werden. Kirche ist nicht Kirche ohne Seelsorge und sie kann es nicht sein. Wir haben als diese nicht zu überlegen, ob wir Seelsorge wollen oder nicht. Seelsorge als die Realisierung einer helfenden Beziehung zwischen Menschen, die sich im Horizont des Glaubens geschwisterlich verbunden wissen, gehört zur Auftragsgestalt der Kirche – nicht mehr und nicht weniger als der Gottesdienst, die Verkündigung oder der Unterricht. Damit sollten freilich Menschen außerhalb der Kirche von Erfahrungen seelsorglichen Handelns bewusst nicht ausgeschlossen werden. In der Seelsorge und durch sie könnte kirchliches Handeln gerade als grenzüberschreitend in Erscheinung treten.
6. Seelsorge ist eine Brücke zur entkirchlichten Welt
Längst ist die Welt, die uns täglich umgibt, weithin säkular geworden, und viele Menschen sind den Kirchen entfremdet. Was in ihnen gesprochen wird, ist vielen religionslos gewordenen Zeitgenossen nicht mehr ohne weiteres verständlich. Und auch von denen, die zur Kirche gehören, gibt es viele, die mit den überlieferten Worten des Glaubens für sich nicht mehr viel verbinden können.13 Und doch ist ein Interesse da, das was die „Seele“, das was „unbedingt“ angeht, zu kommunizieren. Der Seelsorge könnte in dieser Situation eine echte Brückenfunktion zur Welt zukommen. Sie ist eine Möglichkeit, Menschen ganz unmittelbar anzusprechen, ohne Vermittlung durch Formen oder Formeln des kirchlichen Lebens. Seelsorge ist Kommunikation über seelische Fragen, ohne besondere religiöse Voraussetzungen dafür zu fordern. In Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“, einem unverkennbar nachchristlichen Roman, gibt es den Vorschlag für die Einrichtung eines „Weltsekretariats der Genauigkeit und Seele“ – von Ulrich, dem „Romanhelden“ zunächst „aus Spaß“, später immer ernsthafter erwogen. Dahinter steht das noch ganz unsichere Gefühl, es sei etwas nötig, „damit die Leute, die nicht in die Kirche gehen, wissen, was sie zu tun haben.“14 Es geht bei „Genauigkeit und Seele“ keineswegs nur um Moral, sondern um die den Menschen zuwachsenden Fragen, die durch Wissenschaft allein nicht zu beantworten sind. Seelsorge als „Dialog um Seele“ kann Menschen in ihrem Bemühen um Selbstreflexivität und Tiefe begleiten. Sie ist ein echter Dienst an den Menschen. Und wenn Seelsorge diesen an den verschiedenen Orten, wo sich das nahe legt, ausübt, dann nimmt sie eine Brückenfunktion wahr. Sie sollte es tun ohne aufdringlich-missionarische Absichten. Vielleicht jedoch eröffnet sie so dann auch wieder ein Zurückfragen nach dem, was sie zu ihrem Tun autorisiert.15
7. Seelsorge geschieht auf vielfältige Weise
Von anderen Formen einer helfenden Beziehung – etwa in der Sozialarbeit, bei unterschiedlichen Beratungsdiensten, in der Therapie – unterscheidet sich Seelsorge durch eine Vielfalt der Vollzugsformen Immer wieder wird es in der pastoralen Praxis Situationen geben, bei denen gar nicht klar ist, ob sie als „Seelsorge“ bezeichnet werden können. Die Grenzen zwischen einer informellen Begegnung und einem seelsorglichen Gespräch sind oft fließend. Zu denken ist hier an Gelegenheiten, bei denen sich ein Kontakt eher zufällig ergibt: das Gespräch am Schluss eines Gottesdienstes oder einer Gemeindeveranstaltung, die ungeplante Begegnung auf der Straße oder beim Spaziergang. Ähnliches gilt für manche kasuellen Anlässe – bei den vorbereitenden Gesprächen für Taufe, Trauung, Beerdigung, bei einem routinemäßig durchgeführten Geburtstagsbesuch, bei einem Begrüßungskontakt usw. Hilfreich kann hier die Unterscheidung von funktionaler und intentionaler Seelsorge sein, also einer Seelsorge, die sich „bei Gelegenheit“ ergibt, und einer Seelsorge, die bewusst als seelsorgliche Begegnung geplant und vereinbart wird. Wichtig ist es, alle diese Begegnungsformen als mögliche Gelegenheiten zur Seelsorge wahrzunehmen und für die Chancen der jeweiligen Situation offen zu sein. Seelsorge ist nicht festgelegt auf ein bestimmtes „setting“ – etwa den Besuch am Krankenbett oder das ausdrücklich vereinbarte Gespräch im Pfarrhaus. Für eine Seelsorgelehre haben diese Formen intentionaler Seelsorge freilich eine herausragende Bedeutung, denn an ihnen kann man in der begleitenden kritischen Reflexion erkennbar machen, was tendenziell auch für die weniger eindeutig strukturierten Prozesse einer funktionalen Seelsorge zutrifft.
