Zeit stammten (Old Poor Law). Im Gegensatz zu einigen philanthropischen Aufklärern agitierte Malthus gegen die Armenhilfe, würde sie doch die Armen seiner Meinung nach nur zur Zeugung und Gebärung weiterer Kinder ermuntern (Sieferle 1990: 81 – 111).
Malthus war allerdings keineswegs der Erste, der sich mit demografischen Fragen beschäftigte, und er war auch nicht der Erste, der im ausgehenden 18. Jahrhundert vor der sich abzeichnenden Dynamik des
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Bevölkerungswachstums warnte. Aber keiner seiner Vorläufer und Zeitgenossen malte ein derartig apokalyptisches Bild der zukünftigen Entwicklung an die Wand, und vielleicht gerade darum blieb er bis heute der einflussreichste „Demograf“ in der Wissenschaftsgeschichte. Vorerst stießen Malthus’ Thesen allerdings nicht auf breite Akzeptanz. In einer späteren Ausgabe seines Essays bemerkte Malthus lakonisch: „Norwegen ist, glaube ich, das einzige Land in Europa, wo ein Reisender Ansätze der Besorgnis wegen einer überschüssigen Bevölkerung hören wird […]“ (Malthus 1900: 209). Tatsächlich herrschte in Kontinentaleuropa im Geist merkantilistischer Populationistik die Idee einer „volkreichen Gemein“ als ein bevölkerungspolitisch anzustrebendes Ziel vor, wie es der „österreichische“ Merkantilist Johann Joachim Becher (1635 – 1682) mehr als ein Jahrhundert davor formuliert hatte. Dieser pronatalistische Diskurs wurde im 18. Jahrhundert in den Rahmen einer göttlichen Ordnung – so der preußische Geistliche und Demograf Johann Peter Süßmilch – gestellt. Süßmilch und andere Vertreter der optimistischen Naturtheorie des 18. Jahrhunderts gingen davon aus, dass dieser Ordnung ein Gleichgewichtszustand zwischen Bevölkerung und Ernährungsbasis entspreche, der sich langfristig immer wieder einstelle (Sieferle 1990: 68 f.). In den 1830er- und 1840er-Jahren gewann malthusianisches Denken jedoch immer mehr Anhänger, die Malthus’ Prognosen durch das Elend des frühen Industrieproletariats und dessen sprunghafter Vermehrung bestätigt sahen. Aber viele seiner Epigonen propagierten nicht laissez-faire, wie jedenfalls noch der frühe Malthus, sondern aktive Bevölkerungspolitik (Rainer 2005: 78 – 81). Damit war der Weg zum Neomalthusianismus gewiesen, der den „späten“ Malthus insofern rezipierte, als er auf Familienplanung und Heiratsverbote setzte.
Im Lauf des 19. Jahrhunderts wurde Malthus’ Prognose jedoch mehr und mehr von den Fakten widerlegt, zunächst weniger, weil er die Bevölkerungsdynamik, als vielmehr, weil er die Möglichkeiten der Ausweitung der landwirtschaftlich genutzten Flächen und die Erhöhung der landwirtschaftlichen Erträge durch Steigerung der Arbeitsproduktivität unterschätzt hatte. Die Versorgungslage blieb jedoch noch einige Jahrzehnte – vor allem aufgrund der hohen Transportkosten – prekär. Im Rahmen der Ernährungsgeschichte Europas reicht das 18. Jahrhundert,
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wie treffend formuliert wurde, bis in die 1840er-Jahre. Die letzten schweren durch Ernteausfälle verursachten Hungersnöte in Europa westlich von Russland fielen in die ersten beiden Drittel des 19. Jahrhunderts: in Deutschland in die Jahre 1816/17 und 1846/47, in Irland in die Jahre 1845 bis 1848. In Finnland ereignete sich im Jahr 1867 die letzte große Subsistenzkrise (Osterhammel 2009: 302). Aber schon in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts war das Wachstum des agrarischen Outputs in einem großen Teil der werdenden Industrieländer deutlich über dem Bevölkerungswachstum gelegen, besonders in Nordamerika und Australien. Auf der Basis dieser Outputüberschüsse sorgte seit Mitte des 19. Jahrhunderts die „Delokalisation des Hungers“ durch die Einführung neuer Transport- und Konservierungstechniken für das Ausbleiben von Hungersnöten (Montanari 1993: 188 – 192). Die Ackerfläche wurde im Zeitraum von ca. 1860 bis 1910 in Europa, Russland und den westlichen „Außenposten“ (Nordamerika, Australien u. a.) von 255 Millionen auf 439 Millionen ha erweitert, vor allem in den USA und Russland (Grigg 1992: 19). Auf die übrige Welt traf das freilich nicht zu. Im Zeitraum von 1870 bis 1913 stieg die Agrarproduktion pro Kopf in den Industrieländern um 0,55 % jährlich, während sie im Rest der Welt stagnierte (Federico 2009: 16 – 19). Das hatte nicht zuletzt mit den jeweils gebräuchlichen und verbreiteten Anbauformen zu tun. Der etwa in Süd- und Mittelchina betriebene arbeitsintensive Nassreisanbau erlaubte keine vergleichbare „Agrarrevolution“. Außerdem bestanden keine mit Europa und seinen Außenposten einschließlich Sibiriens vergleichbaren Reserven an kultivierbarem Land, zumindest wenn man den damaligen Stand der Agrartechnologie berücksichtigt. Zudem fehlte es etwa in China im späten 19. Jahrhundert am Zugang zu Kunstdünger (Osterhammel 2009: 318 f.). Ähnliche Einschränkungen lassen sich auch für den indischen Subkontinent und Südostasien treffen. Im 20. Jahrhundert ergriff eine auf den Einsatz von Kunstdünger basierende echte Agrarrevolution allerdings immer größere Teile Erde. Die globale Dimension dieser Ausweitung wird u. a. daraus ersichtlich, dass gegenwärtig 80 – 90 % des kultivierbaren Landes auf der Welt auch tatsächlich genutzt werden (Persson 2010: 44).
