feature in many of these cases of moral defect without general impairment of intellect is a quite abnormal incapacity for sustained attention” (Still 2006, 133).
Still beschrieb einen 6-jährigen Jungen, der seine Aufmerksamkeit nicht für längere Zeit auf ein Spiel oder ähnliches richten könne. Dies sei besonders in der Schule sichtbar und führe dazu, dass der Junge schlechtere Leistungen als die anderen Kinder zeige, obwohl er im Gespräch den Eindruck eines aufgeweckten und klugen Jungen mache. Weiterhin berichtete er von einem 11-jährigen Jungen, der erhebliche Schulprobleme habe und nur schlecht lesen und rechnen könne. Außerdem sei dieser Junge extrem erregbar und reagiere auf kleinste Provokationen – auch gegenüber Kindern, die er gar nicht kenne – aggressiv.
An dieser Stelle wird der Zusammenhang zu der heute diagnostizierbaren ADHS sichtbar: Kinder mit ADHS-typischem Verhalten haben vor allem in der Schule Probleme (Abb. 1.1). Die Vermutung liegt nahe, dass es also unaufmerksame, impulsive und wenig selbstregulierte Kinder schon immer gegeben haben muss.
Abb. 1.1: Kinder mit ADHS haben vor allem in der Schule Schwierigkeiten (Zeichnung: Vitali Konstantinov)
Auch der Hinweis auf die normal ausgeprägten kognitiven Fähigkeiten deckt sich mit unserem heutigen Wissen (Gansler et al. 1998). In einer aktuellen deutschen Studie konnte dies bestätigt werden (Geißler 2009): Die Leistungen von Kindern mit ADHS wurden mittels eines Intelligenztests mit den Leistungen von Kindern ohne ADHS verglichen. Als Intelligenztest wurde der HAWIK-III (Tewes et al. 1999) verwendet, welcher im diagnostischen Alltag recht häufig zur Untersuchung der kognitiven Leistungsfähigkeit von Kindern eingesetzt wird. Der Test versteht Intelligenz als bestehend aus mehreren, voneinander unabhängigen Einzelaspekten: dem Verbal-IQ, der die sprachliche Leistungsfähigkeit erfasst, dem Handlungs-IQ, der visuell-handlungsbezogene Leistungsfähigkeit erfasst und dem Gesamt-IQ, der sich aus den Ergebnissen des Verbal- und Handlungs-IQ zusammensetzt. Es zeigte sich, dass der Verbal-IQ der Kinder mit ADHS signifikant über der Norm lag, während der Handlungs-IQ der Kinder mit ADHS signifikant unter der Norm blieb – der Gesamt-IQ der Kinder mit ADHS unterschied sich nicht signifikant von der Normstichprobe.
William James
Auch der amerikanische Philosoph und Psychologe William James (1842–1910) beschrieb in seinem 1890 veröffentlichten Werk „The Principles of Psychology“ Menschen, die ihre Impulse nicht unterdrücken und inhibieren können. Er beobachtete bei Menschen mit diesem Persönlichkeitstyp eine gewisse Skrupellosigkeit, mangelndes Nachdenken über Konsequenzen, wenig gewissenhafte Überlegungen und folgerte, dass aus diesem Grund die Betroffenen ihre übermäßige (explosive) Energie entwickeln. Interessanterweise entwickelte James die Annahme, dass diese mangelnde Impulskontrolle nicht nur negative Folgen sondern auch Vorteile haben kann. Positiv formuliert interpretierte er die Reaktions-Schnelligkeit der Betroffenen als Schlagfertigkeit und war außerdem der Ansicht, dass viele revolutionäre Charaktere der Geschichte diesem Typus angehörten.
Alpha-Typ und Beta-Typ
Besonders spannend an den Ausführungen James’ ist die Annahme der mangelnden Impulskontrollfähigkeit als Persönlichkeitsfaktor. Dies findet sich in neuerer Zeit wieder: John M. Digman hat im Jahr 1997 einen Artikel publiziert, in welchem er darlegt, dass zwei übergeordnete Persönlichkeitsstrukturen allen bis zu diesem Zeitpunkt publizierten Persönlichkeitstypologien zugrunde liegen: der Alpha- und der Beta-Typ. Der Alpha-Typ ist aus seiner Sicht durch Zuverlässigkeit, Gewissenhaftigkeit und emotionale Stabilität, der Beta-Typ durch Extraversion und Offenheit für Neues gekennzeichnet. Untersuchungen konnten diese Zweiteilung bestätigen. So wurde beispielsweise in Genanalysen eine Bestätigung für den Beleg dieser Zweiteilung gefunden und ein Zusammenhang zu gesundheitsbewusstem Verhalten dargelegt: Menschen, die eher den Beta-Typ repräsentieren, zeigen häufiger risikobereites, gesundheitsschädliches Verhalten und Sensation Seeking (Horvath / Zuckerman 1993). Auch wenn dieses Konzept der simplen Zweiteilung von Persönlichkeiten in der Fachwelt kontrovers diskutiert wird (Ashton et al. 2009), drängt sich die Ähnlichkeit des Beta-Typs mit der ADHS-Symptomatik auf.
