Andreas Weigl

Bevölkerungsgeschichte Europas


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schon in der Antike verbreitet – eine relativ vollständig erhaltene „Volkszählung“ reicht in China sogar in das Jahr 2 n. Chr. zurück (Scharping 2005: 1). Von modernen Volkszählungen kann jedoch in der Regel erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesprochen werden. In den skandinavischen Ländern seit dem 18. Jahrhundert durchgeführte Erhebungen – im Jahr 1703 in Island, 1720 in Schweden, 1721 in Finnland und 1735 in Dänemark und Norwegen (Imhof 1976: 75, 267) – können als die frühesten Zählungen dieser Art angesehen werden. In Italien bis in das Spätmittelalter, in den meisten europäischen Ländern jedenfalls bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts zurück reichen regelmäßige Erhebungen der Geburten und Sterbefälle. Modernen Ansprüchen gerecht wurden sie jedoch zumeist erst im 18. Jahrhundert, da sie nun auch eine entsprechende Ausweitung auf alle Bevölkerungsgruppen, einschließlich konfessioneller Minderheiten, erfuhren und auch in den ersten Lebenstagen verstorbene Säuglinge vollständig erfassten. Hingegen stellt die Erfassung von Migrationsbewegungen zum Teil bis in die Gegenwart ein statis­tisches Problem dar, weil nicht gemeldete Wegzüge für eine systematische Untererfassung der Abwanderung sorgen. In der Vergangenheit lassen sich Migrationsbewegungen häufig überhaupt nur als Restgröße

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      Der Zusammenhang zwischen der Qualität der genannten Erhebungen und dem Entwicklungsstand der administrativen Durchdringung des Staatsgebietes wird bei den Vorläufern moderner Volkszählungen in Europa besonders deutlich. Dabei handelte es sich um Kon­skriptionen, die im Zusammenhang mit aufgeklärt-absolutistischen Staatsreformen in größerer Zahl durchgeführt wurden und den Anspruch der vollständigen Erfassung der Bevölkerung erhoben. Tatsächlich dienten sie jedoch mehr oder minder verdeckten militärischen und fiskalischen Zwecken. Zudem waren sie der fürstlichen Arkanpraxis unterworfen und ihre Ergebnisse daher einem breiteren Publikum nicht zugänglich. Ein gutes Beispiel solcher Konskriptionen sind die in der Habsburgermonarchie seit 1754 durchgeführten Zählungen, obwohl deren erste durch das Zusammenspiel und die Abgleichung parallel durchgeführter staatlicher und kirchlicher Erhebungen eine vergleichsweise hohe Qualität besitzt. Größter ­Mangel dieser Erhebungen ist die häufige Untererfassung von Frauen und Kindern und von umherziehenden, hochmobilen Bevölkerungsgruppen. Zudem hatten die zu erfassenden männlichen Personen im Rekrutenalter gute Gründe, sich der Zählung wenn möglich zu entziehen, ein Problem, welches die Durchführung der Konskriptionen bis zu ihrem Ende begleiten sollte (Tantner 2007: 202 – 219). Der enge Zusammenhang zwischen Staatsmacht, bürokratischer Durchdringung und Qualität der gewonnenen Daten zeigt sich auch in außereuro­päischen Reichen und Staaten. In China fanden im betrachteten Zeitraum eine ganze Reihe von Bevölkerungserhebungen statt, wobei die Zahlen der Zählungen der Jahre 606, 742 und 1776 wahrscheinlich die Bevölkerungszahl mit einem Fehler von unter 10 % wiedergeben. Im krisenhaften 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erlauben hingegen die angesichts der schwachen Zentralmacht sehr lückenhaften Erhebungen nur mehr ganz grobe Schätzungen der chinesischen Bevölkerung. Die erste

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      Volkszählung, die modernen Standards entsprach, stammt erst aus dem Jahr 1953 (­Scharping 2005: 1 – 3).

      Im Zeichen von Reformation und Gegenreformation gingen den Kons­kriptionen des 18. Jahrhunderts aus militärischen, fiskalischen, kirch­lichen, aber auch aus politischen und versorgungstechnischen ­Zwecken durchgeführte vorstatistische Erhebungen voran, die auch meist sekundärstatistischen Charakter trugen, d. h., sie werden erst durch moderne Bearbeitung und Aggregierung zu einer verwertbaren quantitativen Quelle. Ein prominentes Beispiel ist das Soupis poddaných podle víry, das „Untertanen-Verzeichnis nach dem Glauben“, aus dem Jahr 1651, welches etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung der böhmischen Länder erfasste (Cerman / Matušiková / Zeitlhofer 1999). Diese und andere Zählungen erfassten häufig nur Personen ab dem 8. oder ab dem 12. Lebensjahr. In Einzelfällen, wie z. B. im Herzogtum Steiermark, fanden jedoch auch kirchliche Erhebungen statt, die nahezu als Gesamterhebungen zu betrachten sind (Straka 1961).

