Kirsten Adamzik

Sprache: Wege zum Verstehen


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vergegenwärtigen, was dem Sprachlerner, in dessen Lage wir uns bislang versetzt haben, noch fehlt.

      Warum man in der Schule Fremdsprachen nur relativ schlecht lernt

      Wir hatten oben angenommen, dass man sich eine Sprache in ihren Grundzügen etwa innerhalb eines Jahres aneignen kann. Dem steht nun gegenüber die leidvolle Erfahrung, die die meisten Leser dieses Buches gemacht haben werden: Sie haben nicht nur ein Jahr, sondern oft mehrere Jahre lang in der Schule Fremdsprachen gelernt – auch wenn es weniger intensiv war, auf vierhundert Stunden kommt man allemal! –, müssen aber feststellen, dass sie dennoch nicht in der Lage sind, sich in dem Land, dessen Sprache sie erworben haben, befriedigend zu verständigen. Man will im Alltag, auf Reisen usw. zurechtkommen, wozu doch eigentlich auch schon begrenzte Kenntnisse ausreichen sollten, und doch gelingt gerade dies oft relativ schlecht. Was diesen Fremdsprachlern fehlt, ist natürliche Kommunikationserfahrung.

      Dass es gerade im Alltag zu Schwierigkeiten kommt, liegt daran, dass man sich im Alltagsverkehr normalerweise nicht der gepflegten Standardsprache bedient. Dies ist aber die einzige Varietät, die man in der Schule sinnvoll vermitteln kann. Es gibt nämlich für die Sprache des alltäglichen Umgangs und für so genannte Substandardvarietäten

      Für natürliche Alltagskommunikation muss man den Substandard kennen

      überhaupt keine kodifizierte Norm – das Normale ist vielmehr die Abweichung von der Norm, z.B. nachlässige Artikulation. Außerdem haben substandardliche Varietäten – gerade im Gegensatz zum Standard – eine meist nur eingeschränkte regionale Verbreitung; im Norden Frankreichs ist es eben anders als im Süden, wo sollte man da mit dem Unterricht beginnen? Schließlich wäre eine Vermittlung nichtstandardsprachlicher Formen auch deswegen gefährlich, weil sich Fremdsprachler keineswegs in derselben Weise eine Abweichung von der Norm erlauben dürfen wie Muttersprachler. Tun sie dies doch, so erzeugen sie bestenfalls Heiterkeit, schlimmstenfalls zieht ihr Verhalten soziale Abwertung nach sich. Demjenigen, der ein Jahr lang in seiner Heimat eine Fremdsprache gelernt hat, fehlt also das meiste von dem, was wir in Kapitel 5 als Wissensvoraussetzungen betrachtet haben, die zum Sprachwissen im engsten Sinne hinzukommen und die man nur in natürlicher Kommunikation mit Angehörigen der entsprechenden Sprachgemeinschaft lernt. Das umfasst selbstverständlich auch das Lesen verschiedenster Texte in dieser Sprache oder das Anschauen und Hören von Fernsehsendungen usw., so dass man sich auch außerhalb des Landes sehr viel intensiver mit dessen Sprache vertraut machen kann, als es ein normaler Sprachkurs möglich macht.

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      Textbeispiel 9: Wer kann Deutsch?

      DAMIS. […] Nein, glaube mir, mein lieber Anton: der Mensch ist allerdings einer allgemeinen Erkenntnis fähig. Es leugnen, heißt ein Bekenntnis seiner Faulheit, oder seines mäßigen Genies ablegen. Wenn ich erwäge, wie viel ich schon nach meinen wenigen Jahren verstehe, so werde ich von dieser Wahrheit noch mehr überzeugt. Lateinisch, Griechisch, Hebräisch, Französisch, Italienisch, Englisch – das sind sechs Sprachen, die ich alle vollkommen besitze: und bin erst zwanzig Jahr alt!

      ANTON. Sachte! Sie haben eine vergessen; die deutsche –

      DAMIS. Es ist wahr, mein lieber Anton; das sind also sieben Sprachen: und ich bin erst zwanzig Jahr alt!

      ANTON. Pfui doch, Herr! Sie haben mich, oder sich selbst zum besten. Sie werden doch das, daß Sie Deutsch können, nicht zu Ihrer Gelehrsamkeit rechnen? Es war ja mein Ernst nicht. –

      DAMIS. Und also denkst du wohl selber Deutsch zu können?

      ANTON. Ich? ich? nicht Deutsch! Es wäre ein verdammter Streich, wenn ich Kalmuckisch redete, und wüßte es nicht.

      DAMIS. Unter können und können, ist ein Unterschied. Du kannst Deutsch, das ist: du kannst deine Gedanken mit Tönen ausdrücken, die einem Deutschen verständlich sind; das ist, eben die Gedanken in ihm erwecken, die du bei dir hast. Du kannst aber nicht Deutsch, das ist: du weißt nicht, was in dieser Sprache gemein oder niedrig, rauh oder annehmlich, undeutlich oder verständlich, alt oder gebräuchlich ist; du weißt ihre Regeln nicht; du hast keine gelehrte Kenntnis von ihr.

