Anke Ortlepp

Geschichte der USA


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der „fünf zivilisierten Stämme“ dann überredet, die Bestimmungen des Dawes Act anzuerkennen und zusammen mit den Weißen eine Staatsverfassung zu entwerfen. Als Oklahoma 1905 in die Union aufgenommen wurde, besaßen die Native AmericansNative AmericansReservate nur noch einen kleinen Teil des Landes, das ihnen die Bundesregierung ursprünglich als Reservat zur Verfügung gestellt hatte. Dieser Prozess der Reduzierung der Reservate und der Verelendung ihrer Bevölkerung vollzog sich fast überall mit scheinbarer Naturgesetzlichkeit. Nur ganz wenige Stämme, hauptsächlich Pueblo-IndianerPueblo-Indianer im SüdwestenSüdwesten, lebten am Ende des Jahrhunderts noch auf dem Land ihrer Vorfahren. Die Krise nahm existenzbedrohende Ausmaße an: Der Zensus von 1890 verzeichnete in den gesamten USA noch knapp 250.000 Indianer, und bis zur nächsten Volkszählung von 1900 sank die Urbevölkerung auf unter 240.000 ab, was ihren historischen Tiefpunkt markierte. Die Native AmericansNative AmericansGilded Age hatten ihre kulturelle Identität weitgehend verloren, und ihre physische Existenz hing von den Zuwendungen der Bundesregierung und den Spenden wohltätiger Organisationen ab. Die stille Hoffnung mancher Amerikaner, das Indianerproblem werde sich bald „von selbst erledigen“, ging jedoch nicht in Erfüllung. Wider Erwarten fanden die Überlebenden der Indianerkriege die Kraft, durch Anpassung an die veränderte Lage und Rückbesinnung auf alte Stammestraditionen der Gefahr einer vollständigen ethnischen Auslöschung zu entgehen.

      5 Der Aufstieg der USA zur führenden Industriemacht

      Besonderheiten der amerikanischen IndustrialisierungWirtschaftIndustrialisierungGilded Age

      Der säkulare wirtschaftliche Wachstums- und Modernisierungsprozess, der die Geschichte der Vereinigten Staaten im Grunde seit ihrer Entstehung bestimmte, trat nach dem Bürgerkrieg in eine neue Phase: Im Innern wurde die Industrie zum beherrschenden Sektor, und im Weltzusammenhang rückten die USA von der Peripherie des kapitalistischen Systems allmählich näher zum Zentrum. Bereits 1851, anlässlich der ersten Weltausstellung in LondonLondon, hatte es ein Kommentator im EconomistEconomist für „so sicher wie die nächste Sonnenfinsternis“ gehalten, dass die USA letztlich EnglandGroßbritannien überflügeln würden. Unter Wissenschaftlern ist immer noch umstritten, ob der BürgerkriegBürgerkrieg diese Entwicklung beschleunigte oder eher etwas verzögerte; im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts brach sie sich jedenfalls stürmisch Bahn. Wenn in diesem Zusammenhang von einem amerikanischen „ExzeptionalismusExzeptionalismus“ gesprochen wird, dann meint das vor allem zwei generelle Trends: Erstens vollzog sich die forcierte IndustrialisierungIndustrialisierungGilded AgeIndustrialisierung in den USA dezentraler und weniger staatlich gelenkt oder reguliert als in fast allen anderen Ländern; es entstand deshalb auch kein bürokratischer Leviathan in Gestalt eines übermächtigen Zentralstaates, der die Freiheit seiner Bürger bedrohen konnte. Zweitens gab es zwischen kapitalistischer Marktwirtschaft und politischer Demokratie zwar erhebliche Spannungen, aber keinen unüberwindlichen Gegensatz. Obwohl die Interessenkonflikte an Zahl und Härte zunahmen, blieb eine Spaltung der Gesellschaft in klar unterscheidbare, sich prinzipiell bekämpfende Klassen aus. Werner SombartsSombart, Werner Frage aus dem Jahr 1906, warum es in den USA keinen Sozialismus gebe, wird heute in erster Linie mit dem Hinweis auf die vielfach fragmentierte, pluralistische Einwanderergesellschaft der Vereinigten Staaten beantwortet. Immer noch im Gespräch ist auch der Erklärungsansatz von SombartsSombart, Werner Kollegen Max WeberWeber, Max, der einen Zusammenhang zwischen den religiös-kulturellen Sprüngen der USA und ihrer WirtschaftsordnungWirtschaft postulierte. Seine 1920 veröffentlichte Schrift „Die protestantische Ethik und der Geist des KapitalismusDie protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1920)“ entfaltete ähnlich weitreichende Wirkungen wie TurnersTurner, Frederick J. Frontier-TheseFrontier-These. Gewiss spielte aber auch die amerikanische Verfassungstradition eine wichtige Rolle, die den Menschen die Überzeugung vermittelte, alle notwendigen Änderungen und Anpassungen könnten ohne revolutionäre Umwälzungen unter Berufung auf die Prinzipien der UnabhängigkeitserklärungUnabhängigkeitserklärung und im Rahmen der 1787/88 geschaffenen Ordnung vorgenommen werden. Trotz gelegentlich heftiger Kritik an den Erscheinungsformen des Kapitalismus stand die Verwirklichung eines alternativen Wirtschafts- und Gesellschaftskonzepts in den USA deshalb niemals ernsthaft zur Debatte.

