– all das ist nicht nur eine Sache von Helden, sondern als grundlegendes Themenspektrum von Welt und Gesellschaft präsent.
2.4 Die Heldenauswahl dieses Bandes
In unserem Band stellen wir keine als makellose Vorbilder präsentierbaren Musterhelden vor. Vielmehr hat jeder der ausgewählten Helden seine spezifische Geschichte, die ihn grundsätzlich oder mindestens vorübergehend als wenig vorbildlich erscheinen lässt. Nicht immer nehmen solche Helden Rücksicht auf gesellschaftliche Werte, ganz im Gegenteil: Die Widerständigkeit der Helden kann ihre Integration in die Gesellschaft bisweilen scheitern lassen.
Das Nachdenken über diese schillernden Heldenfiguren bietet Schülerinnen und Schülern die Chance, Erfahrungen mit positiver oder negativer Selbstprofilierung, Erlebnisse mit dem eigenen ‚Stand‘ in der sozialen Gruppe gedanklich zu bearbeiten, ohne sie direkt zu thematisieren. Das gemeinsame Gespräch über Literatur und die in ihr verhandelten Heldenkonzepte begreifen wir als besonders geeignete Möglichkeit für Schüler und Schülerinnen, Erfahrungen von ‚Ich‘ und ‚Wir‘ im geschützten ‚Als-ob-Raum‘ fiktionaler Literatur zu thematisieren und Konzepte von Individualität zu reflektieren, ohne dass bei diesem biografisch sensiblen Thema persönliche Erlebnisse oder eigene Entwürfe preisgegeben werden müssten. Wir erwarten zudem, dass eine besondere Faszination für Jugendliche darin liegt, dass sie eigene Fragen nach dem Verhältnis von Ich und Welt in einer unvertrauten, aber doch zugänglichen Kultur und Sprache erkennen.
Jede der von uns ausgewählten mittelalterlichen Heldengeschichten zeigt in unterschiedlicher Akzentuierung einen ‚schwierigen‘ Helden, dessen Taten und Erfahrungen ihn herausheben, vereinzeln, ihn sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht zu einem Besonderen machen. Der Held wird in seinen verschiedenen Ausprägungen grundsätzlich in der Polarität zwischen Exemplarität einerseits und nicht einholbarer Einzigartigkeit andererseits für didaktische Reflexionen erschlossen und das Themenfeld in seiner Vernetzung mit überzeitlichen sozialen Grundthemen dargestellt, wie z.B. mit Fragen nach der Selbstformung bzw. Identitätsfindung, nach dem Verhältnis von Ich und Gruppe oder nach den Begründungsmöglichkeiten von ethischen Ansprüchen.
Aus der mittelhochdeutschen epischen Literatur haben wir folgende Helden ausgesucht:3 Sîfrit4 (Nibelungenlied, um 1210), Roland (Rolandslied des Pfaffen Konrad, um 1175), Willehalm (Willehalm des Wolfram von Eschenbach, um 1215), Tristan (Tristan des Gottfried von Straßburg, um 1210), Herzog Ernst (gleichnamiger Roman eines unbekannten Autors in der Fassung B, um 1210) und Iwein (Iwein des Hartmann von Aue, um 1205).
Mit Ausnahme des Rolandslieds entstammen alle gewählten Werke der Blütezeit der höfischen Literatur in Deutschland, die sowohl durch hohe sprachliche und erzählerische Qualität als auch durch die Erschließung komplexer Themen auf anspruchsvollem Niveau gekennzeichnet ist. Die Konzentration auf den Protagonisten der jeweiligen Werke (im Falle des Nibelungenliedes: auf eine der zentralen Gestalten) ermöglicht eine genaue Profilierung des jeweiligen Heldentyps vor dem Hintergrund der oben skizzierten Überlegungen zur Semantik des Heldenbegriffs und zu den universalen Strukturen des Heldenschemas. Zugleich bietet die Figur des Protagonisten auch die Möglichkeit des Zugriffs auf das in den Epen bzw. Romanen grundsätzlich verhandelte Thema, nämlich das Verhältnis zwischen dem mit individuierenden Zügen ausgestatteten Einzelnen und der Gesellschaft.
