Gisa Bauer

Grundwissen Konfessionskunde


Скачать книгу

karg eingerichteten modernen Betonkirchen feiern, die lediglich (aber immerhin!) durch die gleiche LiturgieLiturgie geeint sind.

      Wer den GottesdienstGottesdienst in einer anglikanischen Kirche besucht, weiß im Vorfeld nicht, was ihn erwartet. Je nachdem, welcher kirchlichen Richtung die Gemeinde angehört, kann der Betreffende einen katholisch wirkenden Gottesdienst erleben oder einen charismatisch ausgerichteten.

      Auch bei den Kirchen, die der evangelischen Konfessionsfamilie angehören, kann man im Voraus kaum Aussagen darüber treffen, wie deren GottesdiensteGottesdienst aussehen werden, wenn man sie nicht bereits kennt. Während in der einen Kirche Heilungs-, Salbungs- und Lobpreisgottesdienste aus dem charismatisch-pfingstlerischen Milieu die Sehnsucht nach einem sinnlichen Gottesdienst befriedigen, ist dies für eine reformierte Kirche kaum denkbar und würde dort strikt abgelehnt. Lutherische Gottesdienste wiederum können Formen der Hochkirchlichkeit annehmen, die auf Gläubige anderer evangelischer Prägung wie römisch-katholische Gottesdienste wirken. Die Beispiele ließen sich zahlreich fortführen.

      Das Phänomen der interkonfessionellen Vermischung oder der transkonfessionellen Präsentation ist keineswegs nur auf die GottesdiensteGottesdienst beschränkt. Bei öffentlichen Diskussionen zu strittigen, vor allem ethisch relevanten Fragen der Gegenwart kann nur noch der Fachmann sagen, wer zu welcher Konfession gehört, und es muss schon sehr genau beobachtet werden, wer wie argumentiert, um eine konfessionelle Prägung erkennen zu können.

      Bezeichnend für die konfessionelle Verwirrung aufgrund von Unkenntnis ist der Befund, dass Christen aller Konfessionen aus ihren Kirchen austreten, wenn beispielsweise ein römisch-katholischer BischofBischof einen medienwirksamen Skandal verursacht oder römisch-katholische PriesterPriester und Bischöfe des Missbrauchs von Kindern überführt werden, auch wenn es Amtsträger einer anderen christlichen Kirche sind. Alle Kirchen werden bei Skandalen, Missmanagement oder gar kriminellen Taten in Mitleidenschaft gezogen, obwohl sie mit den entsprechenden Fällen in anderen Konfessionen nichts zu tun haben. „Die Kirche“ wird in Haftung für alle Konfessionen genommen.

      Für die KonfessionskundeKonfessionskunde folgt daraus, dass ihre Beschreibungen einer Kirche lediglich Wegmarken zum besseren Verständnis sein können. Sie können und dürfen keinen Anspruch auf Vollständigkeit und erst recht keinen normativen Anspruch erheben. Konfessionskunde ist die Beschreibung einer Kirche oder Glaubensgemeinschaft und muss akzeptieren, dass sich ihr Forschungsgegenstand unter Umständen schneller verändert, als sie ihn beobachten und untersuchen kann.

      Reale Kirche und kirchliches IdealDie Existenz einer Spannung zwischen dogmatischer Bestimmung und empirischer Wirklichkeit der Kirche ist nicht nur Thema der KonfessionskundeKonfessionskunde, sondern auch der anderen theologischen Fächer. Sie wird z.B. in der Systematischen Theologie als Problemanzeige in ekklesiologische Definitionen einbezogen (vgl. Laube, 2011; Hovorun, 2015). Die Einsicht, dass nur indem dieses Spannungsverhältnis konkret bestimmt und offen benannt wird, die geschichtlich gegebene Wirklichkeit einer Kirche überhaupt theologisch begriffen werden kann, setzt sich zunehmend durch. Es geht nicht mehr darum, ein dogmatisch definiertes Ideal mit einer real vorfindlichen Kirche zu vergleichen und so deren Defizite herauszustellen. Wichtiger ist es von der kirchlichen Wirklichkeit auszugehen und aufzuzeigen, inwiefern jede Kirche über sich selbst hinausweist, um so das Wesen von Kirche zu erfassen (vgl. Laube, 2011, 148). Der Konfessionskunde, die sowohl die ekklesiologisch-dogmatische Selbstbestimmung als auch die empirisch-kirchliche Wirklichkeit in ihre Betrachtung und Untersuchung einbezieht, kommt hierbei die wesentliche Funktion zu, die sich aus dem Spannungsverhältnis ergebenden Widersprüche, Kompensationsversuche und Unverhältnismäßigkeiten zu verarbeiten, ohne sie zu systematisieren, zu bewerten oder normative Schlüsse aus ihnen abzuleiten. Das bedeutet auch, dass paradoxe Phänomene innerhalb von Kirchen nebeneinander stehen bleiben, ohne dass der Spannungsbogen zwischen Ideal und Wirklichkeit aufgelöst wird bzw. aufgelöst werden kann.