      Der seit Beginn des Jahrhunderts bekannte Kreislauf von Aufschwung und Krise, Boom und Bust, setzte sich nach 1865 in noch schnellerer Folge fort. In jedem Jahrzehnt war ein mehr oder minder harter und lang anhaltender wirtschaftlicher Einbruch zu verzeichnen: 1866/67; 1873–1878; 1884–1887; 1893–1897WirtschaftAspekteDepression der 1890er. Die komplexen Ursachen solcher KonjunkturzyklenWirtschaft blieben selbst den gebildeten Zeitgenossen verborgen, und die Panik, mit der Unternehmer und Gläubiger auf wirtschaftliche Schwankungen reagierten, verschlimmerte regelmäßig ihre Folgen. Selbst unter heutigen Wirtschaftshistorikern sind die relative Gewichtung und das Zusammenwirken der verschiedenen Faktoren noch umstritten. Es lässt sich allerdings bereits für diese Zeit eine lebhafte Wechselwirkung zwischen rein inneramerikanischen Investitions-, Produktions- und Konsumentscheidungen und den weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen – etwa im Bereich der Rohstoffpreise und der internationalen Kreditbedingungen – beobachten.

      Die Wirtschaftskrisen verursachten enorme soziale Härten, aber sie konnten den Wachstumstrend stets nur kurzfristig bremsen. Die Dynamik der IndustrialisierungIndustrialisierungGilded AgeIndustrialisierung lässt sich am besten an der starken Zunahme der gesamten Arbeiterschaft (work force) und an der dramatischen Verschiebung vom Agrar- zum Industriesektor ablesen: Die Zahl der Arbeitskräfte in der Industrie und anderen nichtagrarischen Berufen betrug 1870 ca. 6 Millionen (bei einer arbeitsfähigen Bevölkerung von knapp 13 Millionen); 1900 waren dagegen (bei einer auf etwa 30 Millionen Menschen gestiegenen ArbeiterschaftArbeiter) schon mehr als 18 Millionen Amerikaner im industriellen Sektor tätig; 1910 zählten 37,5 Millionen Menschen zur work force, von denen mehr als zwei Drittel (25,7 Millionen) im industriellen Sektor arbeiteten. In den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts zeigten alle volkswirtschaftlich relevanten Indikatoren steil nach oben: Der Wert der produzierten Güter stieg von ca. 3 Mrd. Dollar 1870 auf über 13 Mrd. Dollar 1900; das Bruttosozialprodukt verdreifachte sich zwischen 1869 und 1896; das Nationalvermögen wuchs von 1860 bis 1900 um 550 Prozent, das Pro-Kopf-Einkommen von 1860 bis 1890 um 150 Prozent, das Nettoeinkommen der IndustriearbeiterIndustrialisierungGilded AgeArbeiter im selben Zeitraum um 50 Prozent; die Produktivität pro Kopf und Arbeitsstunde konnte gegen Ende des Jahrhunderts im Durchschnitt jedes Jahr um ein Prozent erhöht werden; und der Wert aller Exporte kletterte von 234 Millionen Dollar 1865 auf 2,5 Mrd. Dollar 1900, wobei ab 1896 regelmäßig Exportüberschüsse erzielt wurden. An der Wende zum 20. Jahrhundert war LondonLondon zwar immer noch das Handels- und Finanzzentrum der Welt; in Bezug auf die Industrieproduktion hatten die USA aber bereits GroßbritannienGroßbritannien und das – ebenfalls rasch aufstrebende – Deutsche Reich hinter sich gelassen. Aus der überwiegend agrarischen Union war eine führende IndustrieWirtschaftIndustrialisierungGilded Age- und Exportnation geworden; das traditionelle Schuldnerland USA führte nun selbst Kapital aus und war auf dem besten Weg, zum Gläubigerland zu werden.

      Die Bedingungsfaktoren der wirtschaftlichenWirtschaft Expansion

      Nach dem BürgerkriegBürgerkrieg setzte wieder starkes BevölkerungswachstumBevölkerungsentwicklung ein, hervorgerufen durch eine sehr hohe Geburtenrate in Verbindung mit der „zweiten Welle“ der MasseneinwanderungEinwanderungGilded Age. Zwischen 1870 und 1890 schnellte die Einwohnerzahl der USA von 40 auf über 60 Millionen Einwohner empor, wobei knapp ein Drittel des Zuwachses auf das Konto der Immigration ging. Die großen Schifffahrtslinien boten immer billigere Atlantikpassagen an, und in den USA lockten wie eh und je günstiges Farmland, hohe Löhne, politische Freiheit und religiöse Toleranz. Die FreiheitsstatueFreiheitsstatue des französischenFrankreichBeziehungen bis 1919 Bildhauers Frédéric Auguste BartholdyBartholdy, Frédéric Auguste, die 1886 im Hafen von New YorkNew York City eingeweiht wurde, verkörperte die Hoffnung, dass die USA ein „offenes“ Land und eine Zufluchtsstätte für die Armen, Unterdrückten und Ausgestoßenen der Welt bleiben würden. Die monumentale Figur der Liberty war ein Geschenk der Französischen Republik an die USA, das die traditionelle Freundschaft der beiden Länder seit dem UnabhängigkeitskriegUnabhängigkeitskrieg bekräftigen sollte. In das Innere