Jürgen Ziemer

Seelsorgelehre


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nur bedingt ein religiöses Wort2, wird es doch schnell dieser Sphäre zugeordnet. Vermutlich würde man es von sich aus auch gar nicht in den Mund nehmen; denn wer es aktiv gebraucht, gibt sich zu erkennen. Auch Gemeindeglieder verwenden das Wort Seelsorge eher selten. Andere Begriffe wie „Gespräch“, „Beratung“ oder „Aussprache“ – im Grunde fast Synonyme für „Seelsorge“ – erscheinen unverfänglicher. Die Verknüpfung mit dem religiös-kirchlichen Kontext scheint dabei nicht so unausweichlich gegeben. Das Wort „Seelsorge“ hat Anteil an der Fremdheit von Glauben und Kirche in unserer Welt?3

      2. Das Wort Seelsorge löst oft ambivalente Empfindungen aus

      Auch unter Christen hat „Seelsorge“ einen unterschiedlichen Klang. Sie wird einerseits hoch geschätzt und auf der anderen Seite zugleich skeptisch beurteilt. In Auseinandersetzungen über das zukünftige Profil von Kirche und Gemeinden hat die Seelsorge meist einen hervorgehobenen Stellenwert. Viele Kirchenvorstände wünschen sich mehr seelsorgliche Aktivitäten in der Gemeinde, und bei Pfarrwahlen hat die Eignung der Bewerberinnen und Bewerber für die Seelsorge einen bedeutsamen Auswahlwert.4 In vielen Fällen wird aber gar nicht klar, inwieweit Menschen auch für sich selber ein seelsorgliches Angebot in Anspruch nehmen würden. Zuweilen findet sich die (unbewusste) Einstellung: Seelsorge ist sehr wichtig, aber ich hoffe, dass ich selbst sie nicht brauche. Was Seelsorge wirklich ist, liegt ja nicht so deutlich zu Tage, wie wenn es um Predigt oder Konfirmandenunterricht geht. Seelischer Hilfe zu bedürfen, erscheint zudem eher peinlich, ein Zeichen von Schwäche – sei es psychischer, sei es geistiger, sei es lebenspraktischer Art. Bei Seelsorge gehen die Gedanken zuerst an andere, die Beistand brauchen: Kranke, Zweifelnde, Sterbende, in Not Geratene. Manchmal haftet dem seelsorglichen Handeln gar ein Geruch des Weichen, Fürsorglichen, des Freundlich-Betulichen oder auch des Frömmlerischen an. Konkrete Erfahrungen müssen nicht unbedingt dahinterstehen. Das gilt auch angesichts der häufig zu beobachtenden Furcht vor einem moralisierenden Ermahnungston in der Seelsorge. Dem muss nicht widersprechen, dass mitunter gerade ein solches Verhalten einem Seelsorger nahe gelegt wird: „Herr Pfarrer, mit unserem Sohn sollten Sie mal ein seelsorgliches Wort reden!“

      Die Ambivalenz gilt im Blick auf die Seelsorge auch für Pfarrerinnen und Pfarrer selbst. Der große Reiz dieser Arbeit und die Hoffnung, hier wirklich für die Menschen erreichbar und alltagsrelevant tätig zu werden, wird konterkariert von Zweifeln: Worauf lasse ich mich da eigentlich ein? Wie ernst muss diese Aufgabe wirklich genommen werden? Begebe ich mich da nicht auf ein viel zu offenes Feld? Kommen hier auf mich Erwartungen zu, die ich gar nicht erfüllen kann?

      3. Seelsorge ist etwas zutiefst Menschliches

      Gegenüber allen Voreinstellungen und Vorurteilen, so verständlich sie sein mögen, ist zunächst festzuhalten: Seelsorge ist eine unverzichtbare und grundlegende Weise menschlichen Miteinanderseins. Ob sie professionell im Rahmen einer kirchlichen Berufstätigkeit oder spontan als Reaktion unmittelbaren Betroffenseins ausgeübt wird, ist hier erst einmal von untergeordneter Bedeutung. Es ist einfach menschlich, sich gegenseitig zu raten und Rat zu holen. Und es ist menschlich, jemanden zu haben, dem man zu vertrauen vermag, dem man sein Herz ausschütten kann, dem man sich zumuten darf. Seelsorge hängt mit der menschlichen Fundamentalerfahrung zusammen, dass wir Angewiesene sind, dass wir nicht immer allein zu Rande kommen – weder seelisch, noch emotional, noch glaubensmäßig, noch lebenspraktisch. Wir brauchen Menschen, denen wir uns anvertrauen können; manchmal ist es gut, wenn sie nicht aus dem eigenen Umfeld kommen.

