Andreas Weigl

Bevölkerungsgeschichte Europas


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(Gerry Kearns) sprechen kann. Ab etwa 1870 setzte dann auf breiter Ebene jene transitorische Phase des

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Tabelle 3 Bevölkerungsentwicklung in Europa und anderen Weltteilen 1 – 2003 / Teil 1

      Fortsetzung

Tabelle 3 Bevölkerungsentwicklung in Europa und anderen Weltteilen 1 – 2003 / Teil 2

      Tabelle 3 Bevölkerungsentwicklung in Europa und anderen Weltteilen 1 – 2003 (Abbildungsnachweis)

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      In der Weltkriegsepoche kam es zu einer Halbierung des demografischen Wachstums, das sich nun im langjährigen Durchschnitt zwischen 0,3 und 0,4 % bewegte. In den entwickelten Industriestaaten schloss sich die Schere zwischen Geburten und Sterbfällen wieder und ein posttransitorischer Zustand gemäßigten Wachstums trat ein. In Deutschland und Österreich führte eine Geburtendepression zu ungewöhnlich niedrigen, bis in die Gegenwart nicht mehr unterschrittenen Fertilitätsniveaus. Diese Geburtendepression wurde durch eine „Abtreibungsrevolution“ verstärkt, wahrscheinlich sogar wesentlich mitbestimmt. Die fatalen Wirkungen beider Weltkriege sorgten für eine zusätzliche Wachstumsbremse. Dass trotz der gefallenen Soldaten und zivilen Opfer – im Ersten Weltkrieg ohne Zivilopfer unter der russischen Bevölkerung vielleicht 12 bis 13 Millionen Europäer (Overmans 2009: 664 f.), im Zweiten Weltkrieg mindestens 50 Millionen, davon rund 18 Millionen nicht sowjetische und bis zu 37 Millionen sowjetische Opfer (einschließlich der asiatischen Teilrepubliken) (Overmans 1990: 103 – 121; Ehmer 2004: 14; Rianovosti vom 7.5.2009) – die Bevölkerung Europas langfristig weiter zunahm, lag an der angesichts der schwierigen ökonomischen

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      Rahmenbedingungen erstaunlichen Fortsetzung des rasanten Anstiegs der Lebenserwartung, zum Teil auch an der noch relativ hohen Fertilität in Ost, Südost- und Südeuropa.

      Kurzfristig nach 1945 und vor allem seit den späten 1950er-Jahren erlebte Europa einen Babyboom bei anhaltendem kontinuierlichen Anstieg der Lebenserwartung. Dieser Anstieg wurde nun durch materiellen und medizinischen Fortschritt – Verbreitung von Antibiotika und Immunisierung – getragen. Der Aufbau von Wohlfahrtsgesellschaften und ein Revival traditioneller Familienbilder schufen ein pronatalistisches gesellschaftliches Klima, welches durch einen fortschrittsoptimistischen Mainstream zusätzlichen Auftrieb erhielt. Das demografische Wachstum lag nun wieder bei den vor 1914 erreichten Werten – in Westeuropa im Zeitraum von 1950 bis 1973 bei 0,7 %, in Osteuropa bei 1 %, in der Sowjetunion sogar bei 1,4 % (Maddison 2007: 376).

      Der bereits vor der massenhaften Verbreitung der Antibabypille einsetzende, aber durch sie massiv verstärkte „Pillenknick“ beendete jedoch den Babyboom ziemlich abrupt und endgültig. Vor dem Hintergrund eines säkularen Wandels von Familienleitbildern und -funktionen kam es zu einer neuerlichen Halbierung des Wachstums bei einer annähernden Stagnation der Geburtsbevölkerung. Zuwächse ergaben sich jedoch direkt durch außereuropäische Zuwanderung, indirekt durch die überdurchschnittliche Fertilität dieser Zuwanderergruppen aus der Türkei, den ehemaligen Kolonien der europäischen Großmächte sowie nach und nach auch aus anderen Teilen der Dritten Welt. Seit den 1970er-Jahren mutierte Europa endgültig zum Einwanderungskontinent. Der Anstieg der Lebenserwartung setzte sich in dieser Phase kontinuierlich fort. Eine Ausnahme bildeten lediglich kurzfristig die ehemaligen Sowjetrepubliken, die von einer ökonomischen und gesellschaftlichen Transformationskrise betroffen waren. Dort sank sogar zumindest temporär die Lebenserwartung der männlichen Bevölkerung. Insgesamt erreichte das Bevölkerungswachstum in Europa nur noch relativ bescheidene Dimensionen, in Europa außerhalb der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten rund 0,3 % jährlich (Maddison 2007: 376).

      Im kontinentalen Vergleich stellte sich die Entwicklung nach groben Schätzungen wie folgt dar: Im Zeitraum von ca. 500 bis 1000 stagnierte

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      die eurasische Bevölkerung, jene Nordafrikas schrumpfte sogar beträchtlich. Hingegen erlebte das tropische Afrika vermutlich eine Verdoppelung seiner Bevölkerung und jene der beiden Amerikas nahm vielleicht um rund ein Drittel zu (McEvedy / Jones 1978: 206 – 317; Russell 1983: 22). Von etwa 1000 bis 1500 war erstmals eine Sonderentwicklung Europas festzustellen, die von der hochmittelalterlichen Expansionsphase bestimmt wurde. Das Wachstum bis etwa 1300, vor allem das im 13. Jahrhundert, war so ausgeprägt, dass trotz der Pestwelle von 1348/53 die durchschnittliche Wachstumsrate mit 0,16 % fast doppelt so hoch ausfiel wie in Asien. In der frühen Neuzeit bis etwa 1820 lagen Europa und Asien vom demografischen Wachstumstempo her wieder gleich auf. In der Phase der Industriellen Revolution(en) und danach wich das Bevölkerungswachstum in Europa und seiner transatlantischen Außenposten in Amerika und Australien wieder stärker vom Rest der Welt ab. Im Zeitraum von 1820 bis 1913 betrug die Wachstumsrate in Europa 0,75 %, in Asien 0,34 %, weltweit rund 0,6 %. Im 20. Jahrhundert kehrte sich dieses Verhältnis um, wobei die Unterschiede immer größer wurden. Schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm die Bevölkerung in Teilen der Dritten Welt erheblich zu. Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts war das asiatische Bevölkerungswachstum etwa sechs Mal so hoch wie das europäische. Der demografische Aufstieg Europas fand also vor allem im 19. Jahrhundert statt (Osterhammel 2009: 184 f.) und war von sinkender Mortalität bestimmt. Lediglich Japan, dessen Entwicklung zunächst relativ isoliert von der asiatischen verlief und welches nach der Meiji-Revolution einen der europäischen Entwicklung ähnlichen Wandel zu einer Industriegesellschaft erlebte, bildete eine Ausnahme. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Japan lag um 1820 und auch um 1900 nahe bei der westeuropäischen (Maddison 2001: 30).

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JahrEuropaJVR*China**China***Indien****CH+IndJVR*Eur=100
03159 – 71503585
50
100370,18
15049 – 56
200440,1760411010,09230
250
30040-0,10
350
40036-0,11504797-0,02269
450
50030-0,18
550
60022-0,3146 – 544553980,01445
650
700220,00
75045 – 56
800250,135643990,01396
850
900280,11483886-0,14307
950
1000300,075940990,14330
1050320,13
1100350,1873 – 10883481310,28374
1150420,37
1200490,3198