1.2 Ist ADHS eine Modediagnose?
Diese Frage taucht in letzter Zeit in Diskussionen um die Validität der ADHS leider immer wieder auf. Anhand der beispielhaften Darstellungen aus der Geschichte der Medizin und Psychologie muss jedoch festgestellt werden:
ADHS ist keine Modeerscheinung oder Modediagnose! In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Thematik ADHS spielt die Frage nach dem Vorhandensein bzw. Nicht-Vorhandensein der ADHS keine Rolle mehr – die Forschung konzentriert sich aktuell vielmehr auf Fragen im Zusammenhang mit ADHS-Ätiologie, -Prävention und -Intervention (Gawrilow et al. 2011d).
Vertiefungsfragen
1. Warum ist es nicht korrekt, anzunehmen, dass Kinder mit ADHS einen niedrigeren IQ-Wert in Intelligenztests erlangen als Kinder ohne ADHS?
2. Was spricht dagegen, die ADHS als Modediagnose zu bezeichnen?
2 Kernsymptome, Stärken und Subtypen der ADHS
Die Kernsymptome der ADHS sind Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität – alle möglichen zu diagnostizierenden ADHS-Subtypen beziehen sich auf diese Kernsymptome. Dabei wurde mehrfach empirisch nachgewiesen, dass die Unaufmerksamkeit abzugrenzen ist von der Hyperaktivität-Impulsivität (Nigg et al. 2002). Das bedeutet, dass Unaufmerksamkeit ein singuläres Konstrukt darzustellen scheint, während Hyperaktivität und Impulsivität fast immer gekoppelt, d. h. gemeinsam, auftreten. Dies spiegelt sich auch in den aktuellen Annahmen zu den Subtypen der ADHS wieder. Die drei Kernsymptome der ADHS, die unterschiedlichen Möglichkeiten ADHS zu diagnostizieren sowie die Subtypen der ADHS werden in diesem Kapitel behandelt.
2.1 Kernsymptome
2.1.1 Unaufmerksamkeit
Die Unaufmerksamkeit zeigt sich in vielen Bereichen: zu Hause, in der Schule und im Umgang mit Gleichaltrigen. Kinder mit ADHS sind also häufig unkonzentriert und haben somit Schwierigkeiten beim Spiel oder beim Folgen des Unterrichtsgeschehens.
Flüchtigkeitsfehler
Sie machen oft Flüchtigkeitsfehler und können Anweisungen und Instruktionen nur schlecht folgen.
Vergesslichkeit
Eine weitere Auffälligkeit im Zusammenhang mit der Unaufmerksamkeit ist die Vergesslichkeit von Kindern mit ADHS: verlorene Turnbeutel, vergessene Schirme und verschwundene Federmäppchen gehören zum Alltag dieser Kinder.
Ablenkbarkeit
Zudem lassen sich Kinder mit ADHS oft durch äußere Reize ablenken: Wenn es gerade das Ziel bzw. die Aufgabe ist, sich auf die morgige Klausur vorzubereiten, und der beste Freund an der Tür klingelt, gelingt es Kindern mit ADHS nur schwer, diesen Reiz (in diesem Beispiel der Freund) zu unterdrücken und sich weiter auf die Aufgabe zu konzentrieren (→ Kapitel 8 zu Selbstregulation).
2.1.2 Hyperaktivität
Die motorische Überaktivität ist wohl das am leichtesten zu erkennende Merkmal der Kinder mit ADHS: Übermäßiges Zappeln mit Händen und Füßen, Herumrutschen auf dem Stuhl, Herumlaufen und Klettern gehören dazu.
Zappeln
Insgesamt ist es so, dass Kinder mit ADHS sich nicht ruhig verhalten können, wenn es von ihnen verlangt wird. Beispielsweise im Unterricht oder beim Anstehen in einer Schlange. Die Kinder wirken somit häufig wie „getrieben“.
2.1.3