Andreas Weigl

Bevölkerungsgeschichte Europas


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des 7. Jahrhunderts dürfte ein Tiefpunkt mit Bevölkerungsverlusten von rund einem Drittel bis zur Hälfte der Ausgangsbevölkerung erreicht worden sein. Nach einer Schätzung von J. C. Russell schrumpfte im Zeitraum von ca. 500 bis 650 die Bevölkerung in Südeuropa von 13 auf 9 Millionen, in West-, Mittel- und Nordeuropa von 9 auf 5,5 und in Osteuropa von 5,5 auf 3,5 (Russell 1983: 21). Die folgende „karolingische“ Aufschwungphase konzentrierte sich auf West- und (Ost-)Mitteleuropa. Sie wurde getragen von einer Siedlungsbewegung gegen Osten und ist in erster Linie siedlungsgeschichtlich und hinsichtlich der wachsenden Größe von Siedlungseinheiten zu fassen. Archäologische und einzelne demografische Befunde lassen auf eine Verdopplungszeit der Bevölkerung im 8. und 9. Jahrhundert von 50 bis 150 Jahren schließen (Verhulst 2002: 25; Toubert 1997: 102). Der Aufschwung wurde allerdings durch Hungersnöte und die politische Destabilisierung der späten Karolinger- und frühen Ottonenzeit (Wikinger, Sarazenen- und Magyareneinfälle) unzweifelhaft gebremst. Im langfristigen Vergleich dürfte der Bevölkerungsstand der Spätantike um die Jahrtausendwende wieder erreicht, vielleicht sogar leicht überschritten worden sein.

      In Italien um die Mitte des 10. Jahrhunderts, im übrigen Europa etwa ein halbes Jahrhundert später, setzte nun ein wesentlich länger anhaltender demografischer Aufschwung erheblichen Ausmaßes ein. Die Bevölkerung Europas ohne Russland dürfte sich im Zeitraum von ca. 1000 bis 1300 mehr als verdoppelt haben. Der breite demografische Anstieg bildete sich in einer höchst dynamischen Städtegründungsphase und verschiedenen Kolonisationsbewegungen siedlungsgeschichtlich ab, wobei der sogenannten deutschen Ostkolonisation die größte Bedeutung zukam. Die Bevölkerung der Mittelmeerländer wuchs unterdurchschnittlich, während jene West- und Mitteleuropas sich annähernd verdreifacht haben dürfte. Nur in Teilen Osteuropas verursachte der Mongolensturm von 1241 einen temporären demografischen Rückschlag. So ist die Bevölkerung des Königreich Ungarns, die um 1240 etwa 1,2 bis 1,5 Millionen umfasste, wahrscheinlich um rund 200.000 geschrumpft (Russell 1983: 21; Kristó 2007: 49).

      Die von 1300/50 bis 1450/1500 reichende, nicht nur demografische spätmittelalterliche Krise stand am Beginn der Kleinen Eiszeit, einer

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      Verschlechterung der klimatischen Bedingungen in weiten Teilen ­Europas in Form von niedrigen Temperaturen und Niederschlagsarmut (in Osteuropa). Hungersnöte erschütterten im zweiten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts weite Teile Europas. Der fundamentale Schock der großen Pestwelle von 1348/53, gefolgt von weiteren Wellen, stellte aber das zentrale demografische Ereignis dar, sodass zu Recht vom Zeitalter des „Schwarzen Todes“ gesprochen werden kann. Der ersten Pestwelle fiel ein Drittel, wenn nicht möglicherweise die Hälfte der europäischen Bevölkerung zum Opfer, die folgenden Wellen verhinderten für etwa ein Jahrhundert eine entsprechende demografische Erholung. Verschärft wurden die Bevölkerungsverluste durch langwierige kriegerische Auseinandersetzungen, insbesondere den Hundertjährigen Krieg in Frankreich und die Hussitenkriege in (Ost-)Mitteleuropa.

