Jürgen Ziemer

Seelsorgelehre


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Auswirkungen auf die Rolle von Religion und Kirchen in der modernen Gesellschaft. Die Kirchen sind in der Gefahr, ihre tragende Funktion für die Gesellschaft (die sie jedenfalls in den alten Bundesländern bisher noch innehatten) zu verlieren. Sie sind nicht mehr im Status einer selbstverständlichen Gegebenheit präsent, sie müssen vielmehr ihre Existenz immer wieder durch den Erweis ihrer tatsächlichen Relevanz als sinnstiftender Instanz für die Gesellschaft begründen.

      2. Der Einzelne auf sich gestellt – Individualisierung

      Es deutet sich schon an, dass der beschriebene Differenzierungsprozess in unserer Gesellschaft auch bedeutsame Konsequenzen für den einzelnen Menschen hat. Die hier relevanten Beobachtungen werden in dem soziologischen Terminus der Individualisierung zusammengefasst. Individualisierung bedeutet, dass für den Einzelnen einerseits die überkommenen Traditionen mit ihren sinnstiftenden und normsetzenden Vorgaben an Prägekraft deutlich eingebüßt haben, und dass sich andererseits die Einbindungen in die herkömmlichen sozialen Institutionen und Formationen (Familie, Schicht, Klasse, Kirche) signifikant gelockert haben.10 Damit wird für den Einzelnen zunächst ein deutlicher Freiheitsgewinn spürbar. Der eigene Entscheidungsspielraum im Blick auf die persönliche Lebensgestaltung, die berufliche Selbstverwirklichung, die politischen, religiösen oder kulturellen Engagements ist erheblich gewachsen. Aber an die Stelle der alten Bindungen, die auch Orientierung und Geborgenheit boten, können schnell neue Abhängigkeiten treten: z.B. von aktuellen Marktlagen und Konsumgewohnheiten, von den infrastrukturellen Gegebenheiten der Lebensregion, vom bürokratisch-rechtlichen Ordnungssystem, vielleicht auch von unterschiedlichen Beratungsinstitutionen und Lebenshilfeangeboten, denen sich das Individuum in seiner Orientierungsnot anvertraut. Entscheidend ist: Der Einzelne muss die Auseinandersetzung damit jetzt für sich selbst erledigen, er muss versuchen, seine Identität aus sich selber heraus zu definieren. Diese ist nicht mehr wie früher schon durch die traditionellen Zugehörigkeiten (Familie, Beruf, Klasse, Konfession) gegeben. Besonders einschneidend und auffällig wirkt sich Individualisierung im Bereich der familialen und partnerschaftlichen Lebensformen aus. Die Anziehungskraft traditionaler Familienstrukturen lässt spürbar nach. Singleexistenzen11, nichteheliche Lebensgemeinschaften, Patchwork-Familien und ähnliches – das sind neue Lebensformen12, die im Prozess der Individualisierung zunehmend an Bedeutung gewinnen.

      3. Immer Tempo voraus! – Zeitstrukturen in der Leistungsgesellschaft

      Zeit ist ein unerhört kostbares Gut in der modernen Gesellschaft. Wer daran spart, gewinnt. Wer sie verschwendet, verliert. Wer in abhängiger Beschäftigung arbeitet, spürt freilich weniger direkt materiellen Gewinn und Verlust, sondern eher den ungeheuren Zeitdruck. Alles muss schnell gehen, denn die Konkurrenz schläft nicht. Der technologische Fortschritt, der so viel Zeitersparnis möglich macht, führt keineswegs zu zeitlicher Entlastung, er steigert eher die Komplexität der Arbeitsabläufe und verstärkt das Gefühl der Zeitknappheit. Hartmut Rosa hat unter dem Begriff der „Beschleunigung“ beschrieben, wie sich die Zeitstrukturen der Moderne verändern.13.

      Die neuen Zeitstrukturen bewirken, dass das Heute immer stärker durch das Morgen bestimmt wird, weil Wachstum der unbedingte Imperativ der modernen Ökonomie ist. Das biblische „Sorget nicht für morgen“ (Mt 6, 34) wirkt dagegen antiquiert oder utopisch – wie man will.

      Gestern ist vergangen, morgen ist das Richtmaß. Das gilt nicht nur von der Zeit und den Produkten. Auch der „Marktwert“ von Arbeitskräften ergibt sich weniger aus Erfahrungen auf Grund erbrachter Leistungen als auf einem „Fähigkeitspotential“, das in die Lage versetzt mit immer neuen Herausforderungen und Bedingungen konstruktiv umzugehen.14 Wo Zeit eine immer kostbarere Ressource ist, sind „flexible“ Menschen15 nötig, fähig, sich immer neu einzustellen und umzustellen. Bei diesen Anforderungen freilich bleibt mancher auf der Strecke – abgedrängt von den Erfolgsspuren des beruflichen Lebens und mit leicht auszumalenden weiteren Folgen für Seele und Leib.

