religiösen Institutionen, insbesondere die großen christlichen Kirchen, haben zweifellos erheblichen Anteil an den erwähnten gesellschaftlichen Umstrukturierungs- und Veränderungsprozessen. Sie bleiben nicht unberührt davon, wie diese zu Verunsicherungen und teilweise auch Veroberflächlichungen des individuellen Lebens beitragen. Es ist nicht einfach, die kirchliche Situation in der deutschen Gesellschaft nach der politischen Wende von 1989/90 kurz und treffend zu beschreiben. Die religiöse Landschaft scheint zerklüftet. Zweifellos hat der Verunsicherungsprozess die Kirchen selbst längst erreicht. Zunächst zeigt sich schon quantitativ, dass die christlichen Kirchen an Sichtbarkeit, an Einfluss und Bedeutung in der Gesellschaft verloren haben.42 Dass dabei die unterschiedlichen geschichtlichen Voraussetzungen in Ost- und Westdeutschland von außerordentlicher Bedeutung sind, ist ohne weiteres verständlich. Während in dem einen Teil ein staatlich verordneter Traditionsabbruch die bestehenden Verbindungen zu den Kirchen drastisch gekappt hat,43 haben wir es im anderen Teil wohl vorrangig mit den Auswirkungen der religiös-kulturellen Konkurrenzsituation zu tun, in deren Folge sich die institutionellen und privaten Kirchenbindungen sehr gelockert haben.44 Inzwischen haben auch im Osten zusätzlich die Modernisierungsfolgen an Gewicht gewonnen.
Gravierender als der zahlenmäßige Rückgang von Kirchenmitgliederzahlen, den man auch noch ganz unterschiedlich interpretieren und prognostizieren kann, ist der qualitative Ansehens- und Bedeutungsverlust, den die Kirchen als Institutionen mit ihren mehr und mit ihren weniger spezifischen Angeboten erleiden. Die Kirchen haben heute an Glaubwürdigkeit, Anziehungskraft und Prestige in unerhörtem Maße eingebüßt45, und die kirchlichen Mitarbeiter spüren das oft ganz unmittelbar. Viele Menschen, darunter solche, die nach wie vor formelle Kirchenmitglieder sind, leben faktisch ohne Kirchenbindung und empfinden dabei vermutlich keinen Mangel. Sie sind nicht „kirchendistanziert“, sondern „indifferent“.46
Für die damit angedeutete Entwicklung lassen sich verschiedene Ursachen benennen:
•Es gibt in unserer Gesellschaft eine zunehmende Skepsis gegenüber den bestehenden Großinstitutionen. Das bekommen Parteien und Verbände ebenso zu spüren wie die Kirchen. Das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit von Institutionen sinkt mehr und mehr. Faktisch sind diese immer weniger in der Lage, Menschen auf überzeugende Weise Orientierung zu bieten. Je intimer und persönlicher die Fragen sind, umso weniger wird Institutionen zugetraut, brauchbare und lebbare Antworten geben zu können. Diese Einstellung muss nicht primär als Rekurs auf die konkrete Arbeit in dem jeweiligen Verband verstanden werden. Die Abwendung von den Kirchen, Parteien und Verbänden, die eine bestimmte inhaltliche Botschaft vermitteln wollen, muss vielmehr im Zusammenhang mit der „starken Umbruchphase“ gesehen werden, in der sich die „von der Aufklärung geprägte Kultur der Neuzeit“ gegenwärtig befindet.47 Man spricht von einem „Modernisierungsschub“ bzw. von einem „Individualisierungsprozess“. Alle Verbände und Institutionen, die durch die neuzeitliche Kultur geprägt waren und sind, haben aus dieser Verflechtung heraus Anteil an den gegenwärtigen Umbrüchen und erleiden demzufolge größte Akzeptanzschwierigkeiten bei der Bevölkerungsmehrheit. Mit der generellen Ablehnung der religiösen Institutionen gerät auch das in Gefahr, wofür diese Institutionen inhaltlich stehen?48
•Als Folge der kulturellen Pluralisierung gerät das Angebot der Kirchen zunehmend in Konkurrenz zu anderen Religions- und Sinnangeboten. Das Christentum hat seine Monopolstellung auf dem Markt der Daseinshilfe- und Lebenskunstphilosophien längst verloren.49 Religiöse und quasireligiöse, esoterische, philosophische, therapeutische, alternativ-medizinische, ökologische und andere Lebenskonzepte konkurrieren mit denen der traditionellen Kirchen. In dieser Wettbewerbssituation steht auch die Seelsorgearbeit der Kirchen. Die Menschen in unserer Gesellschaft scheinen auf die Angebote der Kirchen inklusive ihrer Verkündigung nicht mehr angewiesen zu sein. Was man früher nur beim Pfarrer bekam, kann nun in vielfältigen Verpackungs- und Darreichungsformen und nicht selten zu kleineren Preisen auch an ganz anderer Stelle erworben werden. Und es ist für die Kirchen schwer, zu marktgerechten Angebotspräsentationen zu kommen, ohne dabei die eigene Substanz zu riskieren.