8. Seelsorgelehre ist kritisch-konstruktiv auf Seelsorgepraxis bezogen
Seelsorgelehre – in der Wissenschaftssprache des 19. Jahrhunderts: Poimenik16 – ist auf Praxis angewiesen und auf sie bezogen. Sie lehrt nicht eigentlich Seelsorge, aber sie lehrt Seelsorge besser zu verstehen und sie in den Zusammenhang pastoralen Handelns und kirchlicher Lehre einzuordnen. In der Seelsorgelehre werden Kriterien entwickelt für die theologische und humanwissenschaftliche Beurteilung geschehener und geschehender Seelsorge. Darüber hinaus richtet sie ihr Augenmerk auf den Zusammenhang des seelsorglichen Handelns mit anderen Weisen zwischenmenschlicher Hilfebemühungen und deren wissenschaftlicher Reflexion in unserer Gesellschaft.
Der Ansatz unserer Seelsorgelehre ist ein pastoralpsychologischer. Die pastoralpsychologische Herangehensweise bedeutet dabei methodisch, dass die Konfliktlagen des Einzelnen und der zwischenmenschliche Kommunikationsvorgang in der Seelsorge auch unter humanwissenschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet werden. Zugleich ist damit eine prinzipielle Offenheit für Handlungsansätze und Handlungsmodelle intendiert, die durch die pastoralpsychologische Bewegung für die Seelsorgepraxis erschlossen wurden.
Stärker als in dieser poimenischen Tradition bisher üblich geht es in der vorliegenden Einführung in die Seelsorgelehre darum, auch die kontextuellen Faktoren, die für Selbsterfahrungen des Einzelnen relevant sein könnten, in die Darstellung einzubeziehen. Individuelle Probleme haben oft soziale Ursachen. Seelsorgliches Handeln geschieht immer in einer konkreten gesellschaftlichen und kulturellen Situation. Sie genau wahrzunehmen heißt auch, die Bedingungen zu erkennen suchen, die für die spezifischen Lebens- und Leidenserfahrungen des Einzelnen verantwortlich sind.
Fazit: Und was ist nun eigentlich Seelsorge?
Der Wunsch nach einer schlüssigen Definition ist gut verständlich, aber kaum erfüllbar, und das nicht nur mangels Sprachkraft, sondern letztlich wegen der Eigenart der „Seele“, deren Wesen jeder Art von Definition entgegensteht. Von ihr sagt Heraklit (5. Jh. v.Chr.): „Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfindig machen, wenn du auch alle Wege absuchtest, so tiefgründig ist ihr Wesen.“17
Versuchen wir dennoch eine Definition, müssen wir zunächst ziemlich allgemein bleiben. Etwa so:
Seelsorge ist zwischenmenschliche Hilfe durch personale Kommunikation in religiösen Kontexten.
Dies ist eine sehr allgemeine Umschreibung. Sie versucht der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es nicht nur christliche Seelsorge gibt, sondern auch beispielsweise jüdische und muslimische. Vielleicht empfindet aber mancher schon die Bestimmung „in religiösen Kontexten“ als einengend. Es gibt auch „weltliche“ oder neuerdings auch „philosophische“ Seelsorge. In der Tat ist Religionszugehörigkeit im persönlichen oder im rechtlichen Sinne keine Voraussetzung für Seelsorge, wohl aber ist eine Offenheit für das notwendig, was „menschlich und wesentlich“ ist. Denn darum geht es, wenn wir uns um die „Seele“ sorgen. Der Seele aber eignet, wie Heraklit sagt, eine „Tiefe“, und das bedeutet, dass sie in Bereiche führt, die wir dem Religiösen zurechnen.
Wenn wir nun die zunächst sehr allgemeine Definition mit der für christliche Seelsorge verbinden, könnte man auch so formulieren:
Seelsorge als „Sorge um die Seele“ kann umfassend als Sorge um das Menschsein des Menschen verstanden werden. Sie vollzieht sich in der vertrauensvollen Kommunikation existentieller Fragen im Horizont des christlichen Glaubens.
Wenn wir die Definition von Seelsorge nun in verschiedenen Fragehinsichten spezifizieren wollen, kommen wir zu folgenden Bestimmungen:
–Theologisch: „Seelsorge ist Zuwendung zum einzelnen Menschen als ‚Kommunikation des Evangeliums’“.18 Man könnte im gleichen Sinne von Seelsorge auch als „Vollzug christlicher Anthropologie“19 sprechen. (s. Kap. 4)
–Psychologisch kann Seelsorge verstanden werden als Beratung bei existentiellen und spirituellen Problemen im Rahmen eines relativ offenen Settings. (s. Kap.5)