Jürgen Ziemer

Seelsorgelehre


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in den Krankenhäusern, auf den Sozialämtern und zunehmend auch in Kirchen und Gemeinden. Menschen unterschiedlicher ethnischer, kultureller und religiöser Identität treffen sich. „Begegnen“ sie einander auch“? Die Fremden leben anders, oft sehr anders. Die Interkulturalität stellt zunehmende Herausforderungen an das Zusammenleben der Menschen dar. Sie muss heute gegen Fremdenhass und offene wie sublime Ausländerfeindlichkeit verteidigt werden. Die zunächst Fremden als „Gäste“ und als Bereicherung unseres Lebens zu begrüßen und sie nicht als Konkurrenten an den Sozialtöpfen der Gesellschaft zu diffamieren – dazu bedarf es gerade in der ostdeutschen Gesellschaft noch vieler Lernprozesse. Eine „kulturell sensible Seelsorge“31, die für die „Fremden“ offen ist, aber auch in die Inlandgesellschaft ausstrahlt, kann hier hilfreiche Dienste des Verstehens und der Integration leisten.

      Nirgendwo scheinen sich die mit der Modernisierung unserer Gesellschaft einhergehenden Veränderungen so drastisch und für die Einzelnen spürbar auszuwirken wie im ethischen Alltagsverhalten. An vielen Orten – vor allem in konservativen, nicht selten auch in kirchlichen Kreisen – wird keine Gelegenheit ausgelassen, über den Werteverfall und die Normenerosion in unserer Gesellschaft Klage zu führen. Ulrich Beck bringt die kritischen Fragen auf den Punkt: Sind wir eine „Gesellschaft der Ichlinge“? Befinden wir uns auf dem Wege in eine rücksichtslose „Egogesellschaft“?32

      Gewiss, es gibt Wahrnehmungen, die in solche Richtung weisen. Und das betrifft nicht nur die bürgerlichen Umgangsformen. Es sind allgemein rezipierte Einstellungsveränderungen wahrzunehmen, die tiefer reichen. Traditionelle Vorstellungen von dem, was moralisch richtig, anständig, wohlerzogen und vielleicht auch „christlich“ ist, haben an Plausibilität erheblich eingebüßt. Die persönliche Selbstverwirklichung und die Wahrnehmung der privaten Lebenschancen stellen für viele Menschen heute einen zentralen Steuerungswert dar. Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass wir uns auf eine „narzisstische Gesellschaft“33 zu bewegen. Demgegenüber werden gemeinschaftsbezogene Einstellungswerte im Sozialverhalten oft unterbetont. Solidarität – in einer Zeit lokal wie global zunehmender Knappheiten dringender denn je notwendig – scheint immer seltener zu werden. Steht zu befürchten, dass wir „wohlinformiert über Fernstes und Entlegenstes, zu Analphabeten der sozialen Nächstenliebe werden …“?34

      Solche pauschalen Vermutungen sind nicht unproblematisch. Anlass zu Klagen über allgemeinen Moralverfall gab es wohl zu jeder Zeit. Wichtiger scheint es zu erkennen, worin die Veränderungen der ethischen Grundeinstellung, der Normbildung und des Normgebrauchs heute begründet sind. Unter den Bedingungen der Individualisierung ist ja der Einzelne in viel höherem Maß verpflichtet, selbstverantwortlich zu entscheiden und zu handeln und sich für die Festigung und Erfüllung seiner Lebenschancen selbst einzusetzen. Die neuzeitlichen Freiheitserfahrungen, die sich im Individualisierungsprozess darstellen, können zugleich als eminente Herausforderungen für den einzelnen Menschen begriffen werden. Wenn Identität nicht mehr primär durch Zugehörigkeit (zu Familie, Kirche, Volk u.a.) erworben wird, sondern vom Individuum selbst erarbeitet werden muss, dann ist es nicht verwunderlich, dass auch im moralischen Verhalten die Akzente anders gesetzt werden. Dieses wird nun viel stärker „selbstbestimmungsabhän ig“, wie Hermann Lübbe35 sagt. Und das Individuum folgt dabei keineswegs immer den bisher allgemein akzeptierten traditionellen Normvorgaben. Der Einzelne sieht sich oft sehr unterschiedlichen Normansprüchen gegenüber, und er muss zwischen ihnen seine Wahl treffen. „Modernität schafft eine neue Situation, in der das Aussuchen und Auswählen zum Imperativ wird“, schreibt Peter Berger.36 Und er sieht das Individuum angesichts der normativen Unsicherheiten, denen es ausgesetzt ist, als einen „nervösen Prometheus“, weil es geradezu „zur Freiheit verdammt“37 ist.