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schien sich zunächst das Malthus’sche Szenario in der Dritten Welt nachträglich zu bestätigen.
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Malthus fand wieder Beachtung vor allem im angloamerikanischen Raum (Coleman / Schofield 1988), manchmal in einer evolutionsbiologistischen Form (Galor 2011: 232-284). Seine Wiederentdeckung verdankte Malthus der Kritik an der Entwicklungshilfe. Schon um 1970 sprachen sich Einzelne, wie der englische Mediziner Maurice King, für ein laissez-faire in der Entwicklungspolitik aus (Rainer 2005: 170). Bevölkerungspolitische Programme traf der – nicht immer ungerechtfertigte – Vorwurf, dass sie keine Wirkung zeigten, also letztlich wie die Armenunterstützung zwei Jahrhunderte davor angeblich reine Geldverschwendung seien (Connelly 2008). Darüber hinaus ging diese Denkrichtung so weit, Entwicklungshilfe als unmoralisch zu diskreditieren, da die begrenzten Ressourcen der Erde das Erreichen des Entwicklungsniveaus der Industrieländer durch große Teile der Dritten Welt ohnehin nicht zulassen würden (Birg 1996: 132). Auch das klassische malthusianische Argument, Bevölkerungswachstum erzeuge unausweichlich Hunger, tauchte im Überbevölkerungsdiskurs erneut auf (Rainer 1995: 207). Mittlerweile gibt es allerdings massive Hinweise, dass Malthus auch diesmal irren könnte, da sich auch in zahlreichen Teilen der Dritten Welt, ob nun mit westlicher Hilfe oder ohne sie, Anzeichen einer langfristigen demografischen Wachstumsverlangsamung zeigen. Das Wachstum der Weltbevölkerung erreichte in absoluten Zahlen 1989/90 seinen höchsten Wert und die Wachstumsrate schon 1963/64. Seitdem sinken beide Größen kontinuierlich (Münz / Reiterer 2007: 114).
Ein Rückzugsgebiet fanden Anhänger des malthusianischen Modells jedoch in der Behauptung, es sei jedenfalls das klassische Erklärungsmuster für das demografische Geschehen in der vorindustriellen Welt. Das englische Bevölkerungswachstum im Zeitraum von 1680 bis 1820 schien diese Annahme zu untermauern. Nach einschlägigen Berechnungen waren dem Sinken des Heiratsalters im ökonomisch prosperierenden vor- und frühindustriellen England rund 80 % des Wachstums zuzuschreiben. Das Reproduktionsverhalten der englischen Unterschichten entsprach also dem malthusianischen Modell (Boyer 1989). Für andere Perioden der englischen Bevölkerungsgeschichte ist dieser Zusammenhang aber nicht in der gleichen Weise zu belegen (Wrigley 2004: 348 f.).
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Nun soll keineswegs behauptet werden, Malthus’ Beobachtungen wären völlig unzutreffend gewesen. Beispielsweise erbrachte eine ökonometrische Analyse für Frankreich im Zeitraum von 1677 bis 1734, dass Schwankungen der Getreidepreise immerhin 46 % der Schwankungen aller Sterbefälle mit Ausnahme der Kleinkinder erklären können. Für einen vergleichbaren Zeitraum in England betrug der Prozentsatz jedoch nur 24 % (Galloway 1988: 275 – 304). Aber abgesehen davon, dass solche Modellrechnungen von der gewählten Methode und den berücksichtigten intervenierenden Variablen abhängen, wird aus diesen Beispielen allein ersichtlich, dass sich die als checks beschriebenen Mechanismen nicht in diesem Ausmaß generalisieren lassen, wie das Malthus und seine Apologeten suggerieren. So bewirkte beispielsweise die Verdoppelung der Getreidepreise in Nordfrankreich infolge des Jahrtausendwinters von 1709 wohl eine Verdoppelung der Sterberate, im englischen Winchester blieb hingegen die Sterblichkeit konstant, und in der Toskana ging der Anstieg der Sterblichkeit dem Preisanstieg voran. Überhaupt hatten schon im frühneuzeitlichen England Preisanstiege und damit verbundene sinkende Reallöhne nur sehr begrenzte Auswirkungen auf die Sterblichkeit. Weder 1647 noch 1649 oder 1710 kam es zu einem nennenswerten Anstieg der Mortalität (Livi-Bacci 1999: 74 – 76). Positive checks fanden also nicht im erwarteten