● Was ist aus Sicht der AdressatInnen „normal“ oder „erstrebenswert“?
● Welche anderen als bislang formulierte Zielvorstellungen sind für die Organisation denkbar?
● Welche anderen Wege zum Ziel sind denkbar?
● Welche anderen Annahmen über menschliches Verhalten oder Veränderungsprozesse könnten zugrunde gelegt werden?
● Wie stellt sich die Situation aus dem Blickwinkel anderer Disziplinen oder Professionen dar?
● Was sagt die Fachliteratur über Ziele, Angebote, Abläufe etc.?
Perspektivenwechsel auf der Ebene gesellschaftlicher Ideen ergibt sich über Fragen wie:
● Welche Sichtweisen, die von dominanten Perspektiven abweichen, sind in Darstellungen bei genauerem Hinsehen bereits zu finden?
● Wenn andere Personen(gruppen) auf diese Thematik blicken (würden), wie verändern sich Darstellungen und Verständnis?
● Welche anderen Perspektiven ergeben sich aus einem Abgleich mit anderen kulturellen oder politischen Gemeinschaften (anderen Ländern, gesellschaftlichen Gruppen etc.)?
Von Reflexion zurück zur Praxis: Letztlich gilt es, Fragen zu beantworten, die den Gesamtprozess Kritischer Reflexion für die Praxis fruchtbar machen.
Für die individuelle Ebene ergeben sich Fragen wie z.B.:
● Welchen Unterschied machen meine kritischen Überlegungen für die spezifische vorliegende Situation?
● Wie verändert sich mein Verständnis der Situation (des Problems, der Aufgaben- oder Zielstellung, meiner Rolle) im Einzelfall bzw. darüber hinaus für künftige Praxis?
● Wie schlagen sich veränderte Annahmen oder Perspektiven in meinem Handeln nieder? Welche Worte und Taten wähle ich (eher)?
● Welche größeren Ableitungen ergeben sich über den Einzelfall hinaus für meine Praxis?
Auf Gruppen- oder Organisationsebene lässt sich z.B. fragen:
● Welche Perspektiven und veränderten Annahmen sind für die Praxis auch dauerhaft wertvoll?
● Wenn andere Perspektiven oder Annahmen über menschliches Verhalten oder Veränderungsprozesse zugrunde gelegt werden, wie müssten sich die Angebote der Organisation ändern?
● Wenn andere Annahmen über menschliches Verhalten zugrunde gelegt werden, wie müssten sich die Abläufe in der Organisation ändern?
● Wie lassen sich andere Perspektiven oder Annahmen in der Organisation strukturell verankern?
● Wie können Strukturen und Abläufe inklusiver und partizipativer gestaltet werden?
Auf gesellschaftlicher Ebene sind Fragen zur Anregung z.B.:
● Wie kann nicht-dominanten, aber wichtig erscheinenden Perspektiven mehr Gehör verschafft werden?
● Wie können alternative Perspektiven, Annahmen und Repräsentationsformen gestärkt werden?
● Wie können gesellschaftliche Strukturen und Normen (z.B. rechtliche Vorschriften oder Regelungen) für diese anderen Sichtweisen oder Annahmen geöffnet oder genutzt werden?
● Welche Organisationen, Netzwerke, Medien oder anderen politischen Kräfte können dafür identifiziert oder mobilisiert werden?
2.4 Reflexion kritisch reflektiert
Obwohl, oder gerade weil, dieses Kapitel so nachdrücklich für Reflexion plädiert und das Potential betont, das vor allem Kritische Reflexion für die Praxis bereithält, zum Abschluss noch ein paar Worte der Vorsicht.
Reflexion ist kein Allheilmittel: Reflexion löst nicht alle Unklarheiten, Ambivalenzen oder Widersprüche der Sozialen Arbeit auf. Richtig verstanden wird Reflexion im Gegenteil die Dinge oft verkomplizieren, indem sie bis dahin unerkannte Dilemmata, Ungereimtheiten und ungewollte Nebeneffekte deutlich macht. Diese Verunsicherungen und Uneindeutigkeiten gilt es auszuhalten – eine wichtige soziale Fähigkeit, die „Ambiguitätstoleranz“ genannt wird.
Reflexion ist ein andauernder Prozess: Reflexion ist nie wirklich abgeschlossen. Wenn Sie sich dabei ertappen, sich für besonders reflektiert (im Sinne von „erleuchtet“) zu halten, dann ist das vermutlich ein guter Moment, sich nicht ganz so sicher zu sein.
