die Auflistung aller „Haushaltsvorstände“ und im Fall der Sklaven vermutlich sogar von Individuen. Trotz dieser ungewöhnlich guten Datenlage bewegen sich die Schätzungen der englischen Einwohnerzahl für das späte 11. Jahrhundert in einer Bandbreite von 1,4 bis 1,9 Millionen (Hinde 2003: 15 – 19), was auf die zahlreichen methodischen Probleme und Schwierigkeiten bei der Verwendung derartiger Quellen verweist. Noch ausführlichere Informationen enthält der in den Jahren 1427 – 1430 in Florenz erstellte Catasto, der rund 60.000 Haushalte mit 260.000 Personen erfasste (Herlihy / Klapisch 1985). Eine ungewöhnlich genaue Quelle stellt auch die Einhebung des Peterspfennigs als Kopfsteuer der gefirmten Bevölkerung im Königreich Polen dar, die zwar nicht wirklich als Kopfzählung durchgeführt wurde, aber eine sehr genaue Schätzung der Einwohnerzahl um die Mitte des 14. Jahrhunderts erlaubt (Kuhn 1973: 181 – 184). Eine ähnliche für großräumige Bevölkerungsschätzungen brauchbare demografische Quelle sind die anlässlich der osmanischen Bedrohung erfolgten Ausschreibungen des „Gemeinen Pfennigs“ für alle Einwohner über fünfzehn Jahre im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, die zwischen 1422 und 1551 elfmal durchgeführt wurden. Zählungen einzelner Stadtbevölkerungen, wenngleich nicht in der Vollständigkeit der Nürnberger Erhebung von
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1449, liegen seit dem Spätmittelalter in größerer Dichte vor, beispielsweise für Venedig für das Jahr 1338, Basel 1454 und Straßburg 1473/77. Auch für diese Zählungen ist jedoch von der Nichterfassung und / oder Untererfassung von Angehörigen der städtischen Unterschichten, von Frauen und von Kindern auszugehen (Kellenbenz 1986: 110 f.; Youngs 2006: 12). Zu diesen Quellen treten ergänzend Stadtbeschreibungen, diplomatische und chronikalische Berichte über Hungersnöte, Naturkatastrophen und Sittenbeschreibungen.
Völlig außerhalb der Einwohnererhebungen stehen aus der Archäologie gewonnene Daten zur Größe von Siedlungen, Häusern und Wüstungen. In Verbindung mit dem Wissen über den Stand der Agrartechnologie lassen sich daraus für die Zeit geringer Siedlungsdichte und Urbanisierung sehr grobe Bevölkerungsschätzungen ableiten (Fehring 1987: 78 – 82). Aus der Paläopathologie können Rückschlüsse auf Morbidität und Mortalität von Populationen gezogen werden. Archäologische Befunde sind allerdings nur bedingt historisch-demografisch verwertbar, da zumeist keine geschlossenen Populationen ergraben werden können und es zumindest im Fall von Kindern zu häufigen Untererfassungen kommt, da ungetaufte Säuglinge manchmal außerhalb der Friedhöfe bestattet wurden oder sich Gräber von Säuglingen und Kleinkindern nicht erhalten haben.
Insgesamt ist der Forschungsstand zur Bevölkerungsgeschichte der einzelnen Teile Europas quellenbedingt und aufgrund nationaler Forschungstraditionen recht unterschiedlich. Obwohl – nicht zuletzt aufgrund der dortigen liberalen Tradition (Glass 1973) – Volkszählungen in England und Wales erst relativ spät, nämlich seit 1801, durchgeführt wurden, erlaubte die hohe Dichte an Matrikendaten mittels der Methode der back projection die (eingeschränkte) Rekonstruktion der englischen Bevölkerungsentwicklung zurück bis um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Dabei wurden die Bevölkerungszahlen von der ersten verfügbaren Volkszählung rückgeschrieben, und zwar mithilfe von Tauf- und Sterbematrikdaten. Die große Unbekannte bei diesem Verfahren sind die Außenwanderungen, die allerdings zumindest für die nordamerikanischen Kolonien ebenfalls geschätzt werden konnten. Die Rekonstruktion der französischen Bevölkerung bis zum Jahr 1680 konnte sich im Gegensatz zum englischen Pendant auf Altersangaben in den Sterbematriken
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stützen, die sich allerdings, was die Kleinkindersterbefälle anbelangt, als unvollständig erwiesen. Ein weiteres Problem bei der Rekonstruktion der französischen Bevölkerung stellten Migrationen vor allem der männlichen Bevölkerung (napoleonische Kriege) dar, die eine nicht unerhebliche Lücke im Modell verursachten (Sokoll / Gehrmann 2003: 180 – 183).
