1 Europäische Bevölkerung und Weltbevölkerung 1 – 2010 (Abbildungsnachweis)
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Welche Rolle spielte nun Europa im globalen Kontext? Ab wann kann von einer europäischen Bevölkerungsgeschichte eigentlich erst gesprochen werden, und was ist an ihr überhaupt „europäisch“? Wenn man vom geografischen Begriff Europa einmal abstrahiert, ist der Beginn einer im weitesten Sinne europäischen Bevölkerungsgeschichte frühestens etwa um die Mitte des ersten nachchristlichen Jahrtausends anzusetzen, wenngleich der Entstehungsprozess die gesamte zweite Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrtausends zeitlich umfasste. Bis in das 5. Jahrhundert bildete das Imperium Romanum als mit Abstand bevölkerungsreichstes territoriales Gebilde auf heutigem europäischen Boden eine den gesamten Mittelmeerraum umfassende politische, ökonomische und bis zu einem gewissen Grad kulturelle Einheit, sodass es wenig Sinn macht, dessen europäische Bevölkerungsteile von den asiatischen und nordafrikanischen zu trennen, was auch aufgrund der dünnen Quellenlage kaum möglich wäre. Die mit hoher Unsicherheit zu schätzende Bevölkerungszahl des Imperiums dürfte wohl zu keinem Zeitpunkt deutlich über 50 Millionen gelegen haben (Van Houtte 1980: 15). Wie sich aus der politischen Geschichte unschwer ableiten lässt, war die Bevölkerung der in Europa gelegenen Teile des Imperium Romanum jedenfalls seit dem 5. Jahrhundert rückläufig, ohne dass die Rückgänge genau bezifferbar wären. Im späten 5. Jahrhundert zerfiel sein westlicher Teil, und auch wenn es im 6. Jahrhundert dem oströmischen Reich noch einmal für wenige Jahrzehnte gelang, einen großen Teil des Mittelmeerraums zurückzuerobern, verlor Ostrom endgültig in den Kriegen mit den Arabern seine imperiale Position und wurde zur Mittelmacht „Byzanz“. Damit zerbrach nicht nur eine romanisierte Mittelmeerwelt. „Die Untergangsphase des Römischen Reiches ist gleichbedeutend mit den Geburtswehen Europas. Am Ende des 1. Jahrtausends reichten das entwickelte Europa und der Club der christlichen Monarchien nicht mehr bis zur Elbe wie im Jahr 500 n. Chr., sondern bis an die Wolga.“ Das Ausmaß merkantiler, kultureller und demografischer Austauschbeziehungen hatte nun ein Niveau erreicht, das den Begriff „Europa“ in den Köpfen der Menschen mit Bedeutung erfüllte (Heather 2011: 349, 548).
Ein größer werdender Teil der Bevölkerung des Kontinents lebte in diesem Europa in klimatisch weniger begünstigten, auch zum Teil sehr kleinteiligen Zonen. So etwas wie „das“ europäische Klima hat es nie
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gegeben. Um die Spannweite der klimatischen Bedingungen Europas zu charakterisieren: Der Zeitraum zwischen dem letzten Frost des endenden und dem ersten des darauffolgenden Winters beträgt in Südeuropa mehr als 300 Tage, im nördlichen Russland zwei bis drei Monate (Livi-Bacci 1999: 31). Dennoch lässt sich ein langfristiger Trend der Klimakurve auf der nördlichen Hemisphäre festmachen, der in groben Zügen den Klimaverlauf zutreffend beschreibt. Kühle Perioden waren die Spätantike und das Frühmittelalter und die Zeitspanne von etwa 1300 bis 1900, die sogenannte Kleine Eiszeit (Malanima 2010a: 102). Die kältesten und auch niederschlagsreichsten zehn der letzten 500 Jahre fielen in den Zeitraum 1592 bis 1601 (Mauelshagen 2010: 65 f.). Die Kleine Eiszeit fand im Zeitraum 1675 bis 1715 im sogenannten Late Maunder Minimum 4 ihren Höhepunkt. Während als primäre Ursache der Klimaschwankungen vor allem Veränderungen der Sonnenaktivität infrage kommen, erfuhr die globale Abkühlung während des Late Maunder Minimum durch heftige Vulkanausbrüche in Teilen Asiens eine Verschärfung (Mauelshagen 2010: 78 – 84; Geiss 2007: 31). Klimatischen Ungunstlagen kam nicht zuletzt darum erhöhte Bedeutung für das Leben und Überleben der zunächst in weiten Teilen des Kontinents auf kleinen Siedlungsinseln lebenden Menschen zu, weil sie entsprechende Auswirkungen auf die lange Zeit sehr bescheidenen Ernteerträge hatten, aus denen ein erheblicher Teil der menschlichen Nahrung hergestellt wurde. Zwar verdichteten sich im Lauf des Hoch- und Spätmittelalters und dann vor allem in der frühen Neuzeit die Austauschbeziehungen, doch blieb die Abhängigkeit von den Erträgen lokaler und regionaler Agrarproduktion ganz erheblich. Das hatte auch demografische Konsequenzen. Potenzielle Nahrungsmittelknappheit und Hunger beeinflussten den spezifischen gesellschaftlichen Umgang mit Geburt, Krankheit und Tod. Als historisch-demografische Charakteristika Europas wären etwa das European Marriage Pattern, das extramediterrane europäische Agrarsystem oder aber auch der spezifische Verlauf des „Demografischen Übergangs“ zu nennen.