Reflexion ist nicht Therapie: Die in der Selbstreflexion betonte Beschäftigung mit eigenen psychischen Dynamiken wirft die Frage auf, wo die Grenze zwischen Therapie einerseits und Selbstreflexion andererseits verläuft. Selbstreflexion in Studium und Praxis zielt auf die professionelle Entwicklung, während Therapie, als ein intensiver, freiwilliger Prozess der Selbstexploration, dem privaten Entwicklungsprozess dient. Dennoch sind Überschneidungen in der persönlichen Auseinandersetzung mit biografischen Themen augenfällig und verweisen auf mögliche Risiken der Reflexion, da die Bedingungen in Studium und/oder Praxis nicht immer geeignet sind, um persönliche Erschütterungen hinreichend zu begleiten.
Reflexion ist keine „unschuldige“ Praxis: Eingebunden in größere Machtstrukturen und -dynamiken ist Reflexion als Teil des Studiums Sozialer Arbeit eine Sozialisierung in die Profession, die über Selbst-Disziplinierung zu „besserer“ Praxis führen soll. Nach dem Studium setzt sich diese Dynamik von Reflexionen in Teamsitzungen, Fallberatungen oder in supervisorischen Prozessen fort und wird als Instrument oder Indikator der „Qualitätsentwicklung“ gesehen. Trotz der noblen Intention wirkt die Aufforderung, das eigene Denken und Handeln ständig zu beobachten, zu prüfen und obendrein den Prozess und die Ergebnisse für die Bewertung von KommilitonInnen oder KollegInnen, Lehrenden oder Vorgesetzten zu veröffentlichen, aber nicht immer nur befreiend, sondern auch kontrollierend. In einer Gesellschaft, die zunehmend mit Überwachung und Risikoabschätzung beschäftigt ist, kann Reflexion so auch zu einer Form der Machttechnologie der (Selbst-)Überwachung werden, die mit entsprechender Vorsicht zu genießen ist.
2.5 Exemplarische Vertiefung: „Fördern und Fordern“
Das Wortpaar „Fördern und Fordern“ ist zu einem programmatischen Schlagwort mit großer Verbreitung geworden und wirkt sich auch auf das Denken und Handeln in der Sozialen Arbeit aus. Die folgenden Aufgabenvorschläge bieten Anregungen zu einer kritischen Reflexion des Schlagworts und greifen dabei auf analytisches und mimetisches Wissen zu.
Teil 1: Reflexion des eigenen Alltagswissens (ca. 5 Minuten). Machen Sie sich, nur für sich, ein paar Notizen zu folgenden Fragen:
● Ist Ihnen der Ausdruck „Fördern und Fordern“ vertraut? Wenn ja woher?
● Was ist Ihre eigene erste Reaktion auf den Ausdruck „Fördern und Fordern“?
● Welche Assoziationen und Emotionen verbinden Sie damit?
Teil 2: Wort-Skulpturen. Stille Übung in Gruppen von ca. 5–12 Personen (Diese Übung basiert u.a. auf Ideen und Techniken des ImageTheaters des Theaterpädagogen Augusto Boal).
Mehrere Freiwillige machen sich selbst jeweils zu einer Skulptur, die aus ihrer Sicht das Wort „Fördern“ repräsentiert, d.h. sie nehmen eine Körperhaltung samt Gesichtsausdruck ein, die aus ihrer Sicht „Fördern“ verkörpert. Probieren Sie ein bisschen aus, bis Sie etwas finden, das sich stimmig anfühlt. Halten Sie diese Position solange, bis alle TeilnehmerInnen der Gruppe Ihre Skulptur sehen konnten. Lösen Sie sich aus Ihrer Position, um die Skulpturen anderer zu betrachten, und nehmen Sie danach wieder Ihre Haltung für ca. eine Minute ein. In einer zweiten Runde nehmen Freiwillige (dieselben oder andere) die Position und Ausdrucksform einer Skulptur ein, die für sie „Fordern“ repräsentiert. Gehen Sie genauso vor wie zuvor, und halten Sie diese Position, bis alle TeilnehmerInnen Ihre Skulptur und Sie die Skulpturen der anderen sehen konnten. Das Ganze geschieht wortlos.
Fragen zur Anregung der Reflexion und Gruppendiskussion im Anschluss:
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