      Das Problem der Untererfassung stellte sich organisatorisch in geringerem Ausmaß in überschaubaren territorialen Einheiten oder bei der Erfassung von Teilpopulationen. So wurde etwa die erste moderne Volkszählung im Jahr 1665 in Neu-Frankreich (Kanada) durchgeführt. Sie erfasste allerdings nur die nicht indianische Siedlerbevölkerung. Die ältesten dieser kleinräumigen Zählungen reichen aber wesentlich weiter zurück. Regelmäßige Bevölkerungszählungen fanden beispielsweise in Venedig spätestens ab dem Jahr 1509 statt (Cipolla 1988: 3). Die Ergebnisse der Zählung von 1509 haben sich aber nur teilweise erhalten (Beloch 1961: 5 – 7). Eine ganze Serie von Zählungen, die um die Mitte des 16. Jahrhunderts in verschiedenen italienischen Territorien durchgeführt wurden, erfasste immerhin schon erhebliche Teile des Landes, so etwa das Großherzogtum Toskana, zur Gänze. Überhaupt stellen die in der Folge auch im 17. und 18. Jahrhundert in den italie­nischen Territorien durchgeführten Zählungen eine Ausnahme dar, erlauben sie doch eine erstaunlich präzise Rekonstruktion der italienischen Bevölkerungsgeschichte, die auf echten Zählungsergebnissen beruht (Beloch 1961: 350 – 356). Eine frühe vollständige Erfassung einer größeren Stadtbevölkerung, die sich annähernd mit der Genauigkeit

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      moderner Volkszählungen messen kann, liegt aber auch etwa für die Stadt Nürnberg für das Jahr 1449 vor (Rödel 1990: 17).

      Für kleine territoriale Einheiten lassen sich jedoch noch weiter in die Vergangenheit zurückreichende große sekundärstatistische Erhebungen anführen. Die frühesten stellen vier Güterverzeichnisse aus karolingischer Zeit dar, wobei das Polyptychon von Saint-Germain-des-Prés (825 – 829) die größte Bedeutung besitzt. Dabei handelt es sich um ein grundherrschaftliches Güterverzeichnis von insgesamt 25 Villikationskomplexen des Klosters im Raum Paris, welches etwa 1.700 Bauernstellen und mehr als 10.000 Personen der dazugehörigen untertänigen Bevölkerung namentlich erfasst, nicht jedoch landlose ländliche Unterschichten, Lohnarbeiter und Freie (Verhulst 2002: 23 f.; Elmshäuser / Hedwig 1993: 1, 29, 31).

      Die natürliche Bevölkerungsbewegung dokumentieren in der europäischen Bevölkerungsgeschichte in erster Linie von den Kirchen geführte Tauf, Heirats- und Sterbematriken, die seit dem späten 14. Jahrhundert in Italien, Spanien und Städten des deutschen Sprachraums geführt wurden (Youngs 2006: 12). Die Matriken von Florenz sind sogar vollständig ab 1451 erhalten (Beloch 1965: 137). Im Allgemeinen wurde die Führung von Matriken in Europa jedoch erst im konfessionellen Zeitalter eingeführt. Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts setzte sich die Matrikenführung im katholischen und protestantischen Europa weitgehend durch. Unschärfen und Untererfassungen begleiteten sie allerdings bis in das 18. Jahrhundert. In einzelnen Fällen haben sich auch Totenprotokolle, die zum Zweck der Seuchenprävention geführt wurden, in langen Zeitreihen erhalten. Die bedeutendsten sind wohl die bis in die Regierungszeit Heinrichs VIII. zurückreichenden Londoner Bills of Mortality und die Wiener „Totenbeschauprotokolle“ (erhalten ab 1648).

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      Abbildung 1 Die erste Seite des ersten erhalten gebliebenen Bandes der Wiener Totenschauprotokolle mit Eintragungen vom 22. August 1648 (Abbildungsnachweis)

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