Reinhilde Stöppler

Einführung in die Pädagogik bei geistiger Behinderung


Скачать книгу

Hogenboom 2006, 85ff.)

Bezeichnung:Rett-Syndrom
Erstmals beschrieben:Andreas Rett (1966)
Häufigkeit:1:10.000 –15.000, meist nur Frauen betroffen
Ätiologie:unklar, Xq28-Chromosom
Besonderheiten in Phänotyp / Entwicklung / Verhalten:normale Entwicklung bis zum 18. Lebensmonat, danach Regression sozialer, sprachlicher und adaptiver Funktionen; bereits erreichte Bewegungsfähigkeiten gehen verloren; Störungen der Sensorik und Integration von Wahrnehmungsreizen; Entwicklung motorischer Stereotypien (Waschbewegungen der Hände, Klatschen, Kneten); motorische Ausfälle durch Ataxie und Apraxie des Gehens
häufige Erkrankungen:Anomalien der Atmung (Hyperventilation, Anhalten des Atems); Epilepsie (in 80 % der Fälle); sekundäre Mikrozephalie; etwa zwei Drittel der PatientInnen überleben die ersten zwei Jahrzehnte; Sterblichkeit bei älteren PatientInnen durch Infektionen der Atemwege oder Unfälle beeinflusst; frühe Sterblichkeit hängt vor allem mit schwerer geistiger Behinderung zusammen
Kompetenzen:musikalische Fähigkeiten (Achse 2010, 73)
Bezeichnung:Williams-Beuren-Syndrom
Erstmals beschrieben:J. C. P. Williams und Alois J. Beuren (1961 / 1962)
Häufigkeit:1:7.500 –15.000
Ätiologie: Deletion 7q11.23
Besonderheiten in Phänotyp / Entwicklung/Verhalten:längliche Kopfform; Mikrozephalie; kurze Lidspalten; sternförmiges Irismuster; Schielen; flache, schmale Nasenwurzel; Stupsnase; Pausbacken im Kindesalter; großer Mund mit vollen Lippen; meist offener Mund; Zahnanomalien; kleines Kinn und prominente Ohrläppchen; tiefe und raue Stimme; bei blauen Augen oft weißliche, radspeichenartige Einschlüsse der Iris sichtbar; schwere Probleme bei der Nahrungsaufnahme mit Erbrechen und Nierenfunktionsstörungen; Kleinwuchs; Herzfehler und Verengung großer Arterien führen zu Herz-Kreislauf-Problemen; Veränderungen der Gefäße (Nieren, Blase, Magen, Darm); Nierenfunktion nimmt mit zunehmendem Alter ab; häufig Skoliose; Hyperkalzämie; Hypotonie; Beeinträchtigung des Hörvermögens durch häufige Entzündungen;Entwicklungsverzögerungen in den Bereichen Sprache, Motorik und den allgemeinen kognitiven Funktionen; Schwierigkeiten beim Erwerb abstrakter Konzepte, bei visuell-räumlichen Wahrnehmungsaufgaben, mathematischen Fähigkeiten und beim Schreiben; sehr sensibel; freundlich; offen gegenüber fremden Personen bis hin zu Distanzlosigkeit; Überaktivität; Aufmerksamkeitsprobleme; Ängstlichkeit und Geräuschempfindlichkeit
Kompetenzen:geselliger Sprachgebrauch; differenziertes Vokabular und grammatische Kompetenzen, sodass das Gefühl sprachlicher Gewandtheit entsteht; freundlich; musikalische Fähigkeiten; Lesekompetenz (Hyperlexie) (Achse 2010, 51; Hogenboom 2006, 51)

      Die Beschreibung der vier weiteren Syndrome Smith-Lemli- Opitz-Syndrom, Smith-Magenis-Syndrom, Tuberöse Sklerose und Wolf-Hirschhorn-Syndrom sind im Online-Material auf der Seite www.reinhardt-verlag.de bzw. utb-shop.de, Ergänzungen zu Kapitel 3.1 Syndrome zu finden.