      Die Strukturen permanenter Beschleunigung haben es an sich, sich auch des privaten Zeitumgangs der Menschen zu bemächtigen. Auch hier gilt die Momo-Weisheit ungemindert: „Je mehr Zeit wir sparen, desto weniger Zeit haben wir.“16 Klug ist, wer es versteht, sich dagegen zur Wehr zu setzen und für Unterbrechungen und Ruhepausen zu sorgen. Oft freilich sind im Alltagsstress auch die „Zeitoasen“ – paradoxerweise – nur zu erreichen, wenn man sich beeilt!

      4. Geschlechterdifferenzierung: Die Gender-Perspektive

      Zu den zweifellos herausragenden Veränderungen in unserer Gesellschaft gehört der Prozess einer neuen Geschlechterdifferenzierung. Die heute veränderte Rolle der Frauen muss auf dem Hintergrund der Individualisierungsvorgänge begriffen werden, die im 19. Jahrhundert einsetzten. Damals brachte die Industrialisierung und eine mit ihr verbundene moderne Arbeitsorganisation (Arbeitsteilung!) vor allem für die Männer ein höheres Maß an Selbstverwirklichungschancen: Sie arbeiteten nun außerhalb und konnten so ihren Erfahrungshorizont Tag für Tag erweitern. Sie hatten besseren Zugang zu Ausbildungsangeboten, sie verdienten den Lebensunterhalt der Familie, gewannen damit gewollt oder nicht gewollt eine höhere Machtstellung und sie erwarben sich Freiräume der Selbstgestaltung nach getaner Arbeit (wobei weitgehende schichtspezifische Unterschiede zu berücksichtigen bleiben!). Anders die Frauen: Sie hatten an der Individualisierung als persönlichem Freiheitsgewinn kaum Anteil. Elisabeth Beck-Gernsheim beschreibt die Situation so: „Der weibliche Lebenszusammenhang wird im 19. Jahrhundert nicht erweitert, sondern im Gegenteil: enger begrenzt auf den Binnenraum des Privaten. Neben der physischen Versorgung der Familienmitglieder wird vor allem auch die psychische zur besonderen Aufgabe der Frau – das Eingehen auf den Mann und seine Sorgen, das Ausgleichen in familiären Spannungssituationen … Je mehr der Mann hinaus muss in die feindliche Welt, desto mehr soll die Frau ‚voll und rein und schön‘ bleiben …“17. Inzwischen hat ein mehr als 100 Jahre langer Kampf um die rechtliche, soziale, politische und kulturelle Gleichstellung der Frauen spürbare Veränderungen im Geschlechterverhältnis heraufgeführt. Die Frauen vollziehen den bisher „fast ausschließlich Männern vorbehaltenen Individualisierungsschub und holen auf ihre Weise nach: mit Erwerbsarbeit, Ausbildung, Berufsleben, Hochschulbildung, Alleinleben, Alleinerziehung, ebenso wie Scheidung, Verzicht auf Kinder, Verzicht auf Ehe und Verzicht auf Heterosexualität – um nur einige Stichworte zu nennen.18 Diese nachholende Individualisierung der Frauen hat weitreichende Konsequenzen. Viele traditionelle, gerade auch in der Kirche verankerte Vorstellungen von der Rolle der Frauen erweisen sich als gesellschaftliches „Konstrukt“.19 Der auf dem angelsächsischen Boden entstandene Begriff „Gender“ wird für die Bestimmung der Geschlechterrolle maßgebend. Es geht dabei um die gesellschaftlichen Zuschreibungen. Die überkommenen Klischees der Zuordnung von Frau und Mann in Ehe und Familie, in Beruf und Gesellschaft werden hinterfragt. Das neu erstrittene Recht auf die Verwirklichung der eigenen Vorstellung von persönlicher Identität und erfülltem Leben bringt herkömmliche Beziehungsmuster ins Wanken. In vielen seelsorglichen und beraterischen Gesprächen mit Paaren spielen die Probleme, die sich aus dem gewachsenen Lebensgestaltungswillen der Frauen ergeben, eine herausragende Rolle. Viele Männer und viele traditionell von der Männerrolle her geprägte Institutionen haben Schwierigkeiten, sich darauf einzustellen. Ein besonderes Problem stellen in diesem Zusammenhang die Gewaltübergriffe gegen Frauen dar. Frauen treten heute eher aus der Unsichtbarkeit und dem Schweigen heraus. Gewalthandlungen gegen Frauen werden in der Gesellschaft bewusster wahrgenommen. Dennoch wird Gewalt (und sei es in subtilen Formen des mobbing) in manchen Fällen immer noch als Mittel angesehen, verlorenes Terrain zurück zu erobern und die früheren „strukturellen Herrschaftsverhältnisse“ zwischen den Geschlechtern zu erhalten.20 Das ist besonders auf dem angespannten Arbeitsmarkt deutlich – unter anderem auch durch die Entwertung der so genannten Frauenberufe.

      Der Prozess der Gleichstellung und Gleichachtung von Männern und Frauen ist noch keineswegs zum Abschluss gekommen. Für diesen Zusammenhang darf gerade im seelsorglichen Handeln die Aufmerksamkeit nicht geringer werden.21

      5. Markt der Lebenshilfe – als Folge kultureller Pluralisierung

      Neben der Individualisierung und zugleich in engem Zusammenhang mit ihr spielt in der modernen Gesellschaft auch der Prozess wachsender kultureller Pluralisierung eine profilbestimmende