und Lebenswissen werden gleichsam auf dem Markt gehandelt. Es herrscht eine Konkurrenz der oft weit auseinander driftenden Angebote. Nebeneinander existieren sehr unterschiedliche Kunst- und Stilrichtungen – für nahezu jeden Geschmack und Lebensstil. Zur Bewältigung elementarer Lebensaufgaben – wie Gesundheitsvorsorge, Kindererziehung, Freizeitgestaltung – sind wir umworben von einer fast unübersehbaren Fülle multimedialer Ratgeber, Lebenskunstphilosophien und Weltanschauungslehren. Und auf dem Sozialhilfe- und Beratungsmarkt konkurrieren private, staatliche und kirchliche Institutionen mit ihrem je spezifischen Angebotsprofil. Religiöses und Parareligiöses, Psychologisches und Parapsychologisches, Esoterisches und Spätaufklärerisches liegt auf dem weltanschaulichen Warentisch nebeneinander und gelegentlich auch durcheinander. Der Einzelne muss sondieren, wählen, entscheiden. Das hat seine angenehmen, das Leben reich machenden und die individuellen Möglichkeiten erweiternden Aspekte. Aber es kann auch beunruhigen und den beschriebenen Verunsicherungseffekt verstärken. Mitunter befindet sich das Individuum in der Situation von Buridans Esel, der sich nur zwischen zwei Heuhaufen entscheiden musste, an dieser Anforderung jedoch scheiterte und verhungerte.
1.3Herausforderungen im vereinten Land
Seelsorge geschieht immer in einem geschichtlichen Kontext am konkreten Ort. Zu den kontextuellen Bedingungen gehören insbesondere die spezifischen Folgeerfahrungen nach der politischen Wende von 1989/90. Ein Vierteljahrhundert nach der deutschen Wiedervereinigung sind die veränderten politischen, kulturellen und sozialen Verhältnisse für die meisten Menschen zur Normalität geworden. Zumal die junge Generation in den neuen Bundesländern ist nicht mehr durch sozialistische Erziehung und einen DDR-spezifischen Lebensstil geprägt. Die Unterschiede im Lebensstandard verringern sich. Das Gefühl einer Zusammengehörigkeit wächst in der „Berliner Republik“, zumal dort wo der Blick zugleich auf Europa ausgerichtet ist. Es gibt große Herausforderungen wie z.B. die Energiewende und die ökonomischen Folgen der Globalisierung, die das ganze Land betreffen. Die Entwicklungsprobleme einzelner Regionen sind längst nicht mehr nur nach dem Ost-West-Schema verteilt.
Nichtsdestotrotz sind teilungsbedingte Verschiedenheiten nach wie vor spürbar und alltagsrelevant. Dass sie stärker im „Osten“ empfunden werden, liegt auf der Hand; denn im „Westen“ blieb nach 1990 aus der Bürgerperspektive alles weitgehend beim „Alten“. Noch gibt es ein – freilich inzwischen verringertes – Ungleichgewicht im Einkommensgefüge, auch ist die Zahl der Arbeitslosen im Osten höher. Erheblich sind nach wie vor die Unterschiede in den Vermögensverhältnissen. Viele, vor allem ältere Menschen in Ostdeutschland erleben ihre Situation noch als ungerecht. Aber wer klagt und sich möglicherweise immer einmal wieder gern seinen „ostalgischen“ Erinnerungen hingibt, möchte deshalb doch keineswegs in die alten Verhältnisse zurückkehren. Ambivalenz ist, mit Klaus Winkler zu reden, in besonderer Weise auch „Grundmuster“22 der ostdeutschen Seele.
Seelsorglich besondere Aufmerksamkeit verdienen einige nach wie vor erkennbare Unterschiede im Habitus, vor allem Selbst- und Kommunikationsverhalten. Westdeutsche verfügen in der Regel über wirksamere Formen der Selbstrepräsentation, achten sorgfältiger auf die Wahrung der Grenzen zwischen beruflicher und privater Kommunikation, sind vielfach auch besser in der Lage, streitbare Auseinandersetzungen zu bestehen.23 Freilich, die Unterschiede sind inzwischen geringer und werden je jünger die Generation desto weniger spürbar.
Nach der 40jährigen Trennungsgeschichte und dem unterschiedlichen Erleben der Jahre nach der friedlichen Revolution (1989) und Wiedervereinigung (1990) tritt nun wieder stärker die gemeinsame geschichtliche Vergangenheit ins öffentliche Bewusstsein. Dazu tragen die Erinnerungen an den Beginn des 1. Weltkrieges (1914) vor 100 Jahren und des 2. Weltkriegs (1939) vor 75 Jahren bei. Angesichts der immer wieder auftretenden Erscheinungen eines gewaltbereiten Rechtsextremismus ist es ein gesamtgesellschaftliches Erfordernis, an die grauenvollen Folgen des deutschen Nationalismus zu erinnern und das Gedenken an die Millionen Opfer der nationalsozialistischen Diktatur wach zu halten. Eine Fülle von Literatur und filmischen Dokumentationen dienen dem und werben für das Erinnern und gegen das Vergessen. In jüngster Zeit beginnt auch eine pastoralpsychologische Auseinandersetzung mit dem Holocaust und den in einzelne Familiengeschichten hineinwirkenden Verstrickungen mit dem nationalsozialistischen System.24 Auch die traumatisierenden Erfahrungen der letzten lebenden Generation des Zweiten Weltkriegs rücken noch einmal in das Blickfeld der Erinnerung.25 Dabei spielen dann in den persönlichen und familiären Auseinandersetzungen auch die ziemlich unterschiedlichen Erinnerungskulturen zwischen Ost und West nach 1945 noch einmal eine wichtige Rolle.
