Anke Ortlepp

Geschichte der USA


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und zeitweise missionarische und aggressive Züge annahm. Andererseits blieben antiimperialistische Strömungen in der amerikanischen Bevölkerung einflussreich genug, um die Errichtung eines formalen Kolonialreiches nach europäischem Vorbild zu verhindern. In den USA ging auch – anders als bei den meisten übrigen Großmächten – die imperialeAußenpolitikImperialismus Außenpolitik mit einem angestrengten Bemühen um innenpolitische Reformen Hand in Hand. Diese Eruption von reformerischen Energien sparte allerdings einige gesellschaftliche Bereiche, wie die Rassenbeziehungen, weitgehend aus und zeitigte in anderen, wie dem Kampf gegen den Alkohol, unerwartete und unerwünschte Resultate. Nach dem Eintritt in den Ersten WeltkriegErster Weltkrieg 1917 erlahmte der reformerische Schwung, und unter der charismatischen Führung Präsident Woodrow WilsonsWilson, Woodrow wurden alle Energien in den Dienst einer großen Aufgabe gestellt: das Deutsche Reich und seine Verbündeten zu besiegen und den Weltfrieden dauerhaft zu sichern. Noch im Verlauf des Krieges sahen sich die USA jedoch durch die russische RevolutionRusslandRussische Revolution mit einer neuen politisch-ideologischen Herausforderung konfrontiert, die ihren Führungsanspruch und ihre innere Stabilität in Frage stellte.

      1 Der Eintritt der USA in die Weltpolitik

      Grundlagen und Motive einer amerikanischen GroßmachtpolitikAußenpolitikImperialismus

      In den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts schufen BevölkerungswachstumBevölkerungsentwicklung und IndustrialisierungIndustrialisierungProgressivismus die materiellen Voraussetzungen für ein machtpolitisches Ausgreifen der USA über die „natürlichen“ kontinentalen Grenzen hinaus. Gleichzeitig begann sich – nicht zuletzt unter dem Eindruck der periodisch auftretenden Wirtschaftskrisen – die Auffassung durchzusetzen, dass ökonomische Prosperität und gesellschaftliche Ordnung von der Eroberung und Sicherung überseeischer Märkte abhingen. Dies wiederum erforderte eine starke Handels- und Kriegsflotte und eine zusammenhängende, in sich schlüssige außen- und militärpolitische Strategie.

      Zwischen 1865 und der Jahrhundertwende hatte sich die amerikanische Bevölkerung von knapp 37 auf 76 Millionen mehr als verdoppeltBevölkerungsentwicklung, und kurz nach dem Kriegsausbruch in Europa überschritt die Einwohnerzahl der USA 1915 die 100 Millionen-Grenze. Hinter dieser Dynamik blieb selbst die neue europäische Großmacht DeutschlandDeutschlandBeziehungen zu Deutschland vor 1949Vor dem Ersten Weltkrieg zurück, deren Bevölkerung zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg von 40 auf 70 Millionen stieg. Einen gewichtigen Beitrag zum amerikanischen BevölkerungswachstumBevölkerungsentwicklung leistete wieder die EinwanderungEinwanderungnew immigration, die ab der Jahrhundertwende auf absolute Rekordzahlen kletterte und von 1900 bis 1914 ca. 13 Millionen Menschen in die USA brachte. Im Zeitraum von 1870 bis 1914 nahmen die USA insgesamt 25 Millionen Menschen in einer der größten Wanderungsbewegungen der Weltgeschichte auf. Bei der Volkszählung von 1910 erreichte der Anteil der im Ausland geborenen Amerikaner mit 14,8 Prozent seinen historischen Höchststand. Die sinkenden Reisekosten auf der Atlantikroute eröffneten jetzt die Möglichkeit, nur noch vorübergehend zum Geldverdienen nach Amerika zu kommen und eventuell sogar mehrmals als eine Art „Gastarbeiter“ (bird of passage) zwischen Europa und den USA hin- und herzufahren. Während der Zustrom aus den traditionellen Herkunftsländern West- und Mitteleuropas und SkandinaviensEinwanderungEthnienSkandinavierSkandinavien allmählich versiegte – das Deutsche ReichDeutschlandBeziehungen zu Deutschland vor 1949Vor dem Ersten Weltkrieg wurde in dieser Zeit selbst zum Einwanderungsland –, stammten die „neuen Immigranten“ vorwiegend aus Süd- und OsteuropaEinwanderungEthnienJuden, Osteuropäer. Die meisten von ihnen bevölkerten bald die Städte im „Dreieck der Hoffnung“, das von den Neuenglandstaaten im NordostenNordosten, MissouriMissouri (Staat) im Mittleren WestenMittlerer Westen und der Hauptstadt WashingtonWashington, D.C., D.C., im Südosten begrenzt war.

