– 80
* JVR: durchschnittliche jährliche Veränderungsrate
** Bandbreite der Schätzungen nach den Originalangaben der Zählungen von 2, 141, 606, 742, 1086, 1195, 1391, 1776, 1851 und 1911
*** Schätzung nach Malanima
**** Einschließlich Pakistan und Bangladesch
[<<45] Seitenwechsel innerhalb der Tabelle nach 1850
Tabelle 4 Bevölkerung Europas (ohne Russland), China und Indiens 0 – 2000 (Abbildungsnachweis)
In der vormodernen, sonnenenergiebasierten Periode der globalen Bevölkerungsgeschichte unterschieden sich die Ausgangsbedingungen Europas von jenen Asiens nicht unerheblich. Mit Blickrichtung auf die sich im 19. und 20. Jahrhundert stellende Problematik hoher demografischer Wachstumsraten könnte man etwas simplifizierend formulieren: Das Problem der demografischen Entwicklung in Asien lag darin begründet, dass etwa China und Indien in ihren Kernzonen schon vor 1.500 bis 2.000 Jahren wesentlich dichter besiedelt waren als der europäische Kontinent. Tatsächlich lässt sich für das vorindustrielle Europa und Asien für die Zeit um 1600, die man auch für den Zeitraum davor als repräsentativ ansehen kann, ein enormer Unterschied in den Landreserven zeigen. Um 1600 betrug die Zahl der Menschen pro km2 kultivierbarem Land in Japan 856, in China 477, in Indien 269, in Europa jedoch nur 60. Diesem Vorteil stand im extramediterranen Europa ein klimatischer Nachteil, das raue Klima, gegenüber. Dementsprechend entwickelte sich in diesem Teil Europas in weit größerem Ausmaß als in Asien ein synergetisches Zusammenspiel zwischen Ackerbau und Viehzucht. Die geringen Erträge des Brotgetreides bedurften der Ergänzung durch tierisches Eiweiß, mangels menschlicher Arbeitskraft war der Einsatz des Viehs im Ackerbau unbedingt erforderlich. Im 11. Jahrhundert stammten bereits 70 % der in Europa eingesetzten Energie von Tieren und Wassermühlen, nur 30 % von Menschen (Malanima 2010a: 31, 85 f.; Landsteiner 2011: 182). Die mit hohem menschlichem Arbeitseinsatz betriebenen Monokulturen in den großen asiatischen Reichen erwiesen sich mit wachsender Bevölkerungsdichte als krisenanfälliger als die
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kleinteiligere, „gemischte“ landwirtschaftliche Produktion in Europa. Dementsprechend war im Zeitraum von 1400 bis 1800 die Zahl der Opfer von Naturkatastrophen und daraus resultierenden Hungersnöten in China und Indien weit höher als in Europa (Jones 1991: xxviii, 30 – 35; Sieferle 2002: 176 – 183). Es bleibt allerdings festzuhalten, dass die dichtbevölkerten ökonomischen Kernzonen Ostasiens und Nordwesteuropas Ende des 18. Jahrhunderts unter ganz ähnlichen ökologischen Stressfaktoren litten und sich der durchschnittliche Ernährungszustand der Bevölkerung auch in der Folge im krisenhaften 19. Jahrhundert in Asien nicht entscheidend verschlechterte (Pomeranz 2000: 241), ebenso wie er sich in Europa bei der überwiegenden Mehrheit nicht entscheidend besserte.
