Anke Ortlepp

Geschichte der USA


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HarrisonHarrison, Benjamin – rasch in Vergessenheit gerieten, standen ganz im Schatten des selbstbewussten Kongresses. Als Konsequenz des „BeutesystemsSpoils System“ der Postenvergabe wurde ein großer Teil ihrer Arbeitskraft von der Ämterpatronage in Anspruch genommen, zumal die Zahl der Regierungsangestellten zwischen 1860 und 1900 von etwa 36.000 auf über 200.000 anstieg. Für James GarfieldGarfield, James hatte diese Praxis fatale Folgen, als sich 1881, ein Jahr nach seiner Wahl, ein übergangener Bewerber mit tödlichen Schüssen an ihm rächte.

      Die Bereitschaft der Präsidenten, sich mit der Rolle eines Ausführungsorgans abzufinden, führte dazu, dass man vom congressional governmentCongressional Government (1885) sprach. Der spätere Präsident Woodrow WilsonWilson, Woodrow wollte aus der Not sogar eine Tugend machen und empfahl eine Anpassung des amerikanischen Verfassungssystems an die parlamentarische Regierungsweise GroßbritanniensGroßbritannien. Da die Tätigkeit des Präsidenten selten über Routine hinausgehe, schrieb er in seiner 1885 veröffentlichten Dissertation Congressional Government, könne man das Präsidentenamt ohne weiteres zu einem reinen Verwaltungsposten und seine Inhaber zu Beamten auf Zeit reduzieren. Der gelehrte Schotte James BryceBryce, James, der die USA mehrfach besuchte und dessen Buch American CommonwealthAmerican Commonwealth (1888) (1888) umgehend mit TocquevillesTocqueville, Alexis de Klassiker Democracy in America verglichen wurde, gelangte zu einem ähnlichen Urteil. Potenziell besaß das Präsidentenamt seiner Meinung nach zwar eine große Autorität, doch tatsächlich waren die Männer im Weißen Haus – zumindest in Friedenszeiten – eher Geschöpfe ihrer Parteien und Gefangene der mechanischen Regierungsabläufe. Sie konnten keine langfristigen politischen Konzepte entwickeln und nahmen weniger Einfluss auf die Gesetzgebung als die Sprecher des RepräsentantenhausesRegierungssystemRepräsentantenhaus.

      Tatsächlich blieb die Schwäche der Präsidentschaft aber eine vorübergehende Erscheinung, die auch damit zu tun hatte, dass sich die Aktivitäten der Bundesregierung insgesamt – trotz des bürokratischen Wachstumsschubes seit 1860 – noch in engen Grenzen hielten. Dazu trug das prekäre regionale Gleichgewicht zwischen Norden und SüdenSüden ebenso bei wie die Tendenz des Supreme CourtSupreme Court, die Befugnisse des Kongresses eng auszulegen. Die Mehrheit der Richter sah es in dieser Periode als ihre Hauptaufgabe an, das Recht auf Eigentum, das im 5. und 14. Amendment garantiert war, gegen staatliche Eingriffe zu verteidigen. Indem sie auch Aktiengesellschaften den Status von „Personen“ zuerkannten, die Grundrechtsschutz beanspruchen konnten, förderten sie die Tendenz zum laissez faire-Kapitalismus. Wirtschaftsregulierungen ließen sie nur zu, wenn die Zuständigkeit des Kongresses eindeutig war (wie im Bereich des staatenübergreifenden Verkehrs) oder wenn die Parlamente der Einzelstaaten auf Grund ihrer Zuständigkeit für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (state police power) aktiv wurden. So blieb etwa ein Gesetz des Staates IllinoisIllinois unbeanstandet, das den Besitzern von Getreidespeichern vorschrieb, zu welchem Preis sie Getreide ankaufen durften (Munn v.IllinoisMunn v.Illinois (1877), 1877). Generell verstand sich das Oberste Gericht, dessen Mitglieder ihre prägenden Erfahrungen zumeist in der Zeit vor dem BürgerkriegBürgerkrieg gesammelt hatten, weiterhin als Verteidiger der bürgerlichen FreiheitenGesellschaftGilded Age gegen eine übermächtige Staatsgewalt. In der Wirklichkeit des Gilded AgeGilded Age ging die eigentliche Gefahr für die gesellschaftlicheGesellschaftGilded Age Stabilität aber nicht vom Staat aus, sondern von der wachsenden Übermacht privater Wirtschaftsinteressen. Die mangelnde Fähigkeit oder Bereitschaft, dem Faktum des raschen ökonomischen und sozialen Wandels im Zuge der IndustrialisierungIndustrialisierungGilded AgeIndustrialisierung intellektuell Rechnung zu tragen, teilten die Richter allerdings mit weiten Teilen der amerikanischen Bevölkerung.