      Die interne PluralisierungPluralität – Pluralisierung der KonfessionenInnerhalb einer Konfessionsfamilie, zuweilen sogar innerhalb einer einzigen Kirche, sind die faktischen Lebensvollzüge der Kirchen oft sehr unterschiedlich und weisen eine hohe PluralitätPluralität – Pluralisierung auf. Das ist zum einen durch die verschiedenen Inkulturationen, d.h. die konkret vorfindlichen Milieus, historischen Kontexte, Mentalitäten und Frömmigkeitsstile zu erklären, zum anderen aber auch durch die Pluralisierung und Individualisierung der modernen Gesellschaft, die auf die Kirchen ausstrahlt. Weder ein polemisches Klagen, dass jeder (evangelische) Geistliche „macht, was er will“ noch eine Ignoranz der durch die Individualisierung aufgeworfenen Probleme ist dabei angeraten. Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass die Pluralität einer Kirche nicht nur eine Stärke sein kann, sondern die gemeinsame Identität und Erkennbarkeit auch schwächt. Die gegenwärtig große Herausforderung für das Christentum ist der angemessene Umgang mit Pluralität und Pluralismus, ohne in eine oberflächliche Gleich-Gültigkeit oder eine Verteidigungshaltung der absoluten Wahrheit abzugleiten. Die Einübung einer am Anderen interessierten, toleranten und gleichermaßen fest verankerten eigenen Haltung ist eine der aktuell wichtigsten Aufgaben in Theologie und Kirche.

      Beispiel: Die „Heilig-Rock-WallfahrtHeilig-Rock-Wallfahrt“Als Beispiel für konfessionsinterne PluralisierungPluralität – Pluralisierung kann die Diskussion um die Heilig-Rock-WallfahrtHeilig-Rock-Wallfahrt 2012 in Trier angeführt werden. Progressive römisch-katholische Christen beschwerten sich bezüglich dieser Wallfahrt in evangelischen Pfarrämtern darüber, dass es so etwas wie Wallfahrten überhaupt noch gibt, und hielten evangelischen Geistlichen vor, dass diese keinen Einspruch erheben würden. Gleichzeitig warfen konservativeKonservativ römisch-katholische Christen ihrer Kirchenleitung vor, dass sie durch den Begriff der „Christuswallfahrt“ den speziellen Charakter einer Reliquienwallfahrt verdunkelten und erhoben den Vorwurf, dass der BischofBischof von Trier, Stephan Ackermann$Ackermann, Stephan, geb. 1963, römisch-katholischer Bischof von Trier (geb. 1963), in Rom keinen besonderen AblassAblass, wie es bei einer Heilig-Rock-Wallfahrt möglich ist, erbeten habe und ihnen diesen nun vorenthalte.

      Auf evangelischer Seite kam Kritik daran auf, dass evangelische Christen der Einladung zur Wallfahrt folgten, anstatt Martin Luthers$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner Einsichten zum Thema Reliquien zu verinnerlichen.

      Das Beispiel zeigt, dass in beiden Konfessionen der gleiche Anlass heftigen Streit nach sich zog und dass neue Koalitionen jenseits der Konfessionsgrenzen gesucht und gefunden wurden. Trotz einer klaren theologischen Ablehnung von AblassAblass und Wallfahrt nahmen und nehmen Protestanten an der Heilig-Rock-WallfahrtHeilig-Rock-Wallfahrt teil, während römisch-katholische Christen zum großen Teil problemlos auf einen Ablass verzichten, der ihnen durch ihren BischofBischof aus ökumenischer Rücksichtnahme sowieso vorenthalten wird.

      Paradigmatisch wird hier die Schwierigkeit deutlich, in der Moderne die Konfessionsgrenzen klar zu erfassen und dadurch bestimmte Beschreibungen der Realität zu liefern. Aus Sicht der KonfessionskundeKonfessionskunde muss eine Verwischung klassischer Konfessionsgrenzen und die Bildung neuer Koalitionen klar erkannt und benannt werden.

      Die Entwicklung jenseits der KonfessionenDie Moderne hat im Umgang mit dem Transzendenten und der ReligionReligion in den westlichen Gesellschaften umwälzende Veränderungen hervorgebracht, u.a. Prozesse der SäkularisierungSäkularisierung, die bis in die Gegenwart den Verlust von Religionsrelevanz zeitigen und TraditionsabbrücheTraditionTraditionsabbruch beschleunigen. Teil solcher Entwicklungen ist das Phänomen der religiösen SelbstermächtigungSelbstermächtigung.

      Der postmoderne Mensch lässt sich nicht mehr vorschreiben, was er zu glauben hat, sondern wählt aus, was ihm zu glauben sinnvoll erscheint. Schon das Beispiel der Heilig-Rock-WallfahrtHeilig-Rock-Wallfahrt hat dies klar gezeigt: Wenn ein Protestant zum Heiligen Rock pilgern möchte, dann tut er das ohne Rücksicht auf die Lehren seiner Kirche. Wenn ein evangelischer Christ bei seiner Trauung das klassisch katholische „Ave Maria“ hören will, weil es „einfach so schön ist“, dann kann sich auch ein Pfarrer dem kaum in den Weg stellen. Umgekehrt sind evangelikale Lobpreislieder als Sacropop in römisch-katholischen Jugendmessen keine Seltenheit. Traditionelle Rituale werden ihres Sinnes entleert, z.B. führt ein Vater die Tochter zum Traualtar, weil es romantisch ist, nicht, wie ursprünglich