Der Einsatz fossiler Energie in Form von Kohle erhöhte das Energiepotenzial dramatisch und leitete in den werdenden Industrieländern den Abschied von den Sonnenenergiesystemen ein, die einer positiven Energiebilanz bedurften, um eine für das Überleben ausreichende Nahrungsmittelproduktion sicherzustellen. Seit Ende des 16. Jahrhunderts wurde Kohle verstärkt in England und den Niederlanden als Energieträger eingesetzt, hatte aber selbst Ende des 18. Jahrhunderts im übrigen Europa noch geringe Bedeutung (Malanima 2010a: 79 – 82). Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war jedoch ein auf fossiler Energie beruhendes Energiesystem in Europa in voller Entfaltung. Im 19. Jahrhundert verdreifachte sich durch den Einsatz von Kohle und Dampfmaschinen die weltweite Energiegewinnung, im 20. Jahrhundert wuchs sie dann um das Dreizehnfache, weil nun auch Erdöl und Erdgas als Energieträger eine zunehmende Rolle spielten (McNeill 2003: 29). Das heißt nicht, dass das Problem der ausreichenden Versorgung der europäischen Bevölkerungen mit Nahrungsmitteln damit mit einem Schlag gelöst gewesen wäre. Es dauerte noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts, bis das der Fall war. Immerhin sorgte bis dahin auch die Überseewanderung von Europäern für eine gewisse Entlastung. Im Zeitraum von 1841 bis 1915 reduzierte sie das Bevölkerungswachstum Westeuropas um 25 bis 30 % (Livi-Bacci 1999: 175 f.). In Summe sollte die Wirkung der Überseewanderung als Wachstumspuffer allerdings nicht überschätzt werden. Selbst am Höhepunkt der Auswanderungswelle um 1900 lag die jährliche
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Emigrationsrate 10 bei 3 Promille, in den südeuropäischen Ländern allerdings bei 5 (Chesnai 1992: 183). Berücksichtigt man die Rückwanderung, wird der langfristige Entlastungseffekt weiter relativiert. Aufgrund ihres technologischen Vorsprungs konnten Europa und seine Außenposten jedoch ihren Vorsprung in der Nutzung von Energie in einen industriell-technologischen Vorsprung verwandeln, der weit über die unmittelbare Sicherung der Subsistenz der europäischen Bevölkerungen hinaus die Basis für jene technophysio evolution (Robert W. Fogel)11 lieferte, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den „biologischen Lebensstandard“ (John Komlos) in immer neue Höhen trieb. Diese Evolution, von der in den letzten Jahrzehnten auch Teilbevölkerungen in den Schwellenländern und der Dritten Welt profitierten, hatte allerdings ihren demografischen Preis: Im 20. Jahrhundert dürften schätzungsweise 25 bis 40 Millionen Menschen weltweit der Luftverschmutzung zum Opfer gefallen sein (McNeill 2003: 120 f.).
Die moderne Bevölkerungsgeschichte der außereuropäischen Welt war allerdings keineswegs eine reine blood, sweat and tears story, wie das im entwicklungspolitischen Diskurs manchmal scheinen mag. Nach 1750 und dann vor allem nach 1800 wurden in Teilen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas bereits sehr hohe Wachstumsraten erreicht. So vervierfachte sich die Bevölkerung Mittelamerikas im Zeitraum von 1825 bis 1900 (Grigg 1980: 238). Der Wachstumspfad wurde jedoch in diesen Teilen der Welt durch innere und äußere Krisen immer wieder unterbrochen. Ein Beispiel für solche demografischen Schocks aus der rezenteren Bevölkerungsgeschichte Chinas sind etwa die Folgen des „Großen Sprungs“ von 1958/62. Die Lebenserwartung bei der Geburt sank in der Volksrepublik China aufgrund einer brachialen Industrialisierungspolitik im Eiltempo, die deren Folgen auf den Einbruch der landwirtschaftlichen
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Produktion ignorierte, kurzfristig von 43 auf 27 Jahre (Banister 1987). Erst als durch den Import westlicher Technologien, die im Rahmen der sanitary revolution entwickelt worden waren, Mortalitätskrisen seltener und in ihrer Wirkung schwächer wurden, begründete dies ab der Mitte des 20. Jahrhunderts den Wachstumsvorsprung, ja die Bevölkerungsexplosion der Dritten Welt. Westliche Technologien sorgten auch dafür, dass die Sterblichkeit in vielen Schwellenländern rasch unter die vergleichbare der Industrieländer, bezogen auf den Zeitpunkt, an dem diese ein bestimmtes wirtschaftliches Entwicklungsniveau erreicht hatten, fiel (Mercer 1990: 151). Dieser Import leitete den Mortalitätsrückgang in der Dritten Welt ein, dem ein Fertilitätsrückgang in den Schwellenländern