Jürgen Ziemer

Seelsorgelehre


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immer weniger imstande zu beurteilen, wie real die heraufbeschworenen Gefahren – etwa im Bereich der Genforschung und deren Anwendung – wirklich sind.

      •Auf allen Ebenen der politischen Entscheidungsprozesse werden zunehmend neue Gefahren „produziert“. Paradoxerweise sind diese Gefahren nach der Überwindung des politischen, ideologischen und militärischen Ost-West-Gegensatzes eher gestiegen als gesunken. Die allgemeine politische Situation ist an den Rändern Europas, im Nahen Osten und in der islamischen Welt unberechenbarer geworden. Das Bewusstwerden historischer Ungerechtigkeiten, ethnischer Unterdrückung und die Erfahrungen offensichtlicher und schwerwiegender Chancenungleichheiten schaffen ein Konfliktpotenzial, das mit demokratischen Mitteln schwer unter Kontrolle zu halten ist. Es wäre ganz und gar falsch, den durch die „Wende“ von 1989 erkämpften Freiheitsgewinn auch nur für einen Augenblick zur Disposition zu stellen. Aber die Gefährdungen der Freiheit und des Lebens müssen gesehen und ernst genommen werden. Zygmunt Bauman spricht von neuen Erfahrungen einer „Weltunordnung“: „Seit das große Schisma aus dem Wege ist, sieht die Welt nicht mehr aus wie eine Totalität; sie sieht eher aus wie ein Feld zerstreuter und disparater Kräfte … Niemand scheint mehr die Totalität unter Kontrolle zu haben.2 Schon stellen sich Situationen ein, die höchst gefährliche nationalistische und totalitäre Formen einer „Gegenmodernisierung“3 auf den Plan rufen.

      •Ein hohes Maß an Sicherheitsverlust ist mit der gegenwärtigen Arbeitsmarktsituation eng verknüpft. Unabhängig von den Zyklen wirtschaftlicher Progression und Rezession müssen wir heute angesichts der immer geringer werdenden Bedeutung der menschlichen Arbeitskraft in den industriellen Produktionsprozessen davon ausgehen, dass in Zukunft keineswegs mehr für jeden Arbeitswilligen auch ein Arbeitsplatz im Sinne einer Vollbeschäftigung zur Verfügung stehen wird.4 Für einen großen Teil der Bevölkerung stellt dies einen dauerhaften Destabilisierungsfaktor dar – auch wenn man in Rechnung stellt, dass neue Verteilungsmuster einen gewissen Ausgleich schaffen können. Der Einzelne gerät auf dem Arbeitsmarkt ziemlich schnell in eine Konkurrenzsituation, die ihn existenziell und psychisch überfordern kann. In einer solchen Konkurrenzsituation wächst für alle diejenigen die Unsicherheit, die mehr oder weniger aus der Leistungsnorm fallen: die schlecht Ausgebildeten, die Älteren, vielfach auch die Frauen, die Behinderten, die Ausländer und so weiter. Diese Konkurrenzsituation auf dem Arbeitsmarkt könnte von einem Entsolidarisierungseffekt begleitet sein, der die Gefahr verstärkt, dass ganze Bevölkerungsgruppen zu „Verlierern“ werden.

      •Zunehmend geraten die Sicherheitsrisiken für unsere persönlichsten Angelegenheiten an einer noch an einer ganz anderen Stelle ins Blickfeld: in der digitalen Welt, in die wir durch das Internet täglichen Zugang haben. Datensicherheit ist im privaten wie auch im öffentlichen Bereich ein unausweichliches Problem geworden. Täglich senden wir eine Fülle von Daten in das elektronische Medium. Wir verschicken persönliche Botschaften, beteiligen uns an Internetforen wie Facebook, nehmen Internetdienste unterschiedlichster Art in Anspruch. Alle diese Daten, so viel Vertraulichkeit auch zugesichert sein mag, sind unserer Verfügbarkeit entzogen. Es werden „Profile“ erstellt, die uns ungebeten maßgeschneiderte Werbung zutreibt. Eine verunglückte Mail, ein peinliches Foto – es entstehen unverwischbare Spuren. Viele haben es noch gar nicht begriffen, aber es entsteht in unserer Welt „eine neue Transparenz, durch die… jeder Mensch in allen Bereichen des Alltagslebens pausenlos überprüft, beobachtet, getestet, bewertet, beurteilt und in Kategorien eingeordnet werden kann.“5 Dabei ist vielfach eine Ambivalenz zu spüren: es gibt einerseits ein schier unbegrenztes Bedürfnis sich virtuellen Adressaten in einen anonymen Raum hinein mitzuteilen, andererseits die Verunsicherung und Beunruhigung darüber, was damit geschehen könnte. Es sind viele Vorkehrungen nötig, um wenigstens ein Mindestmaß man Sicherheit herzustellen. Das betrifft auch solche Dienste wie die Internetseelsorge. Sie sind absolut sinnvoll, aber nicht möglich ohne ein ganzes Arsenal an Regulierungen und Sicherungsmaßnahmen.6

