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Nachhaltigkeit interdisziplinär


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fügt Melanie Ströbel in ihrem Kapitel zur Tourismusforschung einen weiteren Aspekt hinzu. Während sich viele Organisationen und lokale Destinationen um sanfte Formen des Tourismus bemühen (wie beispielsweise Ökotourismus, community-based tourism oder armutsbekämpfenden pro-poor tourism), ist die genaue Bedeutung von Nachhaltigkeit im Tourismus in der Forschung nach wie vor noch umstritten. Grund dafür ist u. a. die Notwendigkeit, bei der Bewertung von Nachhaltigkeit in diesem Bereich sowohl globale Entwicklungen als auch lokale Gegebenheiten zu beachten und ökonomische, ökologische und soziale Auswirkungen von konkreten Reise-Entscheidungen (wie etwa Wahl des Transportmittels oder Nähe bzw. Distanz der Urlaubsdestination), politischen Vorgaben oder Veränderungen in Betracht zu ziehen und gegeneinander abzuwägen. In ihrer Fallstudie zu Island verdeutlicht Ströbel das Zusammenspiel von vielseitigen positiven und negativen Effekten von Tourismus auf Ökonomie, Umwelt und Gesellschaft, welche die Nachhaltigkeitsdebatte in Wissenschaft und Praxis vor große Herausforderungen stellt.

      Globale und lokale Zusammenhänge und Widersprüche stellt auch Tobias Hallers Kapitel aus der Sozialanthropologie in den Vordergrund. Haller verdeutlicht, dass Vorstellungen von Nachhaltigkeit im globalen Norden und im globalen Süden nicht identisch sind und dass die Perspektive der Letzteren gerade angesichts der globalen Dimensionen des Klimawandels ebenso wie der wirtschaftlichen Verflechtungen zwingend in die Nachhaltigkeitsdebatte einfließen muss. Die fehlende Kenntnis spezifischer kultureller Verständnisse von Nachhaltigkeit führt durch Mechanismen der Globalisierung zur Unterminierung und Zerstörung lokaler nachhaltiger Praktiken. Haller zeigt dies anhand von Fallbeispielen zur ehemals nachhaltigen Nutzung von Allmend-Ressourcen in Sambia und Sierra Leone, die durch lokales Wissen und konkrete Regelwerke gewährleistet war, durch koloniale und postkoloniale Prozesse jedoch beeinträchtigt und teilweise ruiniert wurde. Das Kapitel bietet einen neuen Analyserahmen, der auf politischer Ökologie und Institutionenmanagement beruht und es erlaubt, hegemoniale Aspekte des Nachhaltigkeitsbegriffs zu untersuchen und lokale Alternativen zu erforschen.

      Wie Haller geht es auch Torsten Meireis in seinem Kapitel zur Ethik zunächst einmal darum, die Rolle von Nachhaltigkeit als etabliertes Leitkonzept zu hinterfragen. Kritisiert Haller aus der Sicht der Sozialanthropologie die Vorherrschaft eines westlichen Verständnisses von Nachhaltigkeit, das andere kulturelle Zugänge ignoriert, so erinnert Meireis daran, dass Nachhaltigkeit ein normatives Konzept ist. Als solches handelt es sich bei Nachhaltigkeit nicht, wie man angesichts der Verbreitung und Konsensfähigkeit des Konzepts meinen könnte, um einen Ist-Zustand oder spezifische und etablierte Handlungsweisen, sondern um eine kontrafaktische Zielbestimmung, deren Umsetzung offen ist und die damit einer ethischen Klärung moralischer Urteilsperspektiven bedarf. Anhand von diversen Fallbeispielen, wie etwa dem ins UNESCO-Welt-Naturerbe aufgenommenen europäischen Urwald im Gebiet von Bialowieza in Polen und Weißrussland, der Feinstaubbelastung in deutschen Städten und den amerikanischen coal rollers, beleuchtet Meireis Konzepte wie moralischen Anthropozentrismus, enge und weite sowie starke und schwache Nachhaltigkeit. Meireis betont die ethische Notwendigkeit einer Berücksichtigung kultureller Dimensionen von Nachhaltigkeit, wobei Kultur nicht als Instrument der Vermittlung von Nachhaltigkeit verstanden werden darf, sondern als Horizont, innerhalb dessen Wertvorstellungen und normative Präferenzen überhaupt erst entwickelt werden können.

      Meireis betont abschließend auch die integrativen Leistungen einer Nachhaltigkeitsethik, die Fragestellungen nicht nur interdisziplinär beleuchten, sondern transdisziplinär erschließen kann. Ein ähnlicher Anspruch lässt sich im gesamtgesellschaftlichen Bildungsauftrag erkennen, um den es in Berbeli Wannings Kapitel zu Bildungspolitik und Didaktik geht, das sich mit der konkreten Umsetzung der geforderten Nachhaltigkeit als Bildungskonzept befasst. Wanning behandelt das Konzept „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (BNE) in politischer, historischer und systematischer Sicht und spannt einen Bogen zwischen bildungspolitischen Ansätzen (samt deren historischer Entwicklung) und spezifischen didaktischen Maßnahmen. Bildung für nachhaltige Entwicklung wird dabei als ganzheitlicher Prozess verstanden, der in enger Verbindung mit dem Ziel 4 (Quality Education) der Sustainable Development Goals steht. Besondere Aufmerksamkeit widmet Wanning neueren didaktischen Ansätzen des partizipativen, transformativen und globalen Lernens in Bezug auf Umweltbildung und Werteerziehung. Damit wird auch in diesem Kapitel die Wichtigkeit des Prinzips der Teilhabe betont, die Cordula Ott für die Nachhaltigkeitsgouvernanz und Tobias Haller im Rahmen der Sozialanthropologie hervorheben. Als Fallstudie dient Wanning das „globale Lernen“, verstanden als Querschnittsaufgabe, mit der die Globalität unserer Lebensbedingungen vermittelt werden soll. Hierbei verknüpft Wanning die Diskussion von internationalen Entwicklungen mit der Bildungspolitik Deutschlands unter Berücksichtigung von Auswirkungen auf Fächerkanon und Unterricht.