Das mit Abstand beste demografische Material bieten unzweifelhaft die skandinavischen Länder, die schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts so etwas wie laufend gewartete Bevölkerungsregister eingeführt und in einem im Jahr 1749 in Stockholm eingerichteten Zentralbüro verwaltet haben. Diese Register liefern Daten für das gesamte Staatsgebiet in sehr hoher Datenqualität nicht zuletzt deswegen, weil die skandinavischen Länder vergleichsweise isoliert waren und Wanderungsbewegungen eine verhältnismäßig geringe Rolle spielten. Aber auch in einigen anderen Ländern wie etwa der Schweiz, den Niederlanden und den böhmischen Ländern kann die Bevölkerungsgeschichte als gut aufgearbeitet bezeichnet werden. Am schwierigsten erweisen sich entsprechende Forschungen für jene Teile Europas, deren Rückständigkeit Zählungen behinderte oder deren Qualität beeinträchtigte. Dazu zählte vor allem der osmanische und russische Einflussbereich.
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1 Differenz zwischen der Bevölkerung zum Basis- und zum Endzeitpunkt des betrachteten Zeitraums.
2 Geburten- und Sterberate beziehen die Zahl der in einem Jahr Lebendgeborenen bzw. Verstorbenen auf 1.000 der jeweiligen Bevölkerung.
3. Europas Bevölkerungsentwicklung und Malthus
Die globale demografische Entwicklung lässt sich auf einer Zeitachse als ansteigende Kurve mit exponentiellem (geometrischem) Wachstum 3 darstellen. Die letzten beiden Jahrhunderte waren dabei durch eine besondere Steilheit der Wachstumskurve geprägt, die im öffentlichen Diskurs auch gern als Bevölkerungsexplosion bezeichnet wird, obwohl die Weltbevölkerung in diesem Zeitraum nicht plötzlich „explodierte“, sondern sehr stetig an Wachstumstempo zunahm, zumindest bis in die 1960er-Jahre. Während um 10.000 v. Chr. vielleicht 1 bis 10 Millionen Menschen die Erde bewohnten (U. S. Census Bureau 2011), erreichte nach der Neolithischen Revolution die nunmehr in weiten Teilen sesshaftere Weltbevölkerung um Christi Geburt vielleicht 225 bis 250 Millionen. Das erste nachchristliche Jahrtausend war dann von erheblichen demografischen Schwankungen gekennzeichnet, wobei um das Jahr 1000 in etwa wieder der Ausgangsstand erreicht, wahrscheinlich sogar überschritten wurde. Im Zeitraum von ca. 1000 bis 1340 kam es dann global zu einem ganz erheblichen Wachstumsschub auf vielleicht 440 Millionen. Nach einem erheblichen Rückschlag waren um 1650 rund 600, um 1800 950 Millionen, um 1900 1,65 und um 1950 2,5 Milliarden erreicht. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kletterte die Weltbevölkerung schließlich auf mehr als 6 Milliarden. Gegenwärtig sind bereits 7 Milliarden erreicht. In durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten ausgedrückt, lag das globale Bevölkerungswachstum bis um das Jahr 1000 unter 0,05 %, dann bis Mitte des 18. Jahrhunderts in sehr bescheidenen Dimensionen von 0,1 bis 0,2 %. Erst danach stieg es erheblich an und erreichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im langjährigen Durchschnitt rund 1,8 %.
[<<21] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe
Weltbevölkerung in Millionen: Schätzungen nach ... | ||||
Jahr | Biraben | McEvedy/Jones | Malanima/UN | JVR * |
1 | 255 | 170 | 250 | |
1000 | 254 | 265 | 250 | 0,00 |
1340 | 443 | 440 | 0,17 | |
1650 | 545 | 600 | 0,10 | |
1750 | 770 | 720 | 770 | 0,25 |
1850 | 1.241 | 1.200 | 1.240 | 0,48 |
1950 | 2.527 | 2.500 | 2.532 | 0,72 |
2000 | 6.123 | 1,78 | ||
2010 | 6.892 | 1,19 |
Malanima | |||
Jahr | Europa ** | Welt | Anteil Europas |
1 | 43 | 250 | 17,2 |
500 | 41 | 200 | 20,5 |
1000 | 43 | 260 | 16,5 |
1340 | 87 | 440 | 19,8 |
1500 | 84 | 460 | 18,3 |
1700 | 125 | 680 | 18,4 |
1800 | 195 | 954 | 20,4 |
1900 | 422 | 1.650 | 25,6 |
2000 | 818 | 6.175 | 13,2 |
JVR * 1 – 2000 | 0,15 | 0,16 |