Andreas Weigl

Bevölkerungsgeschichte Europas


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Effekte von Ernteausfällen wie durch sie verursachte Migrationsbewegungen bei unterentwickelten Märkten trugen oft eher zu Mortalitätsanstiegen bei als Folgen von Unterernährung (Walter / Schofield 1991: 53 f.). Die „Verwundbarkeit“ einer bestimmten Population (Mauelshagen 2010: 95 – 97) ist also mit Bezug auf die Mortalität das eigentliche Kriterium, wie auch eine vergleichende Studie zur Ernte- und Teuerungskrise der frühen 1770er-Jahre in der Schweiz und in Böhmen belegt. Letztere sorgte in Böhmen für einen demografischen Einbruch, in der Schweiz jedoch nicht (Pfister / Brázdil 2006).

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      Grafik 1 Bevölkerung in Böhmen 1768 – 1790 (nach Konskriptionen) (Abbildungsnachweis)

      Die unterschiedliche Verwundbarkeit von Gesellschaften verweist auf einen weiteren Kritikpunkt: den postulierten Mechanismus zwischen Bevölkerungswachstum und Realeinkommen. Ganz im Gegensatz zu den Annahmen von Malthus konnte empirisch gezeigt werden, dass Bevölkerungswachstum langfristig keineswegs notwendigerweise zu sinkenden Realeinkommen führt. “This is the crucial criticism because it suggests that a positive shock to technology and wages can have permanent effects not on population but on real wages as well” (Persson 2010: 49). Die Unterschätzung des Einflusses des technologischen Fortschritts und zudem auch der positiven Effekte der internationalen Arbeitsteilung bei Malthus überrascht. Vor allem Letztere hätten Malthus, den Augenzeugen des Aufstiegs Großbritanniens zum „Exportweltmeister“, nicht entgehen dürfen.

      Aber selbst wenn man die genannten Einflussfaktoren beiseite lässt, stellt sich die Frage der Relevanz des von Malthus beschriebenen Krisen­mechanismus im vorindustriellen Europa, in Nordamerika und Australien. Ganz abgesehen davon, dass ungeklärt bleibt, ab welchem Zeitpunkt die Qualität der Grenzböden zu sinkenden Einkommen führt, spielte deren Bewirtschaftung in Europa lediglich in der ersten Hälfte des 14., gegen Ende des 16. Jahrhunderts oder aber auch im 18. Jahrhundert eine gewisse, gleichwohl regional begrenzte Rolle, in den von

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      europäischen Auswanderern besiedelten Überseegebieten aber praktisch überhaupt nicht. Und auch in Europa gab es Landreserven: Im 18. Jahrhundert waren in Ostpreußen, in der pannonischen Tiefebene und in Südrussland ganz erhebliche Neubesiedlungsgebiete mit sehr ertragreichen Böden verfügbar. Über weite Strecken der europäischen Bevölkerungsgeschichte war der Kontinent ohnehin dünn besiedelt und der Mangel an ertragreichen Böden nicht das zentrale Problem, sondern viel eher ein Mangel an Menschen. Waren diese in genügender Zahl vorhanden, so produzierten die in der Landwirtschaft Tätigen in steigendem Maße und mit erhöhter Effizienz für den Markt. In Norditalien, den Niederlanden, in Südostengland und im Pariser Becken entwickelten sich schon im Spätmittelalter Zonen hoher agrarischer Produktivität. Es gab genug Dünger aufgrund der hohen urbanen Bevölkerungsdichte, und agrartechnische Fortschritte verbreiteten sich rasch (Persson 2010: 51). Eine Grundannahme der klassischen Ökonomie erweist sich demnach für die vorindustriellen Verhältnisse als ziemlich unerheblich (Grantham 1999).

      Die Kritik an Malthus geht jedoch über seine fragwürdigen ökonomischen Annahmen hinaus. Wer die europäische wie auch die globale Bevölkerungskurve bis weit in das 19. Jahrhundert betrachtet, dem fallen auf den ersten Blick jene tiefen demografischen Einschnitte auf, die die großen Seuchenbewegungen – in Eurasien und Nordafrika vor allem die Pest – erzeugten. Ab der Neolithischen Revolution waren menschliche Gesellschaften bis weit in das 19. Jahrhundert primär Agrargesellschaften, die durch das enge Zusammenleben von Menschen und Tieren gekennzeichnet sind. In solchen entstehen Zoonosen, von Tier zu Mensch wechselseitig übertragbare Infektionskrankheiten. Die Erreger von Zoonosen können mutieren und von Parasiten der Tiere zu Parasiten des Menschen werden, so etwa im Fall der Rinder die Tuberkulose, im Fall der Schweine die Grippe. Über das Wasser, die Luft oder die Blutbahn verbreiten sie sich endemisch und nicht zuletzt epidemisch. Nun ist die Letalität bei manchen dieser Infektionskrankheiten von den materiellen Lebensverhältnissen – Ernährung, Wasserversorgung, Wohnbedingungen – abhängig. Unterernährte Menschen fielen bestimmten Seuchen, vor allem jenen, die die Verdauungsorgane angriffen, viel eher zum Opfer als andere. Infektionen beschleunigten auch im Lebenslauf

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      den Ausbruch degenerativer Erkrankungen, die in den modernen Industriegesellschaften in der Regel auf das höhere Alter beschränkt bleiben (Fogel 2004: 32). Es gibt aber eine Reihe von Infektionskrankheiten, deren Morbidität und Letalität nur wenig vom Ernährungszustand des infizierten Individuums abhängt (Lunn 1991: 137). Dazu zählen mit der Pest und den Pocken zwei epidemisch auftretende Infektionskrankheiten, von denen erstere die Bevölkerungsentwicklung Europas im Früh- und Spätmittelalter und im 16. und 17. Jahrhundert ganz entscheidend beeinflusste, während letztere im 18. Jahrhundert eine wichtige, wenngleich mit der Pest nicht ganz vergleichbare Rolle spielte. Damit werden dem Erklärungsgehalt der Malthus’schen checks deutliche Grenzen gesetzt, die in der Epidemiologie sowie in der Klimageschichte und nicht in der Wirtschaftsgeschichte zu suchen sind (Lee / Anderson 2002: 217).

      Auch der Zusammenhang zwischen materiellen Lebensverhältnissen und Sterblichkeit ist keineswegs so einfach, wie das Malthus dachte. Der Ernährungszustand kann einerseits durch Veränderungen in der Verfügbarkeit der Nahrungsmittel, andererseits aber auch infolge von Änderungen des menschlichen Energiebedarfs durch Schwankungen von Arbeitsintensität, Klima und Krankheiten beeinflusst werden. Im Extremfall führt dauernde Unterversorgung menschlicher Populationen zum Bevölkerungsrückgang durch den mittel- oder unmittelbaren Hunger­tod. Leichte Unterernährung kann jedoch das Immunsystem sogar stärken (Walter / Schofield 1991: 18 f.). Um die Sache noch komplizierter zu machen, gibt es historisch und gegenwärtig zudem unterschiedliche Niveaus des Ernährungszustandes mit gleichem relativen Sterberisiko (Fogel 2004: 23 – 27).

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      Die erste demografische Auf- und Ab-Phase erlebten und erlitten die in Europa lebenden Menschen im Frühmittelalter. Das 6. Jahrhundert stand in Europa eindeutig im Zeichen sich verschlechternder Lebensbedingungen, die allein bereits einen Bevölkerungsrückgang bewirkt hätten (McCormick 2001: 38 – 40). Den nachdrücklichsten Einfluss hatten jedoch die

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      sogenannten