      Wie Wanning in ihrem Kapitel hervorhebt, leisten gerade die sprachlich-literarischen Fächer einen wichtigen Beitrag für die Entfaltung des wertorientierten kritischen Bewusstseins, ohne das die Erziehung zur Weltbürgerschaft, auf die Bildung für nachhaltige Entwicklung abzielt, scheitern muss. Bildung für nachhaltige Entwicklung gehört zentral in den Bereich der ‚kulturellen Nachhaltigkeit‘, die in den letzten Jahren ergänzend zu den drei anderen ‚Säulen‘ – der ökonomischen, ökologischen und sozialen – von Seiten der Kulturwissenschaft zunehmend als konstitutive Dimension von Nachhaltigkeit diskutiert wird. Gabriele Rippl stellt die Geschichte sowie die unterschiedlichen Bedeutungen und Definitionen des komplexen Begriffs ‚kulturelle Nachhaltigkeit‘ vor. Sie entfaltet verschiedene (enge und weite) Konzepte von ‚Kultur‘, die dazu beitragen, die Rolle der Kulturwissenschaft in der Debatte um Nachhaltigkeit zu beleuchten. Während im Sinne der UNESCO und ihrer Welterbe-Projekte kulturelle Nachhaltigkeit darin besteht, die kulturelle Diversität, das kulturelle Erbe und regionale kulturelle Vielfalt zu fördern und zu bewahren, beleuchtet Rippl zusätzliche Bedeutungen des Konzepts, die sich in den letzten Jahren herausgebildet haben und eng mit kulturell geprägten Werten, d. h. mit normativen moralischen und ethischen Fragen zusammenhängen. Sie thematisiert exemplarisch verschiedenartigste Medien und Institutionen des kulturellen Gedächtnisses wie Museen, Archive, Bibliotheken und auch Kanones, die kulturspezifische Werte konservieren und tradieren. Letztlich stellt das Kapitel zur Diskussion, ob nicht die Kultur als das eigentliche Fundament für alle Formen der Nachhaltigkeit zu verstehen ist.

      Wie Gabriele Rippl, so beleuchtet auch Urte Stobbe in ihrem Kapitel zu den kulturwissenschaftlichen Pflanzenstudien einen Teilbereich der nicht primär textbasierten Kulturwissenschaften. In ihrer Auseinandersetzung mit diesem Gebiet spürt Stobbe den Bezügen zwischen Menschen und Pflanzen nach und legt dar, inwiefern Konzeptionen von Nachhaltigkeit mit menschlichen Vorstellungen von Pflanzen und ihrer symbolischen Bedeutung in Verbindung gebracht werden können. Hierbei konstatiert sie neben Aspekten der Vorsorge und der Verantwortung, die über Pflanzenmetaphorik transportiert werden, auch eine konzeptuelle Nähe des Nachhaltigkeitsgedankens zu Vorstellungen von Kontinuität und Beständigkeit. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang das Fallbeispiel zu Schildbachs Holzbibliothek in Kassel, das zeigt, wie pflanzliches Material zur Speicherung und Verbreitung von botanischem Wissen eingesetzt und damit auch selbst nachhaltig gesichert wurde. Stobbes literarische Fallbeispiele zeigen ergänzend, wie im frühen 19. Jahrhundert versucht wurde, über Pflanzenbilder Kontinuität in sowohl zwischenmenschlichen als auch intergenerationellen Bereichen zu stiften, und wie nachhaltige Praktiken über Bilder vom Umgang des Menschen mit Pflanzen kulturell begründet und verankert wurden. Aus dem Vorkommen ähnlicher Pflanzenbilder, wie etwa Bäumen als symbolischen Garanten für Fortbestand, zieht Stobbe den Schluss, dass es sich hier um eine anthropologische Konstante handelt.

      Wenngleich medial und künstlerisch andersartig präsentiert, speichern und tradieren auch populäre Lieder wahrgenommene ökologische Transformationen, diesbezügliche kollektive Reaktionen und artikulieren oft bildlich-metaphorisch Visionen einer nachhaltigeren Gesellschaft. Aus der Perspektive der Popmusikforschung analysiert Thorsten Philipp das populäre Lied als eine ästhetische Praxis, die menschgemachte ökologische Risiken und diesbezügliche (sozial)ethische Imperative popularisiert und damit in gesellschaftliche Schichten trägt, die für die konventionell-politischen Wege der Nachhaltigkeitskommunikation kaum zugänglich sind. Der Popsong stellt einen vorpolitischen Alltagscode zur Verfügung, der zur Verarbeitung von Umweltkonflikten beitragen kann, indem er gesellschaftliche Konventionen in Frage stellt und umweltpolitisches Handeln affektiv und emotional zu legitimieren sucht. Gleichzeitig