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Nachhaltigkeit interdisziplinär


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sind. Für nach schnellen, einfachen Lösungen suchende Leserinnen und Leser ist die Bestandsaufnahme der einzelnen Kapitel in dieser Hinsicht deprimierend: Die Vielschichtigkeit aller Aspekte von Nachhaltigkeit, die komplexe Verknüpfung mit diversen Bereichen, Konstellationen und Zielsetzungen mag gerade angesichts der durch den Klimawandel und dessen Folgeentwicklungen bedingten Zeitnot entmutigend wirken. Deshalb kommt der gesamtgesellschaftlichen ebenso wie der individuellen Ausbildung eines Bewusstseins für die Komplexität der Sachlage und diesbezügliche Handlungsmöglichkeiten eine besonders große Bedeutung zu – was in diesem Kompendium von verschiedenster Seite, von der Betriebswirtschaft und Ernährungsgeographie über die Nachhaltigkeitsgouvernanz, Bildungspolitik und Didaktik bis hin zur Medienwissenschaft, mit Nachdruck hervorgehoben wird. Keineswegs propagieren die Kapitel damit die von Armin Grunwald kritisierte „Privatisierung der Nachhaltigkeit“2. Nachhaltigkeit ist, um mit Grunwald zu sprechen, „eine Sache der Polis“ (ebd.: 181). Individuelle Verantwortung betrifft daher nicht ausschließlich Fragen nachhaltigen Konsums, sondern es geht um Partizipation im Sinne politischer Teilhabe. Die Förderung derselben wird in vielen Kapiteln des Kompendiums als grundlegendes Instrument für Nachhaltigkeit eingefordert. Partizipation bedarf allerdings umfassender Information.

      Die akute Problemlage fordert uns zur Entwicklung kreativer Lösungsansätze heraus, und es ist wiederum gerade ihre Komplexität, die in diesem Bereich außergewöhnlich viele interdisziplinäre Projekte auf den Plan gerufen hat, so dass unter diesen Vorzeichen nicht nur Strategien für eine Transformation zur Nachhaltigkeit entwickelt wurden, sondern auch Interdisziplinarität erprobt werden und sich entfalten konnte. Entsprechend sind die einzelnen Beiträge des Kompendiums zwar mit je einer Disziplin oder einem Forschungsbereich überschrieben, tatsächlich aber machen die meisten ihrer Fallbeispiele deutlich, dass eine mehrdimensionale (ökologische, ökonomische, soziale und kulturelle) Nachhaltigkeit nur mit vereinten Kräften und kombinierten Methoden zu denken und zu erreichen ist – und dass aus der interdisziplinären Zusammenarbeit oft transdisziplinäre Ansätze entstehen (wie die Nachhaltigkeitsforschung). Nicht alle, aber einige der hier versammelten Disziplinen kann man zu den Environmental Humanities zählen, die ihrerseits nicht nur Geisteswissenschaften im engsten Sinne, sondern auch Gesellschaftswissenschaften umfassen und sich als Verbund schon per definitionem interdisziplinärer Forschung verschrieben haben. Aus diesem noch jungen Forschungsfeld kommen wichtige Impulse für die Nachhaltigkeitsforschung.

      Wie auf den ersten Blick ersichtlich, ist das vorderste Ziel des Kompendiums die Multiperspektivität, die durch Beiträge aus 21 verschiedenen Disziplinen entsteht. Die Multidisziplinarität geht mit einer geographischen und kulturellen Breite einher, da in den Beiträgen Nachhaltigkeitsprojekte in verschiedensten Ländern diskutiert werden. Es ist zu erwarten, dass einzelne Leserinnen und Leser beim Blick in dieses Kompendium die eine oder andere Disziplin in unserem Reigen vermissen. Sollten dies Philosophie, Psychologie, Theologie, Umweltgeschichte, Politikwissenschaft oder Rechtswissenschaft sein, so liegt dies daran, dass eben diese schon in dem von Ruth Kaufmann und Paul Burger für die Schweizer Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften konzipierten Band Nachhaltige Entwicklung (2007) zu Wort kamen. Anders als unser Kompendium setzt dieser Band den Akzent auf die nachhaltige Entwicklung. Das Fehlen von den für die Nachhaltigkeitsforschung zentralen Beiträgen aus den Umwelt- und Klimawissenschaften u. a. wurde eingangs bereits mit der mengenmäßigen Dominanz von Beiträgen aus diesen Disziplinen begründet. Es bleibt zu hoffen, dass die Nachhaltigkeitsforschung weiterhin floriert und im Zuge dessen weitere Disziplinen mit den hier präsentierten in Dialog treten.