      3.2 Schwerste Behinderung

      Bildungsanspruch

      Lange Zeit bestand eine enge Verknüpfung zwischen Lebens- und Bildungsrecht, denn Lebensrecht wurde nur den Menschen zugestanden, die Leistungen und Nutzen für die Gesellschaft erbringen konnten. Menschen mit schwersten Behinderungen waren aus diesem Grunde sehr lange von Bildungsangeboten jeglicher Art ausgeschlossen. Auch im Rahmen der ersten Initiativen zur Beschulung von Kindern mit geistiger Behinderung und in den Forderungen nach pädagogischer Förderung wurden sie nicht berücksichtigt, da als Aufnahmebedingung die sogenannte praktische Bildbarkeit gefordert wurde. Bis 1977 galt z. B. im Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus die Befreiung von der Schulpflicht für diejenigen, die „im Rahmen schulischer Einrichtungen auch nicht mehr praktisch bildungsfähig“ (Begemann 1978, 17) sind. Bei diesen als bildungsunfähig deklarierten Personen wurde von „Pflegefällen“ gesprochen, „die für eine gezielte pädagogische Arbeit gleich welcher Art nicht in Betracht kommen können“ (Begemann 1978, 17).

      Beginn: 1978

      Erst Ende der 1970er Jahre begann die Aufnahme von SchülerInnen mit schwersten Behinderungen in Schulen für Geistigbehinderte, Körperbehinderte und SchülerInnen mit Sinnesbehinderungen (Klauß / Lamers 2003, 13). Da es bis dato noch keine Konzepte für die pädagogische Arbeit mit dieser Schülerschaft gab, standen Lehrkräfte vor neuen Herausforderungen.

      Interdisziplinarität

      Infolgedessen wurden Fachkräfte anderer Disziplinen (Physiotherapie, Pflege etc.) in die Schulteams integriert; erste didaktische Konzepte entstanden in den 1970er und 1980er Jahren (Tab. 8, Kap.3.2.2).

      gesetzliche Relevanz

      Das Recht auf Bildung für Menschen mit schwersten Behinderungen wurde gesetzlich festgelegt, z. B. im Grundgesetz durch das Benachteiligungsverbot (Art. 3 Abs. 3 GG) und im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG).

      fehlende Lehrpläne

      Bis heute gibt es keine eigenen Lehrpläne für den Unterricht bei SchülerInnen mit schwersten Behinderungen. Dieser orientiert sich an den Lehrplänen der Bundesländer für SchülerInnen mit geistiger Behinderung und umfasst überwiegend Förderung von Wahrnehmung, Kommunikation und Selbstständigkeit und vernachlässigt materiale Aspekte der Bildung im Sinne von Klafki (2007; Kap.6).

      schwerste Behinderung

      Dem Begriff der schwersten Behinderung liegt keine einheitliche Definition zugrunde; vielmehr herrscht – ähnlich wie bei dem Versuch der Beschreibung der geistigen Behinderung (Kap. 1.1) – ein regelrechtes „Begriffschaos“ (Fröhlich / Simon 2004, 14). Auch Fornefeld (1998, 19f.) weist darauf hin, dass die „Vielfältigkeit der schwerstbehindertenpädagogischen Landschaft […] Ausdruck des Suchprozesses, in dem sich diese Disziplin immer noch befindet“ ist.

      Abbildung 4 gibt einen Überblick über die Vielfalt der Umschreibungen des Personenkreises bzw. über das Begriffsspektrum.

images

      Abb. 4: Begriffsspektrum

      Komplexität

      Zur Abgrenzung vom Begriff der geistigen Behinderung findet man wiederholt den Hinweis, dass Schädigungen in mindestens zwei Bereichen vorliegen müssen. Der Begriff ist jedoch stark normativ geprägt und weckt landläufig Assoziationen, dass im Falle einer Schwerstbehinderung grundsätzlich auch eine geistige Behinderung, Leid und ein Ausschluss vom alltäglichen gesellschaftlichen Leben mit einhergehen. Denn im Kontext von Schwerstbehinderung würden wohl die wenigsten Menschen an eine Person mit Herz-Kreislauf-Erkrankung denken, die zudem einen Bandscheibenvorfall erleidet. Gemäß der eben genannten Definition träfe dies jedoch durchaus zu. Auch der mit einer degenerativen Erkrankung des Nervensystems lebende Physiker Prof. Stephen Hawking, der infolge einer Lungenentzündung zusätzlich die Sprechfähigkeit verlor, gilt somit als schwerstbehindert – zu einer vernachlässigten ‚Restgruppe‘ am gesellschaftlichen Rand zählt er jedoch definitiv nicht.

      In der Behindertenhilfe setzt sich die Bezeichnung Menschen mit Komplexer Behinderung (Fornefeld 2008, 11) sowie schwerste Behinderung durch.

      Die folgende Zusammenstellung zeigt die Vielfalt der Sichtweisen und Beschreibungen der Personengruppe auf