aus konfessionskundlicher Perspektive lassen sich zwei wesentliche Entwicklungen erheben: Einerseits werden die klassischen ökumenischen Streitfragen, obwohl sie nicht gelöst sind, in der kirchlichen Lebenswelt zunehmend verdrängt und sind in ihren theologischen Begründungen nur noch Fachleuten zugänglich. Auf der anderen Seite bilden sich neue Problemfelder, die die interne PluralisierungPluralität – Pluralisierung in den Konfessionen beschleunigen. Neue transkonfessionelle Koalitionen entstehen, jenseits der traditionellen Abgrenzungen der Konfessionen, und machen sie obsolet. Neue Gruppen finden sich anhand von gemeinsamen Interessen, Themen und gemeinsamen Gegnern in verschiedenen Konfessionen und formulieren gemeinsame Anliegen zu bestimmen kirchlichen Positionen oder theologischen Fragen.
Sackgassen des DialogsIm Allgemeinen wird wenig beachtet, wie umfangreich in den ökumenischen Dialogen der letzten 50 Jahre wesentliche kirchentrennende theologische Sachverhalte aufgenommen, bearbeitet und diskutiert wurden und in vielen Fällen zu Annäherungen geführt haben. Obwohl genügend Brücken zur Verständigung gebaut worden sind, scheint es gegenwärtig in der ÖkumeneÖkumene kaum Schritte aufeinander zu zu geben. Warum ist z.B. das AbendmahlAbendmahl/die EucharistieEucharistie ein Trennungsmerkmal der Konfessionen, obwohl viele Protagonisten der ökumenischen BewegungBewegung(en) der Meinung sind, dass es genügend Möglichkeiten gibt, diese Trennungen aufzuheben und/oder zu umgehen? Unterschiedliche Positionen zur Amtsfrage oder dem Verständnis von Kirche generell verhindern ebenfalls ein Aufeinanderzugehen. Allerdings treten die theologischen Ursachen der Konflikte langsam in den Hintergrund des allgemeinen Interesses. Viele Menschen lassen sich – wie beschrieben – nicht mehr vorschreiben, was sie glauben sollen und fühlen sich nicht mehr gebunden an die Gebote oder Verbote ihrer jeweiligen Konfession.
Evangelische Christen bekommen grundsätzlich von ihren Kirchenleitungen nicht gesagt, was sie glauben sollen, sondern erhalten Orientierungshilfen und Denkschriften. Inwiefern diese rezipiert werden, liegt in der Hand des Einzelnen oder der einzelnen Gemeinde. Römisch-katholische Christen erfahren oft nicht umfassend, welche Verlautbarung vom Vatikan ausgeht bzw. rezipieren Lehrnormen nach individuellem Gutdünken. So nehmen z.B. viele römisch-katholische Christen ohne Gewissensprobleme am AbendmahlAbendmahl in evangelischen Kirchen teil und verzichten damit auf die theologische Klärung des ökumenischen Problems. Umgekehrt partizipieren evangelische Christen gern und ohne theologische Zweifel an besonderen Andachtsformaten der Römisch-katholischen Kirche (z.B. in der Fastenzeit) oder an den sinnlich beeindruckenden, liturgisch opulenten orthodoxen GottesdienstenGottesdienst.
Selbst die Klärung wesentlicher theologischer Fragen vermag in der kirchlichen Praxis der ÖkumeneÖkumene kaum weiterführende Impulse zu setzen. Deutlicher Beleg für diese Erkenntnis ist die „Gemeinsame Erklärung zur RechtfertigungslehreRechtfertigung / Rechtfertigungslehre“, die das zentrale reformatorische Problem der Rechtfertigung allein aus Glauben zum Gegenstand hat. Dieses Konsensdokument, das im Dialog zwischen Lutherischem Weltbund (LWB) und der Römisch-katholischen Kirche entworfen, das 1999 feierlich unterzeichnet wurde und dem 2006 der Weltrat methodistischer Kirchen zustimmte, ist in der Regel nur theologischen Experten zugänglich, die sich darum auch wieder heftig streiten können. Obwohl mit diesem Dokument die zentrale Frage der Reformation nach der Rechtfertigung des Menschen weithin einvernehmlich geklärt wurde, ist deren Relevanz bereits für die kirchliche Praxis gering, von der öffentlichen Wahrnehmung ganz zu schweigen.
Auf der anderen Seite steht eine mitunter ganz erstaunliche Scheu an der kirchlichen Basis, sich nicht in „zivilem Ungehorsam“ über Konfessionsgrenzen hinwegzusetzen, wie es sogar Papst Franziskus (Pontifikat: seit 2013)$Franziskus, Pontifikat seit 2013, römisch-katholischer Papst in der Frage des gemeinsamen AbendmahlsAbendmahl von konfessionsverschiedenen Ehepaaren angeraten hat (vgl. Metzger, 2016, 40–42). Einer Verflachung der Konfessionalität und der konfessionellen Problematik widerspricht darüber hinaus auch das zu beobachtende Interesse von Christen in einer globalisierten Welt an dem, was andere Christen leben und wonach sie sich ausrichten. Gleichfalls ist der Bildungshunger von Christen zu konstatieren, die in Zeiten des Relevanzverlustes des Christentums über ihre eigene Konfession Bescheid wissen möchten. Von daher ist es nach wie vor ein wichtiges und wesentliches Unterfangen, konfessionelles Wissen zu erwerben, ökumenische Diskussionen zu führen und die ökumenische Annäherung zu praktizieren. Besonders scheint es da angeraten, wo praktische Probleme ihrer Lösung harren (vgl. Metzger, 2014).