      Dank

      Einige Kapitel dieses Kompendiums gehen auf Vorträge zurück, die ihre Autorinnen und Autoren auf der Tagung Rhetorik der Nachhaltigkeit. Konzepte und Diskurse nachhaltiger Zukunftsgestaltung in Medien, Politik und diversen Fachdisziplinen gehalten haben, die wir im Juni 2016 am FRIAS (Freiburg Institute for Advanced Studies) dank Mitteln des DFG-Netzwerks Ethik und Ästhetik literarischer Reaktionen auf ökologische Transformationen veranstalten konnten. In der Folgezeit hat sich der Kreis der Beitragenden zu unserer großen Freude stetig erweitert. Allen Autorinnen und Autoren dieses Kompendiums sei herzlich gedankt für die fruchtbare Zusammenarbeit.

      Besonderen Dank schulden wir außerdem Sophia Burgenmeister für die umsichtige redaktionelle Unterstützung sowie Lobsang Gammeter und Katharina Ströhm für ihre Hilfe beim Erstellen der Quellenverzeichnisse und der Register.

      1Vgl. Portney, K. E.: Sustainability. Cambridge MA 2015, 1–5 u. Hulme, M.: Why We Disagree About Climate Change: Understanding Controversy, Inaction and Opportunity. Cambridge 2009, 248 f., 259.

      2Grunwald, A.: Wider die Privatisierung der Nachhaltigkeit. Warum ökologisch korrekter Konsum die Umwelt nicht retten kann, in: GAIA, 19/3, 2010, 178–182, hier 178.

       Tobias Schlechtriemen

      Fast jeder Lebensbereich und jede menschliche Tätigkeit lassen sich gegenwärtig mit dem Zusatz ‚nachhaltig‘ in seiner adjektivischen oder adverbialen Form versehen. Allerdings unterscheidet sich das, was die einzelnen Menschen unter ‚Nachhaltigkeit‘ verstehen, mitunter deutlich (vgl. Grunwald/Kopfmüller 2012; Luks 2002; Brand/Jochum 2000). Der vage und mehrdeutige Gebrauch des Begriffs stellt für viele, wie etwa umweltpolitische Aktivistinnen und Aktivisten, ein Problem dar. Sie würden gerne genau klären, was Nachhaltigkeit im engeren Sinne bedeutet und dieses Verständnis von seinem – aus ihrer Sicht – falschen und irreführenden Gebrauch abgrenzen. Der Ideen- und Wissensgeschichte hingegen geht es nicht um eine eigene Definition dessen, was man unter Nachhaltigkeit verstehen könnte oder sollte. Vielmehr ist es ihr Ziel, zu rekonstruieren, was jeweils zu einer bestimmten Zeit darunter verstanden wurde. Die Ideen- und Wissensgeschichte analysiert somit die verschiedenen Verständnisse von Nachhaltigkeit, ihre medialen Darstellungsformen und historisch-sozialen Kontexte.1

      Gegenüber der traditionellen philosophischen Auffassung, dass es sich bei Ideen um zeitlose und abstrakte Begriffe handelt, hat die neuere Ideen- und Wissensgeschichte zwei wesentliche Änderungen eingeführt (vgl. Müller/Schmieder 2016): Erstens geht sie davon aus, dass Wissen sich wandelt. Ideen haben eine Geschichte, die man wissenschaftlich untersuchen und rekonstruieren kann. Wann ist eine Idee aufgekommen und in welchem Kontext? Wie wurde sie aufgegriffen, weitergegeben und wie hat sich ihre Bedeutung geändert? Welche unterschiedlichen Verständnisse eines Begriffs kursieren innerhalb einer Gesellschaft und darüber hinaus?2 Zweitens folgt die Wissensgeschichte der Annahme des linguistic turn (Richard Rorty), dass es für einen Gedanken entscheidend ist, wie er sprachlich verfasst wird. Demzufolge gibt es keine abstrakten Ideen, die erst im Nachhinein sprachlich dargestellt werden. Was Rorty (1967) in Bezug auf Sprache formuliert, gilt auch für alle anderen Medien: Das Verständnis bildet sich direkt in einem oder mehreren Medien aus und wird entsprechend durch sie geprägt. Es stellt sich somit die Frage, wie Wissen durch verschiedene mediale Darstellungen geformt wird. Welche spezifischen Eigenschaften und Affordanzen (vgl. Zillien 2008) bringt ein bestimmtes Medium, wie Sprache oder etwa grafische Darstellungen, mit sich? Ludwig Jäger bezeichnet diese medienspezifischen Prägungen als „Transkriptionen“ (2001). Wissensgeschichtliche Untersuchungen beschäftigen sich folglich mit Wissensformationen sowohl im Hinblick auf ihre Geschichtlichkeit als auch ihre Medialität.

      Bezüglich der eingangs geschilderten Beobachtung sind aus wissensgeschichtlicher Perspektive zudem zwei Aspekte interessant: zum einen, dass das Konzept der Nachhaltigkeit für so viele Menschen in völlig verschiedenen Bereichen eine solche herausragende Bedeutung und Relevanz besitzt, und zum anderen, dass sich nahezu alle in positiver Weise darauf beziehen. Es zeichnet sich also sowohl durch eine enorme gesellschaftliche Reichweite als auch durch eine hohe Wertschätzung aus. Die Nachhaltigkeitsdebatte bietet den