Drei Aspekte sind dabei von zentraler Bedeutung: Die Einsamkeit des Helden, sein Geltungsbedürfnis und sein Hang zur Selbstüberschätzung. Sie sind bei jedem unserer Helden anders akzentuiert und ziehen unterschiedliche Konsequenzen nach sich. Dabei ergeben sich Erkenntnisse aus einem Vergleich der Protagonisten der unterschiedlichen Werke: Sîfrit stellt seine unter anderem am Hortbesitz erkennbare Überlegenheit unbekümmert-übermütig zur Schau und glaubt nicht an eine ihm daraus erwachsende Bedrohung, obwohl er eine verwundbare Stelle hat. Herzog Ernsts außerordentliche, wenn auch im Gegensatz zu Sîfrit nicht übernatürliche Begabung und seine daraus resultierende steile Karriere bei Hofe ziehen Neid und eine Intrige nach sich, der er fast zum Opfer fällt. Im Gegensatz zu Sîfrit gelingt hier aber die Re-Integration in die Gesellschaft. Tristan wiederum zelebriert seine Exzellenz auf allen Gebieten, weil sie das Signum seiner Identität ist. Dafür nimmt er die Einsamkeit in Kauf, für die er im weiteren Verlauf der Geschichte mit Isolde eine kongeniale Gefährtin findet. Die Gefährtin, die Willehalm als Kriegsgefangener im Orient gefunden hat, bedingt seine Einsamkeit: Die auf den Namen Giburg getaufte orientalische Prinzessin, die ihren Ehemann verließ und mit Willehalm nach Frankreich floh, provoziert einen Krieg. Darin befinden sich Giburg und Willehalm in einer schmerzlichen Zwischenposition zwischen den christlichen Verwandten Willehalms und den orientalischen Giburgs, die sich auf beiden Seiten durch militärische Heldentaten auszeichnen und wechselseitig blutig niedermachen. Roland wiederum kann sich im Kampf gegen die Heiden auszeichnen, da sie ihm Glaubensfeinde und keine Verwandten sind. Durch sein fanatisches, rücksichtslos auf den Märtyrertod ausgerichtetes Verhalten verschuldet er allerdings den Tod aller seiner Leute. Der Leichtsinn und die Selbstüberschätzung ihres Anführers kostet auch die meisten der Gefährten von Herzog Ernst das Leben, jedoch erhält er eine zweite Chance, um zu zeigen, dass er verantwortungsbewusst handeln kann. Auch Iwein kann nach ichbezogenem, gedankenlosem Verhalten, das zu Identitätsverlust und der Einsamkeit des Wahnsinns führt, durch Hilfe von außen diese Krise überwinden und seinen verlorenen Status neu gewinnen und ausfüllen. Die Geschichte dieses letzten Helden wurde kürzlich von der Büchner-Preisträgerin Felicitas Hoppe mit dem Titel Iwein Löwenritter neu erzählt. Der Vergleich der mittelhochdeutschen Vorlage mit der aktuellen Adaptation eröffnet Ideen und Möglichkeiten für eine Behandlung des Stoffes in der Sekundarstufe 1.
2.5 Helden auf Mittelhochdeutsch
Im Umgang mit der von uns vorgestellten Literatur aus der Zeit um 1200 empfehlen wir grundsätzlich die Arbeit mit zweisprachigen Ausgaben, da auf diese Weise die Differenz zwischen der heutigen deutschen Sprache und dem Mittelhochdeutschen sofort augenfällig wird. Aller Erfahrung nach haben Schüler und Schülerinnen wenig Berührungsängste mit der älteren Sprachstufe. Regelmäßigkeiten im Sprachwandel wie die neuhochdeutsche Diphthongierung (mhd. î, iu, û > nhd. ei, ü, au; Merksatz mîn niuwez hûs > mein neues Haus) und die neuhochdeutsche Monophthongierung (mhd. ie, uo, üe > nhd. i, u, ü; Merksatz liebe guote brüeder > liebe gute Brüder) erkennen sie anhand von Beispielketten schnell und wenden sie an, um die Fremdheit des mittelhochdeutschen Textes zu reduzieren.5
Damit die Schülerinnen und Schüler das Verhalten des jeweiligen Helden beurteilen können, ohne dabei nur vom eigenen Gerechtigkeitsempfinden auszugehen, findet in den Einzelkapiteln an relevanten Stellen die Inszenierung des Helden durch seinen Erzähler gesonderte Berücksichtigung. Wie in modernen Erzähltexten arbeiten nämlich auch die mittelalterlichen Autoren mit den Effekten, die z.B. durch den Wechsel zwischen auktorial geprägten und personal präsentierten Erzählpassagen oder durch die ungleiche Verteilung von Figurenwissen und Leserwissen mit Blick auf die Leserlenkung entstehen. Die Anwendung gängiger Fachbegriffe der Erzählanalyse kommt also auch bei der Interpretation vormoderner Erzähltexte gewinnbringend zum Einsatz: Vorausdeutungen und Rückblenden, explizite Erzählerwertungen und Leseransprachen, aber auch Figurenreden und scheinbar neutral gehaltene Beschreibungen steuern die Rezeption damaliger wie heutiger Rezipienten.
Um Missverständnissen vorzubeugen, die sich aus der historischen Differenz ergeben, wird im Verlauf der Kapitel ein Grundinventar an mittelalterlichen Sachbegriffen erarbeitet. Die Begriffsklärungen ermöglichen auch Einblicke in das mittelalterlich-feudale Gesellschaftssystem. Querverweise sorgen dafür, dass nicht jeder Begriff in jedem Kapitel ausführlich erläutert werden muss. In einem Glossar werden außerdem die wichtigsten Begriffe verzeichnet und erklärt (Kapitel 9). Hier lässt sich eine literaturwissenschaftlich ausgerichtete Unterrichtsreihe ohne großen Aufwand um sprachgeschichtliche Elemente erweitern, indem Phänomene des Sprachwandels (Laut- und Bedeutungswandel) anhand der von uns dokumentierten Beispiele erarbeitet werden. So sind z.B. triuwe und ‚Treue‘, milte und ‚Milde‘, êre und ‚Ehre‘ diachron betrachtet dieselben Wörter. Sie haben aber sowohl hinsichtlich ihrer äußeren Gestalt (Lautwandel oder Wandel der