      ANTON. Was einem die Gelehrten nicht weis machen wollen! Wenn es nur auf Ihr das ist ankäme, ich glaube, Sie stritten mir wohl gar noch ab, daß ich essen könnte.

      DAMIS. Du kannst essen, das ist: du kannst die Speisen zerschneiden, in Mund stecken, kauen, herunter schlucken, und so weiter. Du kannst nicht essen, das ist: du weißt die mechanischen Gesetze nicht, nach welchen es geschiehet; du weißt nicht, welches das Amt einer jeden dabei tätigen Muskel ist, ob der Digastricus oder der Masseter, ob der Pterygoideus internus oder externus, ob der Zygomaticus oder der Platysmamyodes, ob –

      ANTON. Ach ob, ob! Das einzige Ob, worauf ich sehe, ist das, ob mein Magen etwas davon erhält, und ob mirs bekömmt. – Aber wieder auf die Sprache zu kommen. Glauben Sie wohl, daß ich eine verstehe, die Sie nicht verstehen?

      DAMIS. Du, eine Sprache, die ich nicht verstünde?

      ANTON. Ja; raten Sie einmal.

      DAMIS. Kannst du etwa Koptisch?

      ANTON. Foptisch? Nein, das kann ich nicht.

      DAMIS. Chinesisch? Malabarisch? Ich wüßte nicht woher.

      ANTON. Wie sie herumraten. Haben Sie meinen Vetter nicht gesehn? Er besuchte mich vor vierzehn Tagen. Der redte nichts, als diese Sprache.

      DAMIS. Der Rabbi, der vor kurzen zu mir kam, war doch wohl nicht dein Vetter?

      ANTON. Daß ich nicht gar ein Jude wäre! Mein Vetter war ein Wende; ich kann Wendisch; und das können Sie nicht.

      DAMIS (nachsinnend). Er hat Recht. – Mein Bedienter soll eine Sprache verstehen, die ich nicht verstehe? Und noch dazu eine Hauptsprache? Ich erinnere mich, daß ihre Verwandtschaft mit der hebräischen sehr groß sein soll. Wer weiß, wie viel Stammwörter, die in dieser verloren sind, ich in jener entdecken könnte! – Das Ding fängt mir an, im Kopfe herum zu gehen!

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      Teildisziplinen der Parole-Linguistik

      Auch Muttersprachler verfügen allerdings immer nur über einen Ausschnitt solchen Wissens, denn jedermanns Kommunikationserfahrungen sind notwendigerweise begrenzt. Am offensichtlichsten ist, dass wir das ganze Leben lang unseren Wortschatz erweitern (können), nie werden wir ihn vollständig beherrschen. Wörterbücher gehören deswegen auch zu den von Muttersprachlern am häufigsten benutzten Werken über Sprache, und Worterklärungen sind im Alltag besonders oft auftretende Formen der Metakommunikation. Aber auch an geläufigen Formen des Sprachgebrauchs, bestimmten Arten von Texten, lernen wir normalerweise im Laufe des ganzen Lebens hinzu, nicht zuletzt, weil diese sich verändern und vermehren (z.B. die Textsorten der neuen Medien: Teletext, E-Mail, Homepages usw.). Viele Textsorten brauchen wir auch nur in bestimmten Lebenslagen und müssen sie dann lernen: Wie mache ich eine Steuererklärung, wie halte ich eine Rede auf der Hochzeitsfeier meiner Tochter, wie schreibe ich eine Bewerbung, eine Seminararbeit, ein Gutachten …? U.a. um Fragen dieser Art geht es in der Teildisziplin der Text- und Gesprächslinguistik,

      Text- und Gesprächslinguistik

      die wir allerdings eigentlich zu den Kerndisziplinen hinzurechnen müssen, als Bereich, der sich mit einer weiteren Ebene – oberhalb des Satzes – beschäftigt. Denn auch für den Aufbau von (schriftlichen oder mündlichen) Texten aus Diskussionsbeiträgen, Abschnitten, Sätzen, Satzteilen, Wörtern, gibt es allgemeine und sprachspezifische Regularitäten.

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      Soziolinguistik

      Die Untersuchung der Varietäten und ihres Einsatzes – wer spricht/ schreibt wo wann wie und warum? – fällt in den breiten Bereich der Soziolinguistik, des Studiums der Sprache im gesellschaftlichen Kontext. Da jedwede Äußerung in irgendeinem gesellschaftlichen Kontext steht, ist der Gegenstandsbereich dieser Teildisziplin nicht sehr gut abgrenzbar. Dazu rechnen können wir sowohl die Untersuchung des Sprachverhaltens bestimmter sozialer Gruppen, Berufsgruppen, subkultureller Gruppen, als auch des Sprachgebrauchs in den