Aus der weiten anthropologischen Perspektive unterschied sich die Wachstumskurve der europäischen Bevölkerung vom Frühmittelalter
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bis in die jüngere Gegenwart von der globalen nicht wesentlich. Vermutlich mehr als 40 Millionen Menschen besiedelten den Kontinent einschließlich der asiatischen Gebiete der früheren Sowjetunion um die Jahre 500 und 1000, rund 100 um 1700, 360 um 1913, mehr als ein halbe Milliarde um die Jahrtausendwende. Die Ähnlichkeit der Kurven endet allerdings im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, denn nun zeigt die Wachstumskurve in Europa – und in den außereuropäischen Industrieländern – im Gegensatz zur Dritten Welt eine ziemlich deutliche Verflachung. Auf die demografische Entwicklung der letzten rund 60 Jahre geht auch der längerfristige Unterschied in den durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten zurück. Die europäische Bevölkerung (einschließlich Russlands) ist in den letzten eineinhalb Jahrtausenden um 0,20 %, die Weltbevölkerung um 0,23 % jährlich gewachsen. Diese sehr langfristige Perspektive relativiert also die rezenten demografischen Wachstumsungleichgewichte zwischen Industrieländern und Dritter Welt und verweist darauf, dass sie keineswegs so festgeschrieben sind, wie das der entwicklungspolitische Diskurs der letzten Jahrzehnte suggeriert. Es mag beispielsweise überraschen, dass der Bevölkerungsanteil des „vormodernen“ Asien, das mit China und Indien in Vergangenheit und Gegenwart die mit Abstand bevölkerungsreichsten Reiche bzw. Staaten beheimatet, an der Weltbevölkerung um das Jahr 1800 mit über 70 % deutlich über jenem der Gegenwart mit knapp über 60 % lag (UN 2009: 4).
Die rezent exponentiell steil nach oben zeigende hypergeometrische Wachstumskurve der Weltbevölkerung hätte ein Mann wohl als Bestätigung seiner „Theorie“ aufgefasst, der um das Jahr 1800 Bevölkerungswachstum in einem vieldiskutierten Essay problematisierte. Thomas Robert Malthus (1766 – 1834), ein anglikanischer Geistlicher aus Surrey, der gemeinsam mit Adam Smith und David Ricardo das Dreigestirn der klassischen Ökonomie bildete, postulierte, dass sich die Bevölkerungsentwicklung ohne bewusste menschliche Eingriffe mit geometrischem Wachstum, die Erhöhung der Bodenerträge jedoch nur linear 5 steigern würden. Menschen wären daher gezwungen, immer schlechtere (Grenz-)
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Böden zu erschließen und zu bewirtschaften. Der geringere Ertrag dieser Anbaugebiete drücke die entsprechenden Einkommen, mit der Konsequenz multipler Anstiege der Sterblichkeit, die Malthus als positive checks bezeichnete. Die demografische Wirkung dieser positive checks ebenso wie jene vorbeugender Maßnahmen (preventive checks) – Einschränkung der menschlichen Reproduktion durch „Enthaltsamkeit“ – könnten aber mittel- und langfristig den Lauf des demografischen Wachstums nicht aufhalten. Zu stark sei der menschliche Vermehrungstrieb, zumindest bei den Armen und damit bei der überwiegenden und, wie Malthus mutmaßte, aufgrund ihres generativen Verhaltens zunehmenden Mehrheit der Bevölkerung (Malthus 1985: 59 – 218). Nach Malthus würde jedenfalls der Storch den Wettlauf mit dem Pflug gewinnen, wie es ein deutscher Demograf anlässlich des 200. Jahrestages der Veröffentlichung des Essays on the Principle of Population pointiert formuliert hat (Schmid 1999: 81 – 86). In den folgenden, stark erweiterten und veränderten Ausgaben seines Werkes relativierte Malthus seine pessimistische Prognose bis zu einem gewissen Grad, gestand der Industrialisierung eine mildernde Wirkung und der Auswanderung die Funktion eines Bevölkerungsventils zu. Im Kern hielt er aber weiterhin den vorindustriellen Bevölkerungszyklus weder für überwunden noch für überwindbar (Winkler 1996: 127, 207).
Der Zeitpunkt des Erscheinens von Malthus’ Essay im ausgehenden 18. Jahrhundert war keineswegs zufällig. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erlebte der eurasische Kontinent ein anhaltendes Bevölkerungswachstum bei sich verschlechternden Überlebensbedingungen (Pomeranz 2000: 211 – 242). Diese von Zeitgenossen wie