      Während Berger vor allem die Anstrengungen der Freiheit betont, die sich für das ethische Subjekt in der Moderne ergeben, werden von Ulrich Beck und seinen Mitstreitern eher deren Chancen wahrgenommen. Im Gegensatz zum allseits üblichen Lamento über den Werteverfall besonders bei jungen Menschen fragt Beck, ob nicht die Moderne als eine Herausforderung zur ethischen Synthese begriffen werden muss. Diese nennt er den „altruistischen Individualismus“, und das bedeutet: Die „Kinder der Freiheit praktizieren eine suchende, eine versuchende Moral, die verbindet, was sich auszuschließen scheint: Selbstverwirklichung und Dasein für andere, Selbstverwirklichung als Dasein für andere“38.

      Ob das auch eine zutreffende Realitätsbeschreibung ist, darüber mag man verschiedener Meinung sein. Aber es könnte im Sinne einer positiven Projektion zu einer neuen Sichtweise verhelfen.39

      Die Veränderungen im Blick auf das moralische Verhalten bewirken neue Einstellungen zu dem, was unbedingt für wert erachtet wird?40 Statt etwa Pünktlichkeit und Ordnung im traditionell erwünschten Sinne zu erbringen oder alles daran zu setzen, eine gesicherte und vor allem wohl dotierte berufliche Position zu erringen, finden es viele junge Leute heute wichtiger wirklich zu leben, Freundschaften zu pflegen, Zeit füreinander zu haben, Gespräche zu führen, Gefühle auszutauschen. Phantasiereiches und engagiertes Beziehungsverhalten wird für wertvoller erachtet als die Erfüllung herkömmlicher Normen partnerschaftlichen Verhaltens. Sich für die Gesundung und Gesunderhaltung der ökologischen Umwelt einzusetzen, bedeutet vielen mehr als ein politisches Engagement in Parteien und Vereinen?41

      Viele Konflikte ergeben sich mit jungen Menschen, weil die neuen Paradigmen ethischen Verhaltens von der älteren Generation nicht respektiert oder gar nicht erst als solche erkannt werden. Es ist wichtig, moralisches Verhalten heute nicht am Erreichen statischer Normwerte aus der Vergangenheit zu beurteilen. Gerade für diejenigen, die im Geiste eines protestantischen Unbedingtheitsideals aufgewachsen sind, ist es schwer, moralisch werthaltige und sozial verantwortliche Verhaltensweisen auch bei denen anzuerkennen, die dabei zugleich ihre eigenen Vorteile mit zu berücksichtigen verstehen. In Wirklichkeit mögen solche Einstellungen ehrlicher sein als mancher Scheinaltruismus, der mitunter Verhaltensweisen einer moral correctness begleitet.

      Ein besonders vieldiskutiertes Feld der „neuen Moral“ ist das Verhalten der gegenwärtigen jungen Generation in sexuellen Fragen und im Blick auf Ehe und Familie. Die Einstellungen zur Sexualität sind heute weithin offener und freier als in früheren Generationen; dazu haben nicht unwesentlich die modernen Methoden der Empfängnisverhütung beigetragen. Auch Homosexualität ist in unserer Gesellschaft als Anlage und Lebenspraxis inzwischen anerkannt. Hier klafft freilich in vielen Teilen der Gesellschaft noch ein Graben zwischen rechtlich-offizieller und persönlicher Akzeptanz. Das wird in Familien deutlich, wenn sich unerwartet ein Familienglied als lesbisch oder schwul outet, oder in Kirchgemeinden, wenn es darum geht ob ein gleichgeschlechtliches Paar ins Pfarrhaus ziehen darf. Unterschiedliche Auffassungen stehen sich besonders dann gegenüber, wenn es um die Ehe geht. Die hohe Quote der Ehescheidungen (mehr als die Hälfte der geschlossenen Ehen) und die Tatsache vielfältiger alternativen Partnerschaftsund Familienformen rühren faktisch am Primat der Eheform. Die Kirchen, aber nicht nur sie halten unverbrüchlich daran fest. Dazu haben sie gute biblische und ethische Gründe. Es darf freilich nicht dazu führen, dass Einzelne, Paare und Familien, die in freier Verantwortung andere Lebenslösungen gewählt haben, sich darin diskreditiert fühlen müssen. In dieser Hinsicht muss man es verstehen, wenn in der schon erwähnten Orientierungshilfe der EKD von 2014 die besondere Verantwortung für die Stärkung der Familien hervorgehoben wird, unabhängig vom Status der jeweiligen Paarbeziehung.

      Um Missverständnisse auszuschließen, sei betont, dass die sich abzeichnenden Konturen einer „neuen Moral“ keineswegs alle ethischen Probleme, die sich heute für das Individuum stellen, lösen. Die hohe Anforderung, in der jeweiligen konkreten Situation nach angemessenen Handlungsmaßstäben zu suchen, bleibt erhalten. Sie wird heute eher verstärkt durch technologische Möglichkeiten, bei deren Realisierung das Menschenwohl und die Menschenwürde auf dem Spiel stehen. Der ethische Diskurs gehört zu den Notwendigkeiten des Alltags der Individuen. Hier zeichnen sich neue Aufgaben und Dimensionen für die Seelsorge ab.