      Seelsorge ist etwas zutiefst Menschliches, aber sie ist deswegen nichts weniger als selbstverständlich. Selbstverständlich ist viel eher, sich aus dem Wege zu gehen, sich fremd zu bleiben, andere sich selbst und ihren eigenen Problemen zu überlassen oder an die für Gesundheit und Wohlfahrt zuständigen Institutionen zu verweisen. Rolf Zerfaß hat als ein Modell für den menschlichen Aspekt von Seelsorge die Erfahrung von „Gastfreundschaft“ empfohlen. Gastfreundliche Seelsorge gibt dem anderen Raum, sie nimmt seine Bedürfnisse wahr, ohne ihn damit gleich zu vereinnahmen. Sie gibt und empfängt zugleich. Gastfreundliche und darin eben „menschliche“ Seelsorge „wagt es, sich fremden Menschen anzuvertrauen, weil sie die überraschende Erfahrung macht, dass uns bis heute im Fremden Gott begegnet.5

      4. Seelsorge ist „Sorge um die Seele“

      Dass Seelsorge etwas zutiefst Menschliches ist, erfüllt sich schon in dem, was der Begriff selber sagt: sie ist „Sorge um die Seele“. So banal diese Auskunft erscheinen mag, so ist sie doch gleichwohl auslegungsbedürftig. Denn: was ist eigentlich „die Seele“? Wer von ihr spricht, hat eine ungefähre Ahnung, aber im Zusammenhang einer Seelsorgelehre muss man doch etwas genauer werden.

      „Seele“ erscheint uns zunächst als etwas Gegensätzliches zum „Leib“. Über Jahrhunderte haben sich gläubige Menschen an der von der griechischen Philosophie begründeten Vorstellung getröstet, dass es außer dem sterblichen Leib noch etwas Anderes gibt, das bleibt und um das zu sorgen sich lohnt. Bei näherem Zusehen freilich zeigt sich, dass in der Bibel von der Seele keineswegs in Abgrenzung zum Leib gesprochen wird, sondern im Zusammenhang mit ihm. Das hebräische Wort für „Seele“ heißt nefäs und hat eine leibnahe Bedeutung: Atem, Schlund, Leben; es steht für ganz vitale Lebensregungen: Hunger, Durst, Begehren, Liebe, Dankbarkeit, auch Klage, Zorn und intensives Sehnen. Oft sind es die tiefer gehenden Gefühle, die uns den Weg zur Seele weisen. Das Wort „Seele“ kann auch für das stehen, was wir in psychologischer Terminologie heute das „Ich“ oder das „Selbst“ nennen6, etwa wenn der 103. Psalm mit der Selbstaufforderung beginnt. „Lobe den Herrn, meine Seele“! Im Neuen Testament steht das griechische Pendant für die Seele „psyche“ an vielen Stellen faktisch für „Leben“, für das Leben des „ganzen“ Menschen (z.B. Mk 8, 35, Mt 6, 25). In biblischer Sicht gehören also Leib und Seele zusammen. Der Leib ist nicht „ganz“ ohne Seele, die Seele nicht ohne Leib.7

      Aber noch einmal: Was ist dann die Seele? Eine Funktion unseres Körpers? Ein Produkt des Gehirns, wie es uns manche Neurowissenschaftler nahe legen?

      Die Seele ist keine materielle „Substanz“, losgelöst von unserer körperlichen Existenz. Sie bezeichnet vielmehr eine grundlegende Beziehung der Person und des Leibes.8 Sie ist der „Ort“, wo Gottes Zuwendung zu uns und unsere Hinwendung zu ihm Ereignis werden: „Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott.“ (Ps 43, 3). Seele ist Beziehung auf etwas, das uns leibhaft nahe ist und das zugleich über uns hinaus weist. Hier wird deutlich, wer von der „Seele“ spricht, berührt die religiöse Dimension. Das darf natürlich nicht so verstanden werden, dass nur im konfessionellen Sinn gläubige Menschen auf ihre Seele und auf Seelsorge hin ansprechbar wären. Die Seele dürstet, sie „hat“ nicht, sie ist Sehnsucht und Suchen. Und da sind gläubige von weniger gläubigen Menschen oft nicht weit entfernt. Die Seele ist, was Menschen als „Tiefe“ ihres Seins spüren, wohin ihr Herz neigt. Seelsorge, die für die Seele sorgt, fragt nach dem, was für die je eigene Seele wesentlich ist und so spricht sie den Menschen, schlicht gesagt, „persönlich“ an. Darüber freut sich die Seele, wie Augustin sagt, und: „Sie nährt sich von dem, woran sie sich freut.“9. Es ist die Freude darüber, als ungeteilt sein zu dürfen, was ich bin: leiblich, geistig, religiös. Die Seele als „Ort der Freude“ ist so auch der „Ort des Gewissens“10, an dem das Ich sich seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen bewusst wird.

      5. Seelsorge ist unverzichtbares kirchliches Handeln

      Gerade wenn wir mit Zerfaß Seelsorge unter anderem als Erfahrung von „Gastfreundschaft“ beschreiben wollen, wird deutlich, dass sie auch als eine Weise verstanden werden kann, in welcher Menschen das Evangelium begegnet. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass Luther im dritten seiner „Schmalkaldischen Artikel“ zum Ausdruck gebracht hatte, dass das Evangelium neben Wort und Sakrament auch „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“11, also durch wechselseitiges Gespräch und geschwisterliche Tröstung erfahren werde. Indem Menschen miteinander sprechen und füreinander aufmerksam werden – helfend, stärkend, herausfordernd, ratend, ermutigend – erfahren sie auch etwas von der Menschenfreundlichkeit Gottes in Christus, die in einer Gemeinde Gestalt gewinnt.

      „Seelsorge