      In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mehrten sich Anzeichen eines Aufschwungs, sodass nach 1500 zum Teil annähernd wieder das Ausgangsniveau von vor der großen Pest erreicht wurde, nicht jedoch in den Mittelmeerländern und in England. Das 16. Jahrhundert war dann von einem sehr ausgeprägten und breiten Bevölkerungsboom gekennzeichnet. Insgesamt dürfte die europäische Bevölkerung in diesem Jahrhundert nach einer plausiblen Schätzung von rund 70 auf 90 Millionen gewachsen sein. Das entsprach einer Wachstumsrate von 0,25 % (ohne das Gebiet der späteren Sowjetunion). Nicht ganz zufällig waren die wirtschaftlich entwickelten Gebiete auch die Hauptgewinner dieses Aufschwungs. Im späteren Großbritannien nahm die Bevölkerung von etwa 4 auf 6, in den Niederlanden von etwa 0,95 auf 1,5 Millionen zu, was jährlichen Wachstumsraten von etwa 0,45 % entsprach. Auch im deutschsprachigen Raum war das Wachstum ausgeprägt. Diese Wachstumspole verweisen auf die steigende demografische Bedeutung der großen urbanen Gewerbe- und Handelszentren und damit auf ein demografisches Wachstum, welches aus dem allmählichen Entstehen einer rudimentären Weltwirtschaft zumindest teilweise erklärt werden kann. In den schon zuvor vergleichsweise dicht besiedelten Regionen Italiens und in Frankreich fiel das Wachstum etwas schwächer, in absoluten Zahlen allerdings ebenfalls durchaus beträchtlich aus (Maddison 2001: 241).

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TerritoriumZeitraumum 1500um 1600Zähleinheit
Königreich Neapel *1501 – 1595254.380540.090besteuerte Feuerstätten
Sizilien1501 – 1607490.000831.944Einwohner
Sardinien1485 – 160326.26366.669Feuerstätten
Schweiz1500 – 1600582.000 – 605.000895.000 – 940.000Einwohner
Herzogtum Steiermark1528 – 1617373.000478.000Einwohner

      * Ohne Neapel Stadt

      Tabelle 2 Bevölkerungswachstum im 16. Jahrhundert in ausgewählten Territorien (Abbildungsnachweis)

      Um 1600 befand sich Europa in etwa in jener Situation, wie sie um 1300 bestanden hatte. Das 17. Jahrhundert kann dann nicht nur in Europa, sondern auch in vielen anderen Teilen der Welt als Krisenjahrhundert bezeichnet werden. Es wurde geprägt von Krieg, Hungersnöten und erneut schweren Pestausbrüchen, die bis zu einem gewissen Grad durchaus in einem systemischen Zusammenhang standen (Parker 2008). Dennoch war die Wirkung dieser apokalyptischen Plagen nicht mit jener des „Zeitalters des Schwarzen Todes“ zu vergleichen. Das lag vor allem daran, dass Pestepidemien nicht flächendeckend auftraten, nicht die Stärke der Epidemie von 1348/53 hatten, aber auch an der raschen ökonomischen und demografischen Regenerationsfähigkeit der boomenden atlantischen Ökonomien. Besonders stark betroffen von der Krise waren Norditalien und Spanien, vor allem durch die Folgen der schweren Pestepidemie von 1630/31 und 1647/52, und Mitteleuropa, das im Dreißigjährigen Krieg rund ein Drittel seiner Bevölkerung verlor. Hingegen kompensierten die aufsteigenden westeuropäischen Mächte nicht nur die durch (Bürger-)Kriege verursachten Bevölkerungsverluste, sondern verzeichneten trotz mancher Einbrüche insgesamt eine positive Bevölkerungsbilanz. Nord- und Osteuropa waren hingegen ebenfalls durch krisenhafte politische Entwicklungen, die in eine Serie von Kriegen mündeten, in ihrer demografischen Wachstumsdynamik gehemmt. Insgesamt nahm im 17. Jahrhundert die europäische Bevölkerung daher nur leicht zu.

      Das „lange“ 18. Jahrhundert (1700 – 1820) sah wieder einen beträcht­lichen Bevölkerungsanstieg von rund 100 auf 170 Millionen. Das entsprach

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      einer Wachstumsverdopplung im Vergleich zum 16. Jahrhundert. Das durchschnittliche jährliche Wachstum in Europa lag nun auf einem Niveau, wie es in England und den Niederlanden im 16. Jahrhundert bestanden hatte, in Osteuropa sogar etwas darüber. Der demografische Aufschwung des 18. Jahrhunderts wurde durch eine noch vornehmlich auf dem Arbeitseinsatz beruhende Steigerung der Agrarerträge und durch Ansätze von Massenfertigung in der Produktion (Verlag, Manufaktur), die mit der Verbreitung von Lohnarbeit verbunden waren, begleitet. Dies ließ das durchschnittliche Heiratsalter sinken und die Fertilität ansteigen. Sieht man von Großbritannien ab, kam die größte Bedeutung jedoch dem Ausbleiben der Pestepidemien ab etwa 1720 zu. Lediglich der Balkan und das Russische Reich wurden auch noch danach von Pestepidemien heimgesucht. Der demografische Schwerpunkt des Wachstums lag weiter im Nordwesten, auf den Britischen Inseln und in den Niederlanden.