      Eine Reihe potenziell wichtiger staatlicher Aufgaben wie die Regelung der Rassenbeziehungen oder die soziale Absicherung der Unterschichten (die BismarckBismarck, Otto v. im Deutschen Reich um diese Zeit mit der Sozialversicherungsgesetzgebung einleitete) konnte die amerikanische Bundesregierung also entweder verfassungsrechtlich nicht erfüllen oder nahm sie aus politisch-ideologischen Gründen gar nicht erst in Angriff. Während der deutsche Ansatz eine Verhinderung der Armut durch bürokratischen Versicherungszwang und Sparkassenwesen beabsichtigte und damit auf die Prinzipien der modernen Sozialstaatlichkeit vorauswies, behielten die USA (abgesehen von den bundesstaatlichen Zuwendungen an Veteranen der Unionsarmee und ledige Mütter) einen dezentralen Kurs bei, der auf das Assoziations- und Vereinswesen sowie die einzelstaatliche und gemeindliche Fürsorge und Selbsthilfe vertraute. In anderen Bereichen, etwa bei der Beamtenreform und beim Kampf gegen Wettbewerbseinschränkungen, begnügte sich der Kongress mit halbherzigen, wenig effektiven Maßnahmen. Die beherrschenden, am heftigsten umstrittenen nationalen Themen waren unter diesen Umständen die Zollgesetzgebung sowie die Währungs- und Finanzpolitik. In der Zollfrage setzten sich im Wesentlichen die RepublikanerRepublikanische ParteiGilded Age u. Progressivismus durch, die für hohe Einfuhrzölle zum Schutz der heimischen Industrie plädierten. Vom Anstieg der Zolltarife profitierten die Unternehmer im Norden und WestenWesten zweifellos mehr als die Farmer und Pflanzer desLandwirtschaft2. Hälfte 19.Jh. Südens, die zur Klientel der DemokratischenDemokratische ParteiGilded Age u. Progressivismus Partei zählten. Finanziell befanden sich die USA eigentlich in einer ausgezeichneten Situation, denn die Ausgaben des Bundes waren niedrig (am meisten wurde noch für BürgerkriegspensionenBürgerkrieg aufgewendet), und die Zölle brachten so viel Geld in die Staatskasse, dass sich in den meisten Jahren ein Haushaltsüberschuss ergab, mit dem die Kriegsschulden abgezahlt werden konnten. Erhebliche Probleme bereitete aber der weltweite kontinuierliche Rückgang der Erzeugerpreise für Rohstoffe und IndustrieprodukteIndustrialisierungGilded Age, der eine Deflationsspirale in Gang setzte. Die wachsende Geldknappheit, die der ländlichen Bevölkerung besonders schwer zu schaffen machte, löste Forderungen aus, die USA sollten sich von dem 1873 eingeführten internationalen GoldstandardGoldstandard lösen und Silber wieder als Währungsreserve anerkennen. Bei den DemokratenDemokratische ParteiGilded Age u. Progressivismus stieß dieses Verlangen nach einer Inflations- bzw. Anti-Deflationspolitik auf größeres Verständnis als bei den RepublikanernRepublikanische ParteiGilded Age u. ProgressivismusRepublikanische ParteiGilded Age u. Progressivismus, die den Preisrückgang durch Überproduktion verursacht sahen und den Goldstandard verteidigten. Der Kongress behalf sich zunächst mit Kompromissmaßnahmen, die den Geldumlauf erhöhen sollten, ohne den Goldstandard aufzuweichen. In der Krise der 1890er Jahre griff der Streit zwischen Gold- und Silberbefürwortern dann vom Kongress auf die breite Öffentlichkeit über und wurde zum alles beherrschenden Wahlkampfthema.

      Soziale AusgrenzungGesellschaftGilded Age und rechtliche Diskriminierung der AfroamerikanerAfroamerikanerGilded Age in den Südstaaten

      Große Teile des öffentlichen Lebens spielten sich im Gilded AgeGilded Age außerhalb der Sphäre der Bundesregierung in den Einzelstaaten und Gemeinden oder gewissermaßen im „staatsfreien Raum“ des dual federalismdual federalism ab. Der Rassenkonflikt im SüdenSüden, der Kampf ums FrauenwahlrechtFrauenWahlrechtWahlrechtFrauen und für TemperenzTemperenzbewegung, der Zusammenprall der Interessen von Unternehmern und ArbeiternArbeiterGilded Age und der agrarische Protest der Populisten fanden in der Hauptstadt WashingtonWashington, D.C. verhältnismäßig wenig Widerhall. Diese sozialen Konflikte und Bewegungen berührten das Schicksal von Millionen Amerikanern aber oft weit unmittelbarer als so manche Entscheidung, die auf dem Capitol Hill oder im Weißen Haus getroffen wurde.

      Zwischen 1860 und 1890 verdoppelte sich die Zahl der AfroamerikanerBevölkerungsentwicklungAfroamerikanerBevölkerungsentwicklungAfroamerikanerGilded AgeAfroamerikanerBevölkerungsentwicklung von 4,4 auf 8,8 Millionen, wobei der Anteil an der Gesamtbevölkerung allerdings um 3 auf 13 Prozent abnahm. Die weit überwiegende Zahl der Schwarzen lebte nach wie vor im SüdenSüden, und hier verschlechterte sich ihre Situation nach den Anfangserfolgen von EmanzipationAfroamerikanerEmanzipation und RekonstruktionAfroamerikanerRekonstruktion rapide. Die Gründe für das Ausbleiben einer wirklich tief greifenden Neuordnung der Rassenbeziehungen waren vielfältiger Art. ÖkonomischLandwirtschaft2. Hälfte 19.Jh. erlebte der Süden nach dem Krieg keinen Aufschwung, sondern verharrte – vor allem wegen der fallenden Weltmarktpreise für BaumwolleBaumwolle – in einer Dauerkrise. Die Sklavenarbeit auf den Plantagen wurde durch Pachtverhältnisse, hauptsächlich jedoch durch das System des sharecroppingsharecroppers