Christian Rohr

Historische Hilfswissenschaften


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neue Lehrstühle geschaffen werden, keine Daseinsberechtigung mehr?

      Auf den ersten Blick haben die Historischen Hilfswissenschaften ein Legitimierungsproblem bekommen, sowohl innerhalb der Historischen Institute als auch innerhalb der zuständigen Fakultäten. Es entsteht mitunter der Eindruck, dass hilfs­wissenschaft­liche Forschungen nur l’art pour l’art aus dem Elfenbeinturm sind, die vielleicht gerade noch an den Akademien auf Sparflamme weiterköcheln dürfen. Doch was haben die Vertreter dieser Disziplin falsch gemacht, dass sie so in die Defensive geraten sind? Warum verschwinden die Hilfswissenschaften selbst aus dem Anforderungsprofil für Professuren zur mittelalter­lichen und frühneuzeit­lichen Geschichte? Warum wirkt auf viele die Arbeit mit Archivquellen als altmodisch und verstaubt?

      Es scheint, dass die Historischen Hilfswissenschaften ein Problem damit haben, ihre Relevanz für die historische Forschung – und darüber hinaus – deut­lich genug aufzuzeigen. Doch auch in Zeiten fortschreitender Sparmaßnahmen bleibt es wichtig, eine umfassende Grundlagenforschung zu Urkunden, Akten und Handschriften nicht aus dem Auge zu verlieren. Bei genauerer Betrachtung haben die Hilfswissenschaften mancherorts ein neues Mäntelchen bekommen: Man spricht lieber von „Digital Humanities“, womit zu einem nicht unbeträcht­lichen Teil die Historischen Hilfswissenschaften im Zeitalter der elektronischen Datenaufbereitung gemeint ist. Dass die Neuen Medien heute aus den Historischen Hilfswissenschaften nicht mehr wegzudenken sind, steht außer Frage und soll auch in diesem Buch hervorgestrichen werden. Ebenso soll die anwendungsorientierte Seite der Historischen Hilfswissenschaften betont werden. [<<11]

      Mit der Frage nach den Anwendungsgebieten der Historischen Hilfswissenschaften stellt sich auch die Frage, ob man besser von Grundwissenschaften oder Hilfswissenschaften sprechen sollte – beide Begriffe sind im deutschen Sprachraum üb­lich, deuten aber auf eine etwas unterschied­liche Sichtweise hin. Die ursprüng­liche Bezeichnung „Historische Hülfswissenschaften“ wurde 1761 in Johann Christoph Gatterers „Handbuch der Universalhistorie“ erstmals verwendet, doch war schon zuvor in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mitunter von elementa et adiumenta historica oder auxilia historica die Rede. Seit 1939 Karl Brandi den Begriff „Grundwissenschaften“ vorgeschlagen hat, um den eigenständigen Wert dieser Subdisziplinen zu betonen, hat sich eine lange Kontroverse in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft entwickelt. Der Terminus „Grundwissenschaften“ betont in erster Linie, dass mit diesen Teildisziplinen auch für sich stehende Grundlagenforschung betrieben werden soll, die dann anwendungsorientierten Fragestellungen zur Verfügung steht. Die Bezeichnung „Hilfswissenschaften“ hingegen stellt die subsidiäre Funktion dieser Fächer in den Vordergrund. Sie sind nur bis zu einem gewissen Grad Forschungsobjekt an sich, sie können aber, ja sie müssen die Basis für eine korrekte Erschließung der Quellen bilden. Sie sind Subdisziplinen aus der Tradition der Geschichtswissenschaft, aber sie können als Hilfwissenschaft nicht nur dieser selbst, sondern auch vielen anderen Nachbarfächern dienen: der Kunstgeschichte ebenso wie der Archäologie und den Philologien, aber selbst den Naturwissenschaften, wenn es um Siedlungsforschung oder um die Rekonstruktion von historischen Klimaverläufen auf der Basis von Dokumentendaten geht. Die Benennung als Hilfswissenschaft soll jedoch in keiner Weise als abwertend verstanden werden, denn gerade im Rahmen interdisziplinärer Arbeit sind die jeweiligen Fächer stets einander Hilfswissenschaft, also die Kunstgeschichte eine Hilfswissenschaft der Geschichte und umgekehrt etc. Interdisziplinarität kann nur funktionieren, wenn keine Disziplin eine Führungsrolle, einen Status als „Königsdisziplin“ für sich beanspruchen will. Besonders aus diesen Überlegungen wird in dieser Darstellung der Bezeichnung „Historische Hilfswissenschaften“ der Vorzug gegeben.

