Christian Rohr

Historische Hilfswissenschaften


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verbunden.

      Nach der Suche nach einer Definition von „Quelle“ wird im Folgenden das Hauptaugenmerk auf „hilfs­wissenschaft­liche“ Aspekte der Quellenkunde gelegt, etwa auf Probleme mit den Quellensprachen oder bei der Edition von Texten. Ein umfassender Überblick über einzelne Quellentypen und ihre Anwendungsmög­lichkeiten wird hier bewusst nicht geboten.

      3.1 Was versteht man unter historischen Quellen?

      Das Wort Quelle wird in der Geschichtswissenschaft in einem übertragenen Sinne verwendet: Wie man aus einer Quelle im wört­lichen Sinn (reines) Wasser schöpfen kann, so entnimmt der Historiker seinen Quellen Informationen für seine Fragestellungen an die Geschichte. Dabei ist zwischen Überlieferungen und Quellen zu unterscheiden. Nach Hans-Werner Goetz sind Überlieferungen alle Zeugnisse, die über geschicht­liche (= vergangene) Abläufe, Zustände, Denk- und Verhaltensweisen informieren, d. h. letzt­lich über alles, was sich in der Vergangenheit ereignet hat, diese kennzeichnet, von Menschen gedacht, geschrieben oder geformt wurde. Jede Überlieferung, die etwas über die Vergangenheit aussagt, ist (potenzielle) historische Quelle. Es gibt grundsätz­lich nichts, das nicht Quelle werden könnte. Ob diese brauchbar ist und ob es sich um eine bessere oder schlechtere Überlieferung handelt, entscheidet sich erst von der jeweiligen konkreten Fragestellung her. Zur „Quelle“ wird dieses Zeugnis erst unter den Händen der Historiker, die daraus Kenntnisse über die Vergangenheit gewinnen wollen. Der Begriff „Quelle“ kennzeichnet also nicht das Zeugnis an sich, sondern dessen Funktion für die Geschichtswissenschaft.

      Quellen sind in vielen Fällen nicht schon als solche geschaffen. Sie haben ursprüng­lich vielmehr ein von der Benutzung durch den Historiker unabhängiges Eigenleben [<<15] und einen Eigenwert. Sie wollen (fast immer) etwas Bestimmtes aussagen, aber nicht zwangsläufig das, was uns an ihnen interessiert.

      Daraus ergeben sich zwei Folgerungen für die praktische Arbeit: Erstens darf bei der Benutzung einer Überlieferung als Quelle niemals vergessen werden, dass sie ursprüng­lich (wahrschein­lich) ganz andere Absichten als die erfragten verfolgte, die für eine angemessene Auswertung entsprechend zu berücksichtigen sind. Zweitens ist die Überlieferung selbst nicht „die“ Vergangenheit, sondern sie gibt Zeugnis von ihr. Sie bedarf also der geschichtswissenschaft­lichen Bearbeitung, um in diesem Sinne aussagekräftig zu werden: Die methodische Erschließung der Quellen ist eine zentrale Aufgabe der Geschichtswissenschaft.

      Im Rahmen der Historischen Hilfswissenschaften sind in erster Linie die schrift­lichen, die bild­lichen und die gegenständ­lichen Quellen (in einem weiteren Sinn) von Bedeutung, wobei dieselbe Quelle in vielen Fällen mehreren Gruppen zugeordnet werden kann. So ist eine illustrierte Chronik aus dem Mittelalter sowohl Text- als auch Bildquelle, besiegelte Urkunden bieten neben der text­lichen Überlieferung auch die bild­liche und gegenständ­liche.

      Literatur

      Goetz, Hans-Werner: Proseminar Geschichte: Mittelalter, 4. Aufl. (UTB 1719), Stuttgart 2014.

      Maurer, Michael (Hg.): Aufriss der historischen Wissenschaften, 7 Bände (Reclam Universal-Bibliothek 17027–17033), Stuttgart 2001–2005, hier Band 4: Quellen.

      Rosenthal, Joel T. (Hg.): Understanding Medieval Primary Sources. Using Historical Sources to Discover Medieval Europe (Routledge Guides to Using Historical Sources), London/New York 2012.

      van Caenegem, Raoul C.; Jocqué, Lucas: Introduction aux sources de l’histoire médiévale, aktual. Aufl. (Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis), Turnhout 1997.

      3.2 Schriftliche Quellen und ihre Intention

      Für die Beurteilung und Einordnung einer schrift­lichen Quelle sind zwei Faktoren unerläss­lich: Zum einen ist nach der Intention des Autors zu fragen, die meist nicht ausdrück­lich im Text erwähnt wird, sondern anhand von Hinweisen erschlossen werden muss. Zum anderen ist eine gattungsspezifische Beurteilung vonnöten, d. h. jeder schrift­liche Quellentyp hat seine Eigenheiten, die als Richtlinie herangezogen werden müssen. Letzterer Aspekt wird weiter unten am Beispiel der Urkunden näher ausgeführt (Kapitel 4).