      Das amerikanische BruttosozialproduktWirtschaft verdreifachte sich von 1870 bis 1900, und im selben Zeitraum verfünffachte sich die industrielle Produktion. Der Wert der Ausfuhren stieg in den 1870er Jahren von 500 Millionen auf knapp 1 Milliarde Dollar pro Jahr, verharrte bis 1896 in etwa auf dieser Höhe und explodierte dann geradezu auf ca. 1,5 Mrd. im Jahr 1900, ca. 2 Mrd. Dollar 1910 und ca. 3 Mrd. 1915. Einer ähnlichen Kurve folgten die Einfuhrwerte, wobei jedoch die Ausfuhrüberschüsse ab 1896 zunahmen. Im späten 19. Jahrhundert wurden zwar insgesamt weniger als 10 Prozent der amerikanischen Produktion exportiert, aber in der LandwirtschaftLandwirtschaft2. Hälfte 19.Jh. waren es 20 Prozent, und bei einzelnen agrarischen Produkten wie BaumwolleBaumwolle, Weizen und Tabak lag der Exportanteil noch viel höher. Kaum anders verhielt es sich mit der IndustrieproduktionIndustrialisierungProgressivismus, die einen wachsenden Teil der Gesamtexporte ausmachte (1880 15 Prozent, 1900 dagegen schon über 30 Prozent): Insgesamt gingen im Jahr 1900 nur 9 Prozent der amerikanischen Rohstoffe und IndustriegüterIndustrialisierungProgressivismus in den Export, aber für einzelne Branchen wie Eisen und Stahl (15 Prozent), Nähmaschinen (25 Prozent), Kupfer (50 Prozent) und ErdölprodukteErdöl (57 Prozent) waren die Ausfuhren von großer Bedeutung. Aus gesamtwirtschaftlichenWirtschaft Gründen blieb der Export auch deshalb so wichtig, weil die USA für ihre Entwicklung weiterhin ausländisches Investitionskapital benötigten und die anfallenden Zinsen nur aufbringen konnten, wenn sie eine aktive Handelsbilanz erzielten.

      Abb. 13: Der Anteil der USA an der weltweiten Industrieproduktion: 1870 und 1913

      Die Krise der 1890er Jahre mit ihren gefährlichen Folgen für den inneren Frieden und die soziale Stabilität führten viele Amerikaner auf „Überproduktion“ und eine „SättigungWirtschaft“ des Binnenmarktes zurück, die nur durch steigende Exporte ausgeglichen werden konnten. Da sich die europäischen Mächte (wie die USA selbst) mit hohen Zollmauern umgeben hatten und darüber hinaus seit den 1880er Jahren AfrikaAfrika praktisch unter sich aufteilten, schienen den Vereinigten Staaten nur noch in LateinamerikaLateinamerika und AsienAsien zukunftsträchtige Märkte offen zu stehen. Aber selbst hier drohten Konkurrenten wie GroßbritannienGroßbritannien, DeutschlandDeutschland, RusslandRussland und JapanJapanImperialismus, die den USA militärisch weit überlegen waren, die amerikanischen Interessen an den Rand zu drängen. All das ließ es geraten erscheinen, dass die Amerikaner den Blick stärker nach außenAußenpolitikImperialismus richteten und auf der weltpolitischen Bühne zielstrebiger und offensiver auftraten.

      Obwohl sich diese Probleme bereits im Gilded AgeGilded Age abzeichneten, betrieben die amerikanischen Regierungen AußenpolitikAußenpolitikImperialismus zunächst nur kurzatmig und ohne ein klares Konzept. In der Amtszeit von Präsident Chester A. ArthurArthur, Chester A. (1881–1885) war zwar in sehr bescheidenem Umfang mit der Modernisierung der Kriegsflotte begonnen worden, die noch vorwiegend aus Holzschiffen bestand, und im Pazifik hatten sich die USA einige Inselstützpunkte, unter anderem auf SamoaSamoa (in Absprache mit DeutschlandDeutschland und EnglandGroßbritannien) und auf MidwayMidway-Inseln verschafft. Weiter gehende ExpansionsbestrebungenAußenpolitikImperialismus im Pazifik (HawaiiHawaii) und in der KaribikKaribik (KubaKuba, Virgin IslandsVirgin Islands, Dominikanische RepublikDominikanische Republik) fanden aber kein öffentliches Interesse und stießen im Kongress auf Ablehnung. Es blieb einem unscheinbaren Offizier der US Navy, Captain Alfred T. MahanMahan, Alfred T., vorbehalten, die intellektuellen Konsequenzen aus dem Aufstieg der USA zur Industriemacht und der dadurch veränderten Weltlage zu ziehen. In seinem 1890 veröffentlichten Werk The Influence of Seapower Upon HistoryThe Influence of Seapower Upon History (1890), zu dem ihn die Beschäftigung mit der römischen Geschichte inspiriert hatte, forderte er dazu auf, die Weltmeere nicht länger als Barrieren, sondern als die großen Verkehrsadern der Zukunft zu betrachten. Ihre Kontrolle und Beherrschung würden das Schicksal der Völker und Staaten entscheiden, was aus amerikanischer Sicht eine leistungsfähige Handelsflotte und eine mächtige Kriegsflotte erfordere. Wie andere Politiker und Militärs vor ihm, forderte MahanMahan, Alfred T. den Bau einer Verbindung zwischen Atlantik und Pazifik durch Zentralamerika nach dem Vorbild des 1869 eröffneten Suezkanals. Für ihn war dieses Projekt aber nur Teil einer größeren geostrategischen Vision, in der er den Flottenbau, die Sicherung des freien Zugangs zu überseeischen Märkten, die Annexion Hawaiis und die Gewinnung von weiteren Stützpunkten in der Karibik und im Pazifik zu einem kohärenten, in sich schlüssigen Gesamtkonzept zusammenfügte. Dieser