      Die Ergebnisse aus den Historischen Hilfwissenschaften sind aber auch per se für die allgemeine Kulturgeschichte wichtig. So liefert die Paläographie wesent­liche Aussagen über die Rolle des Schreibens und Lesens, ja allgemein über schrift­liche Kommunikationsformen. Gleich mehrere Teildisziplinen der Historischen Hilfswissenschaften bilden die Grundlage für die Repräsentationsforschung. Historisches Kartenmaterial ermög­licht Einblicke in das jeweilige Weltbild einer Epoche. Wirtschaftsgeschicht­liche Fragestellungen sind ohne die Kenntnisse aus der Münz- und Geldgeschichte sowie der Metrologie (Maßkunde) undenkbar. [<<12]

      Nach einem kursorischen Einblick in die Quellenkunde, konzentriert auf hilfs­wissenschaft­liche Fragestellungen, werden zunächst die beiden „großen“ Hilfswissenschaften Diplomatik (Urkundenlehre) und Paläographie (Schriftenkunde) ausführ­licher vorgestellt. In diese Großkapitel ist die Behandlung einiger weiterer, kleinerer Hilfswissenschaften wie der Sphragistik (Siegelkunde), Chronologie (Zeitrechnung) und Kodikologie (Handschriftenkunde) inseriert. Ein weiterer Abschnitt setzt sich mit der Archiv- und Aktenkunde auseinander. Diesem folgen Ausführungen zu hilfs­wissenschaft­lichen Aspekten der Historischen Geographie sowie zu weiteren „kleinen“ Hilfswissenschaften: Numismatik (Münzkunde), Metrologie (Maßkunde), Heraldik (Wappenkunde) und Genealogie (Familien- und Abstammungskunde). Ein letztes Kapitel thematisiert die Rolle der Historischen Hilfswissenschaften im Zeitalter von elektronischen Datenbanken und Internet. Da dieser Bereich in den letzten Jahren eine besondere Dynamik erhalten halt, kann die hier gegebene Darstellung zu diesem Thema nur exemplarisch sein und eine Momentaufnahme darstellen. Der zeit­liche Rahmen der behandelten Quellen erstreckt sich jeweils vom Frühmittelalter bis zum frühen 20. Jahrhundert, wobei auch einzelne Rückgriffe in die Antike und Vorgriffe bis in die heutige Zeit vorgenommen werden. Es versteht sich von selbst, dass es sich hier nur um eine Einführung handeln kann. Literaturangaben am Ende jedes (Teil-)Kapitels verweisen auf Handbücher, weitere Einführungen und ausgewählte Spezialliteratur.

      Literatur

      Beck, Friedrich; Henning, Eckart (Hg.): Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die historischen Hilfswissenschaften, 5. erw. u. akt. Aufl. (UTB 8273), Köln/Weimar/Wien 2012.

      Brandi, Karl: Die Pflege der historischen Hülfswissenschaften in Deutschland (Geistige Arbeit 6,2), Berlin 1939.

      Delort, Robert: Introduction aux sciences auxiliaires de l’histoire (Collection U – Série Histoire médiévale), Paris 1969.

      Diederich, Toni; Oepen, Joachim (Hg.): Historische Hilfswissenschaften. Stand und Perspektiven der Forschung, Köln 2005.

      Gatterer, Johann Christoph: Handbuch der Universalhistorie nach ihrem gesamten Umfange. Von Erschaffung der Welt bis zum Ursprunge der meisten heutigen Reiche und Staaten. Nebst einer vorläufigen Einleitung von der Historie überhaubt, und der Universalhistorie insonderheit, wie auch von den hieher gehörigen Schriftstellern, Göttingen 1761.

      Goetz, Hans-Werner: Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung, Darmstadt 1999.

      Goetz, Hans-Werner: Proseminar Geschichte: Mittelalter, 4. überarb. Aufl. (UTB 1719), Stuttgart 2014.

      Henning, Eckart: Auxilia Historica. Beiträge zu den historischen Hilfswissenschaften und ihren Wechselbeziehungen, 2. stark erw. Aufl., Köln/Weimar/Wien 2004. [<<13]

      Henning, Eckart: Hennings HIWI-Test. 175 Fragen & Antworten rund um die Historischen Hilfswissenschaften. Mit 10 Thesen über die Gemeinsamkeiten der Historischen Hilfswissenschaften, Berlin 2009.

      Kölzer, Theo: Die Historischen Hilfswissenschaften – gestern und heute, in: Archiv für Diplomatik 54 (2008), 205–222.

      Kümper, Hiram: Materialwissenschaft Mediävistik. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften (UTB L 8605), Paderborn u. a. 2014.

      Lücke, Monika: Historische Hilfswissenschaften in der Gegenwart. Anforderungen und Perspektiven. Herrn Prof. Dr. Walter Zöllner zum 65. Geburtstag (Hallische Beiträge zu den historischen Hilfswissenschaften 1), Halle 1998.

      von Brandt, Ahasver: Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die Historischen Hifswissenschaften, 17. Aufl. (Urban-Taschenbücher 33), Stuttgart 2007. [<<14]

      3 Quellenkunde

      Der Begriff Quellenkunde wird in der Regel weit gefasst. Erstens wird darunter die Frage verstanden, was man unter