•Ein anderer wichtiger Faktor hängt ebenfalls mit der Marktsituation zusammen. Für viele Menschen gilt heute auch in den Fragen der Einstellung zu Religion und Glauben als ein wichtiges Kriterium, was das für sie ganz persönlich bedeutet. Nur wegen der von einer Kirche vertretenen generellen positiven Werte (wie z.B. Liebe, Vergebung Gerechtigkeit) allein wird noch keine Bindung zu ihr eingegangen und gelebt. Vielmehr muss erkennbar werden: Was hat das eigentlich für mich für einen Wert und was hat das mit mir persönlich zu tun? Im Jargon gesprochen: „Was bringt mir das?“ Die unmittelbare Lebensrelevanz des Glaubens und einer Kirchenbindung ist vielen nicht mehr plausibel. Und es wird zunehmend schwieriger, dies plausibel zu machen.50 In der Zukunft könnte – gerade unter diesem Blickwinkel – der seelsorglichen Arbeit, die ja in besonderer Weise nach dem Einzelnen persönlich fragt, eine auch ekklesiologisch erhöhte Bedeutung zuwachsen.
•Schließlich muss man davon ausgehen, dass wir es bei dem kirchlichen Rezessionsprozess auch mit konkreten sozialen Umfeldabhängigkeiten zu tun haben. Wo das unmittelbare Bezugsfeld (Familie, Freunde, Berufskollegen, Mitschüler) nicht mehr kirchlich bzw. gläubig ist, legt sich auch für den Einzelnen die Absetzbewegung eher nahe. So ist wohl Detlef Pollack zuzustimmen, wenn er vor allem auf dem Hintergrund der ostdeutschen Erfahrung formuliert: „Das allgemeine religiöse Klima, das in einer Gesellschaft herrscht, übt einen starken Einfluss auf die Tradierungsfähigkeit des Christentums aus.“51 Das gilt natürlich besonders für die volkskirchlich begründete Mitgliedschaft in einer Kirche. Wo wie in der Mehrzahl der ostdeutschen Familien eine positive Beziehung zu den Formen des christlichen Glaubens und Lebens nicht mehr gegeben ist, wird die Entscheidung für Beibehaltung oder gar Neubegründung sehr viel unwahrscheinlicher sein als unter entgegengesetzten Bedingungen.52
Die unzweifelhaft zu beobachtenden Prozesse einer Entkirchlichung, die inzwischen auch zu weitreichenden Strukturentscheidungen der Kirchen führten, dürfen freilich nicht mit Resignation zur Kenntnis genommen werden. Die äußerliche Abwendung von der Kirche und die deutlichen Vorbehalte gegenüber den institutionellen Gestalten des Christentums sagen noch nicht alles?53 Es muss zunächst durchaus noch einmal gefragt werden, was die Menschen von der Kirche und den Gemeinden erwarten, und es ist darüber nachzudenken, welche konkreten Anstrengungen die Kirchen unternehmen müssen, um die nach ihrem eigenen Selbstverständnis für sie grundlegende Botschaft an die Menschen weiter wirkungsvoll zu vermitteln.54 Beide Fragen sind unbedingt auch in ihrer Verbindung zu dem uns vorrangig leitenden Interesse nach der Zukunft der Seelsorgearbeit unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft zu sehen. Ihre Beantwortung ist von daher ein Aspekt der hier vorgelegten Seelsorgelehre insgesamt.
Aus den jüngsten religionssoziologischen Untersuchungen wird deutlich, dass viele Menschen heute in der Kirche nicht mehr die umfassende Beheimatung erwarten, die unsere pastoralen Idealvorstellungen möglicherweise noch prägen. Totalidentifikationen mit der Kirche oder mit einer konkreten Gemeinde bilden eher die Ausnahme. „Identifikation erfolgt mehr und mehr über Betroffenheit, Interesse und Gelegenheit.“55 Das führt zu erwartungs- und interesseabhängigen Formen des Kirchenkontaktes und zu ganz unterschiedlichen Profilen von Kirchenbindung. An leitenden Erwartungen wären ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu nennen: lebenszyklische Begleitung (Amtshandlungen), politischsoziales Engagement (Gruppenaktivitäten), Kultur- und Bildungsinteressen (Kirchenmusik, christliche Kunst, kirchliche Bildungsarbeit), Frömmigkeitspraxis (spirituelle Gruppen, Gottesdienst), karitatives Engagement (Diakonie), Lebens- und Krisenhilfe (Seelsorge, Beratung). Alle diese unterschiedlichen Erwartungsprofile, die in sich noch einmal gruppen- oder generationenspezifisch zu differenzieren wären, haben wohl dies gemeinsam, dass sie letztlich in einem Zusammenhang mit mehr oder weniger ausdrücklichem Sinngebungsbedarf gesehen werden müssen. Wer, wenn nicht die kirchlichen oder religiösen Institutionen sind dafür zuständig, in den Krisen- und Kontingenzerfahrungen des Lebens auf die Sinn verleihenden Zusammenhänge hinweisen und hinführen zu können? Es ist bis zum Erweis des Gegenteils davon auszugehen, dass es in dieser Hinsicht auch bei denen einen Rest an Erwartungen gibt, die die institutionellen Brücken zur Kirche hinter sich schon lange abgebrochen haben.56 In der Seelsorge spielt darum die formelle