      Der Kommunikationswissenschafter Friedemann Schulz von Thun hat zur Unter­suchung von Gesprächen das Modell der Intentionsanalyse entwickelt, das sich – leicht adaptiert – auch sehr gut auf schrift­liche Quellen der Vergangenheit anwenden lässt. [<<16] Demnach gibt es einen Sender einer Nachricht sowie einen oder mehrere Empfänger. Versteht man schrift­liche Quellen als Nachrichten, so ist dies die einzige Überlieferung, die uns erhalten ist, während Sender und Empfänger in der Regel verstorben oder nicht greifbar sind. Nach Schulz von Thun haben Nachrichten insgesamt vier Seiten, die auf Sender und Empfänger rückschließen lassen und anhand des folgenden Beispieltextes exemplarisch vorgestellt werden.

      Der italienische Humanist Leonardo Bruni (ca. 1370–1444) reiste im Spätherbst des Jahres 1414 als Sekretär des (Gegen-)Papstes Johannes XXIII. von Norditalien zum Konzil von Konstanz. In seinem Brief an den Humanistenfreund Niccolò Niccoli inter­essierte er sich vor allem für Land und Leute im Etschtal und für die Natur der Alpen.

      „[…] Nach einer zweitägigen Reise durch dieses Tal [das Etschtal] erreichten wir Trient, eine Stadt, die sich durch eine ganz reizende natür­liche Lage auszeichnet. […] Zurecht könnte es jemanden wundern, dass sich in dieser Stadt Männer, Frauen und die übrige Bewohnerschaft, die entweder Italienisch oder Deutsch sprechen, innerhalb einer einzigen Stadtmauer aufhalten. Denn so wie jeder entweder in einem Italien oder dem oberen Gallien zugewandten Teil der Stadt wohnt, so spricht er dementsprechend auch entweder unsere oder jene Sprache. Zudem glaube ich auch, dass es sich in den Versammlungen und öffent­lichen Sitzungen dergestalt verhält, dass die einen in unserer und die anderen in barbarischer Sprache ihre Meinung abgeben – alles Bürger ein und derselben Stadt.

      Nachdem wir von Trient einige Meilen aufgebrochen waren, wurden wir von einer eigenartigen barbarischen Sitte aufs Höchste beunruhigt. Es verhält sich näm­lich folgendermaßen: Es gibt dort zahlreiche Burgen, die hoch auf dem Felsen über dem Fluss ragen und Adeligen gehören. Wenn diese nun eine größere Anzahl an Reisenden erblicken, lassen sie, wenn sich die Gruppe schon unterhalb ihrer Burg befindet, plötz­lich von der Festung die Hörner erschallen; zudem erhebt eine mög­lichst große Anzahl an Menschen von den Mauern und Befestigungen ein barbarisches Geschrei und feind­liches Geheule. Durch das unvermutete Ereignis fährt allen Menschen der Schrecken in die Glieder und es gibt wohl kaum jemandem mit so viel standhaftem Mut, dass er nicht schon aus Überraschung beunruhigt wird, besonders weil es sich um Ört­lichkeiten handelt, die bewusst für die Räuberei ausgewählt sind. Jene Burgherren glauben, dass diese barbarische und schreck­liche Sitte zum Schutz ihres Eigentums beiträgt und Menschen eher vom Unrecht ablassen werden, wenn sie schon erblickt und angeschrien wurden und dann meinen, dass sie beobachtet werden. Mir frei­lich wurde klar, durch ein feind­liches Land zu reisen […].“

      (Leonardo Bruni, Epistula 4, 3, Auszug; Übersetzung: Christian Rohr) [<<17]

      1. Objektiver und subjektiver Sachinhalt: Unter dem objektiven Sachinhalt sind Informationen zu verstehen, die mit einiger Sicherheit als zutreffend eingestuft werden können, etwa durch den Vergleich mit parallelen Quellen. So kann man etwa dem Reisebericht die Aussagen „Nach einer zweitägigen Reise durch dieses Tal [das Etschtal] erreichten wir Trient“ oder „Es gibt dort zahlreiche Burgen, die hoch auf dem Felsen über dem Fluss ragen und Adeligen gehören“ als objektiv ansehen. Schreibt der Autor hingegen „Jene Burgherren glauben, dass diese barbarische und schreck­liche Sitte zum Schutz ihres Eigentums beiträgt und Menschen eher vom Unrecht ablassen werden, wenn sie schon erblickt und angeschrien wurden und dann meinen, dass sie beobachtet werden“, so sind diese Aussagen als subjektiv einzustufen. In vielen erzählenden Quellen werden zudem Zahlenangaben häufig gerundet und sind mitunter stark untertrieben. Die Grenze zwischen objektivem und subjektivem Sachinhalt ist häufig fließend.

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