Die Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit hat gewiss heute nicht mehr die Brisanz und Intensität wie noch am Ende der 90er Jahre. Aber sie beschäftigt die Menschen vor allem in Ostdeutschland natürlich weiterhin. Dabei bestätigt sich, was Joachim Gauck 1998 diagnostizierte: „Die Wandlungen des Intellekts vollziehen sich recht schnell. Langsam nur ändern sich Haltung und Mentalität.“26 Dazu passen nach wie vor durchsichtige Selbstrechtfertigungsversuche und beflissene Anpassungsstrategien, und man ahnt, wie viel auch unbewusst in den Schutzraum des Verdrängten heruntersackt. Das ist menschlich und auch normal. In der Seelsorge, die immer auch biographisch arbeitet, spielt das gleichwohl und abseits aller Öffentlichkeit verständlicherweise nicht selten eine bedeutende Rolle. Besondere seelsorgliche Aufmerksamkeit verdienen in diesem Zusammenhang freilich diejenigen, die als Opfer des SED-Regimes bis heute seelisch und oft auch körperlich an den Folgen von Haft, Unterdrückung und psychischer Zermürbung leiden.27
Zu den nun wirklich ungeteilt gesamtdeutschen Befindlichkeiten gehört zweifellos all das, was unmittelbar oder mittelbar mit dem demographischen Wandel zu tun hat. Seit Anfang der 70er Jahre hat sich die Bevölkerungsstruktur in Deutschland kontinuierlich in einer Richtung verändert. Seit dem ist erstmalig die Sterberate regelmäßig höher als die Geburtenrate. Die Alterspyramide mutiert zu einer Art „Alterskelch“, der auf schmalen Füßen steht und sich nur langsam nach oben hin verdünnt. Die Anzahl der sehr alten und zunehmend pflegebedürftigen Menschen nimmt kontinuierlich zu. Die ständig wachsenden Kosten dafür müssen von einer immer kleiner werden Zahl von aktiven Arbeitnehmern erwirtschaftet werden. Der „Generationenvertrag“ droht zu erodieren. Was bisher sicher war, scheint ins Ungewisse zu kippen. Das belastet das Verhältnis der Generationen in der Gesellschaft und steigert Zukunftsängste besonders bei denen, die prekär oder im Niedriglohnsektor beschäftigt sind und nur eine geringe Altersrente zu erwarten haben.
Der demographische Wandel wirkt sich natürlich auch in anderer Weise auf die Lebensverhältnisse der Menschen aus. Die Familienstruktur verändert sich von einer eher horizontalen Struktur (viele Familienglieder in gleichen Generationen) zu einer mehr vertikalen (viele lebende Familienglieder in nacheinander liegenden Generationen). Die längere Lebensdauer führt zu einer erweiterten Jugendphase („Postadoleszenz“) und streckt die Altersphase („Viertes Alter“).28 Generell entstehen neue Herausforderungen an die Familie. Es ist eine gesellschaftliche und auch kirchliche Herausforderung, zur Lebensfähigkeit und Stabilität der Familien in ihren oft sehr unterschiedlichen Konstitutionen einen Beitrag zu leisten.29
Indirekt hängt mit dem demographischen Wandel auch das zusammen, was hier zuletzt als deutsche Befindlichkeit genannt werden soll: das Leben mit Ungleichheit. Das betrifft zunächst natürlich die am deutlichsten spürbaren ökonomischen Unterschiede. Im entwickelten Kapitalismus des 21. Jh. geht die Schere der Vermögen und Einkommen immer weiter auseinander. Das hat eine europäische Perspektive (wo es eine aufsteigende Skala von den ärmsten bis zu den reichen Nationen gibt), aber es hat auch eine innergesellschaftliche deutsche. Der Hinweis darauf, dass es vielen auf der Erde heute viel schlechter geht, stimmt hundertprozentig, hilft aber keinem, der hier am Limit lebt. „Arm sein in einem reichen Land hat eine andere Qualität als arm sein in einem armen Land.“30 Man muss keinen unrealistischen Gleichheitsidealen nachhängen, aber die faktischen Unterschiede überschreiten längst jedes Maß. Schlimmer noch sind die zunehmenden Erfahrungen von Desolidarisierung in unserer Gesellschaft. Armut führt oft in die Vereinzelung. Da wirkt dann die Lieblingsmaxime des Kapitalismus „Wer will, der kann auch!“ vergiftet und wie eine stumme Abschiebung.
Eine