Streitfelder in und zwischen den KonfessionenWährend sich durch die religiöse SelbstermächtigungSelbstermächtigung und den „zivilen Ungehorsam“ scheinbar mühelos aus den ökumenischen Sackgassen der alten Probleme befreit wird, werden andere Diskussionen in den Konfessionen mit großer Wucht geführt. Dabei verlaufen neue Fronten nicht mehr entlang der Konfessionsgrenzen, sondern durch alle Konfessionen und Kirchen hindurch. Um diese Entwicklung auf den Punkt zu bringen, lässt es sich am ehesten auf die Begriffe liberalLiberal und konservativKonservativ zurückgreifen, ohne dass hier politische Ausrichtungen oder wertende Konnotationen mitschwingen. Auch eine allzu präzise Zuordnung von Haltungen, Charakteristika oder Gruppenzugehörigkeiten ist mit diesen Termini nicht möglich. Liberal meint im weitesten Sinne die progressive Bereitschaft, neue Positionen einzunehmen, konservativ das Bestreben, traditionelle Positionen als zukunftsweisend zu bewahren. Liberale und konservative Gruppen stehen sich gegenüber, ohne dass dabei traditionelle Konfessionsgrenzen ein Hindernis darstellen.
Die wesentlichen Diskussionspunkte, die gegenwärtig liberaleLiberal und konservativeKonservativ Fronten evozieren, sind → FrauenordinationFrauenordination und Frauen in kirchlichen Leitungsämtern, → HomosexualitätHomosexualität von Kirchengliedern und Geistlichen und – mit beidem im Zusammenhang stehend – die Frage nach dem Verständnis der Heiligen Schrift. Auf diese drei Aspekte als konfessionsüberschreitende Frontlinien wird im → Ausblick ausführlich eingegangen werden. An dieser Stelle aber werden kurz die Folgen dieser Frontstellung für die KonfessionskundeKonfessionskunde skizziert.
Konsequenz für die KonfessionskundeKonfessionskundeDie Herausforderung für das Fach KonfessionskundeKonfessionskunde ist, dass sich konfessionelle Grenzen zunehmend schwerer definieren lassen. Sobald bei den transkonfessionellen Frontstellungen die gemeinsamen Ziele der aus verschiedenen Konfessionen zusammengesetzten Gruppen erreicht wurden (oder sie sich eingestehen, dass die Ziele nicht zu erreichen sind), zerfallen die sozialen Einheiten, können sich aber bei einem anderen kontroversen Thema, sogar auf verschiedenen Seiten, wieder begegnen. Die jeweilige konfessionelle Anbindung spielt dabei so gut wie keine Rolle.
In Analogie zur zunehmenden Bedeutungslosigkeit früherer politischer oder sozialer Zuordnungen wie „rechts“ und „links“ oder „oben“ und „unten“ verlieren Bezeichnungen wie „katholisch“ oder „evangelisch“, „orthodox“ oder „anglikanisch“ ihre Deutekraft, wenn es darum geht, konkrete Positionen zu bezeichnen. Somit steht die KonfessionskundeKonfessionskunde zunehmend unter dem Druck des Zerfalls ihrer Beobachtungsfelder in eine konfessionslose Praxis und eine kirchliche Theorie ihrer selbst. Wenn sich Gruppen innerhalb einer Kirche von ihrer „eigentlichen“ Position, d.h. der konfessionellen Bindung ihrer Kirche, kaum noch leiten lassen, dann kann konfessionskundlich nur darauf hingewiesen werden, dass es sich im Folgenden um Darstellungen des theoretischen Selbstbildes handelt, nicht um ein reales Abbild. Dann stehen mitunter konfessionelle Grenzen nur noch unverstanden in nicht gelesenen Büchern – u.a. Papst Franziskus wies darauf hin, dass die Lehre der Kirche in Büchern stehe, die schwer zu lesen seien (vgl. Metzger, 2014) – und werden deshalb vergessen, nicht beachtet oder nur als Verbote erlebt, ohne dass ihre Begründungen und ihr historisches Geworden-Sein verstanden wird.
Eine jede KonfessionskundeKonfessionskunde muss sich ihrer Grenzen bewusst sein, ebenso der Veränderungen, in denen sie selbst steht, und sich darum bemühen, die theologischen Beschreibungen einer Kirche mit der in ihr gelebten Wirklichkeit in Beziehung zu setzen. Phänomenologisch kann es hier zu Überraschungen kommen, die entweder zeigen, wie belastbar konfessionelle Merkmale geworden sind und wie dehnbar oder durchlässig konfessionelle Grenzen geworden sind. Die Konfessionskunde muss die Fähigkeit entwickeln, ohne Scheuklappen kirchlich-plurale, transkonfessionelle und zunehmend auch synkretistische Phänomen zu erfassen. Dann, aber nur dann, gewinnt sie entscheidend an Bedeutung für die Durchdringung