache zu lernen, unglaublich groß. In Wirklichkeit müssen wir jedoch nicht jedes Einzelzeichen mit seinen zwei Seiten neu lernen. Wenn man z.B. weiß, dass drei ›3‹ bedeutet und zehn ›10‹, ist es ja nicht besonders schwierig darauf zu kommen, dass dreizehn ›13‹ bedeutet; wenn man weiß, dass Hund ›chien‹, Katze ›chat‹ und Hündchen ›petit chien‹ bedeutet, wird man wohl nicht lange darüber nachzudenken brauchen, was Kätzchen bedeutet. Die vielen Einzelzeichen einer |52◄ ►53| Sprache erklären sich also großenteils gegenseitig. Saussure spricht hier von relativer Motiviertheit. Anders als bei den onomatopoetischen Zeichen beruht die selbsterklärende Kraft dabei nicht auf Ikonizität, sondern auf systeminternen Beziehungen. Das Prinzip der Konventionalität der Zeichen wird dadurch eingeschränkt, aber nicht aufgehoben. Es ist zweifellos leichter, sich den signifiant dreizehn für ›13‹ zu merken, als den signifiant treize aus trois und dix herzuleiten; dreizehn ist also stärker motiviert als treize, aber es könnte natürlich auch ›3 x 10‹, also ›30‹ bedeuten – und wie abwegig es Nicht-Deutschsprachigen erscheint, einunddreißig zu sagen statt dreißigundeins, ist wohl allgemein bekannt. Die Motiviertheit ist deswegen immer nur relativ.

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      9 Sprachzeichen und die außersprachliche Welt

      Bei der Erläuterung der Saussureschen Vorstellung vom sprachlichen Zeichen war überhaupt nicht mehr davon die Rede, dass man sich mit sprachlichen Äußerungen irgendwie auf die Welt bezieht, es war nur von den psychischen Größen die Rede. Dies ist auch ganz in Saussures Sinne. Er hat sein Modell des sprachlichen Zeichens ausdrücklich als Gegenkonzept zu Vorstellungen präsentiert, nach denen das Zeichen nur aus einem Zeichenkörper besteht, der direkt auf einen Gegenstand bzw. die Vorstellung davon hinweist, etwa so:

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      V Tatsächlich vertritt Saussure die Auffassung, dass es außerhalb der Sprache überhaupt keine klaren Vorstellungen (concepts) von irgendetwas gibt: »Das Denken, für sich allein genommen, ist wie eine Nebelwolke, in der nichts notwendigerweise begrenzt ist. Es gibt keine von vornherein feststehenden Vorstellungen, und nichts ist bestimmt, ehe die Sprache in Erscheinung tritt«.6 Sprache ist also nicht bloß da, um etwas in der Wirklichkeit zu bezeichnen, sondern sie ist bereits notwendig, um die Wirklichkeit überhaupt geistig zu erfassen und zu strukturieren, um klare Konzepte auszubilden – eben siginifiés, die ohne die zugehörigen signifiants überhaupt nicht denkbar sind.

      Stellenwert (valeur) der Zeichen

      Verschiedene signifiés gewinnen ihre spezifische Bedeutung aus der Abgrenzung gegen andere (verwandte) signifiés – das macht ihre Systemgebundenheit aus. Für diese einzelsprachspezifische Abgegrenztheit von Konzepten führt Saussure den Ausdruck Wert (valeur) ein und erläutert ihn u.a. mit folgendem Beispiel: |53◄ ►54|

      das franz. mouton kann dieselbe Bedeutung haben wie das engl. sheep, aber nicht denselben Wert, und das aus mancherlei Gründen, besonders deshalb, weil, wenn von einem Stück Fleisch die Rede ist, das zubereitet und auf den Tisch gebracht wird, das Englische mutton und nicht sheep sagt. Der Unterschied des Wertes zwischen sheep und mouton kommt daher, weil das erstere neben sich ein