      Die auf den vier Ebenen – technologischer Fortschritt, Politik, Arbeitsmarkt, virtuelle Kommunikation – angedeuteten Verunsicherungsprozesse haben in gewisser Weise ihr Pendant in alltäglichen Bedrohungserfahrungen der Einzelnen. Viele Menschen haben Angst, vor allem Angst vor Gewalt. Sie fühlen sich, ihre Würde und Integrität, ihr Eigentum, ihre Gesundheit, ihre Ruhe, ihre Ordnung permanent und massiv gefährdet. Ausdruck dieser Angst ist die in unserer Gesellschaft herrschende und stetig zunehmende Kriminalitätsfurcht und Terrorismusangst. Durch ständige Gewaltinszenierungen im Fernsehen und in der Boulevardpresse wird sie noch gesteigert und gesteuert. Ganze Industrie- und Logistikunternehmen sind im Gegenzug damit beschäftigt, immer neue Schlösser, Verriegelungen und Alarmanlagen zu erfinden und zu produzieren. Ausbildungsinstitutionen bieten Selbstschutztrainings an. Die Sorge um die persönliche Sicherheit erhält einen Eigenwert. Für viele Menschen bedeuten die Verunsicherungen im täglichen Leben eine deutliche Mobilitätseinschränkung und Interaktionsbegrenzung. Aus Angst bleibt man lieber zu Hause. Dabei muss man beachten, dass den Ängsten und Bedrohungen besonders diejenigen ausgesetzt sind, die sich nicht so gut zu wehren vermögen, die in ihre Sicherheit nicht so reichlich investieren können: die sozial Schwachen, die Arbeitslosen, die Ausländer und unter ihnen nicht zuletzt ein großer Teil der Frauen. Für den weiteren Zusammenhang ist darauf aufmerksam zu machen, dass die „tägliche Verunsicherung vielleicht auch vor dem Hintergrund verlorener traditioneller Gewissheiten“7 verstanden werden muss. Mögen die Gefährdungen für die Individuen „objektiv“ nicht größer sein als zu früheren Zeiten, so sind die Menschen, die heute nur noch selten ihren Tag „mit Gott“ beginnen, ihnen doch in gewisser Weise schutzloser ausgeliefert. Insofern hat die Kriminalitätsfurcht etwas Symptomatisches. Es ist die Furcht des seines Lebens nicht mehr sicheren und des durch religiösen oder anderen Zuspruch auch nicht mehr ohne weiteres versicherbaren Menschen. Die besondere Folgegefahr angesichts der alltäglichen Verunsicherungen liegt in der deutlichen Zunahme der Aggressionsbereitschaft und in fragwürdigen, scheinbar komplexitätsreduzierenden Optionen (Fundamentalismus verschiedener Prägungen, Nationalismus, Rechtradikalismus usw.). Die Situation begünstigt die populistischen Vereinfacher jedweden Coleurs.

      Haben wir die Verunsicherungserfahrung des Einzelnen und seiner Bezugsgruppen eher phänomenologisch beschrieben, so kann es jetzt hilfreich sein, zum besseren Verständnis der grundlegenden Wandlungsprozesse in unserer Gesellschaft Aspekte einer soziologischen Theorie heranzuziehen, wie sie sich einerseits im Anschluss an die Systemtheorie (Niklas Luhmann) und andererseits im Zusammenhang mit der seit Jahren geführten Postmoderne-Debatte (wofür in Deutschland stellvertretend die Namen von Wolfgang Welsch und Ulrich Beck genannt seien) ergeben haben. Das kann freilich nur in ganz knapper und fokussierender Weise geschehen – mit dem Ziel, die wichtigsten Theorieelemente der gegenwärtigen Diskussion für unseren poimenischen Zusammenhang zur Verfügung zu stellen.8

      1. Differenzierungen in der Gesellschaft

      Grundlegend für das Verständnis des Wandels unserer Gesellschaft – also für Modernisierungsvorgänge, an denen wir Anteil haben – ist die Einsicht in die neuen Differenzierungsprozesse innerhalb der Sozialstrukturen. Dabei treten an die Stelle bisheriger „stratifikatorischer“ (also etwa schichtspezifischer) Differenzierungen andere eher „funktionale“ Differenzierungsformen. Das hat weitreichende Konsequenzen für unser Selbst- und Weltverständnis. Für den Einzelnen bedeutet das, dass seine soziale und personale Existenz etwa als Arbeiter, Christ, Familienvater, Wähler, Vereinsmitglied ihn mit ganz unterschiedlichen Erfahrungsbereichen, die kaum noch etwas miteinander zu tun haben, in Beziehung bringt. Einzelpersonen und soziale Organisationen stehen nicht mehr in einem überschaubaren und stabilen Zuordnungsrahmen zueinander, sondern sie sind gegebenenfalls funktional aufeinander bezogen. Die Sozialbeziehungen sind von daher weitgehend gelockert und entflochten. „Ein gemeinsamer Nenner dieser Konsequenz dürfte in einem Zuwachs an Komplexität, in einer Reduktion von zentralistischen Kontrollchancen und in der Generalisierung von Fremdheit liegen.“ „Generalisierung von Fremdheit“ meint dabei die „massive Steigerung von Kontingenz, Inkohärenz und Dissens …“9.Eine Folge der funktionalen Differenzierungsprozesse