Группа авторов

Unter Schweizer Schutz


Скачать книгу

informieren, dass er oder sie noch am Leben war. Hier konnte jeder, der es brauchte, vorbeikommen und Ersatz für eine fehlende Meldebescheinigung oder die Geburtsurkunde seiner Grossmutter in Auftrag geben – wenn diese plötzlich benötigt wurden. Freunde, die aus Arbeitslagern geflohen waren, konnten uns hier finden.

      Immer häufiger tauchten Detektive vor dem Glashaus auf. Wir wurden verfolgt, nicht zu auffällig, aber eindeutig. Um sicherzugehen, nahm ich im Gebäude und wenn ich ans Telefon gerufen wurde, den Namen Dr. Rafai anstelle von Rafi an. Viel gefährlicher als die Detektive war jedoch ein Haufen jüdischer Spitzel, angeführt von einem polnischen Juden namens Steiner, der auch Leute erpresste. Zu Beginn hielt er sich im Glashaus auf, später, als er keinen Zutritt mehr hatte, ging er stundenlang vor dem Gebäude auf und ab. Überraschenderweise waren wir Mitglieder vom Haschomer Hazair die Einzigen, die der Bande nicht zum Opfer fielen, vielleicht respektierten sie unsere Stärke. Eine ständige derartige Bedrohung war jedoch nicht besonders angenehm. Um die Situation ein wenig zu entschärfen, gründeten wir – wenn auch mit grosser Verspätung – innerhalb der Auswanderungsabteilung eine Abteilung für die Auswanderung Jugendlicher. So ist es uns wenigstens gelungen, einen Raum für die Organisation Hechaluz zu bekommen. Dies gab unserer Arbeit eine Art Rahmen, den wir selbst mit der Zeit für notwendig erachteten, vor allem im Hinblick auf die bereits erwähnten Detektive und Informanten. Wir versprachen [Mosche] Krausz, dass wir uns nicht mit gefälschten Papieren und der Verteilung von Geld abgeben würden, ein Versprechen, das wir keine Sekunde lang einzuhalten gedachten.

      Tag für Tag tauchten Tausende arme Seelen im Glashaus auf. Plötzlich sah sich das Konsulat mit unvorhergesehenen strategischen Problemen konfrontiert. Hinzu kam die moralische Frage: Die Behörden hatten den Schweizern eine Quote von 7800 Schutzbriefen zugesagt, eine Zahl, die angesichts einer solchen Katastrophe nicht mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein war. Wir, die Jugendbewegungen, forderten die Ausstellung von Schutzbriefen in unbegrenzter Zahl. Die sowjetische Armee stand vor Szolnok, und wir befanden uns in einem Wettlauf gegen die Zeit. Unsere Forderung wurde nicht akzeptiert und, so gut es ging, sabotiert. Dessen ungeachtet begannen wir mit der Herstellung von gefälschten Schutzbriefen. Das Konsulat hatte längst das gesamte Kontingent ausgeschöpft, aber als es 10 000 zusätzliche Formulare bestellte, bestellten wir [mit Carl Lutz’ Einwilligung] schnell dieselbe Anzahl.Später bestellten wir elf weitere Sätze dieser Dokumente, insgesamt 120 000 «Briefe», die die zionistische Jugendbewegung an Juden in ganz Budapest verteilte.

      Unter einem Schild, das den Namen des Internationalen Roten Kreuzes trug, eröffneten wir ein Büro, von dem aus wir die Schutzbriefe des Schweizer Konsulats ausstellten. Natürlich hatten wir auch unsere eigenen Stempel. Noch pikanter war, dass das Büro in der Perczel-Mór-Gasse sich gegenüber der eigentlichen Schweizer Gesandtschaft befand. Die ganze List wurde vor der Nase des echten Schweizer Konsuls abgewickelt.45

      In dieser Phase spielte das Komitee des Internationalen Roten Kreuzes eine entscheidende Rolle. Wir hatten schon vor dem 15. Oktober mit der Planung mehrerer Jugendheime begonnen, die später als Grundlage für die Auswanderung dieser jungen Menschen nach Palästina (Erez Israel) dienen sollten. Nun war es unsere Aufgabe, eine grosse Zahl improvisierter Jugendheime zu errichten, um die Kinder zumindest vor der Deportation zu retten. Innerhalb kurzer Zeit wurden in diesen Häusern mehr als 5000 Kinder untergebracht [von Mitgliedern der Haschomer Hazair-Bewegung als «Beit Jeladim» bezeichnet], zusammen mit 1000 Mitarbeitern, was ein riesiges Operationssystem erforderte. Das Internationale Rote Kreuz war inzwischen zu einer wichtigen Institution geworden, und die Anfänge waren vielversprechend. Als das Führungsteam in die Baross-Gasse 52 verlegt wurde, zog auch ich zum Internationalen Roten Kreuz und richtete dort die «Politische Abteilung» ein. Die Abteilung wurde damit betraut, Verbindungen zu den Untergrundbewegungen herzustellen und Informationen politischer Ausrichtung zu sammeln, die an die entsprechenden jüdischen Organisationen weitergegeben werden konnten. Nach aussen wurde das Ganze als Forschungsabteilung des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes mit Sitz in Genf dargestellt, die Listen mit vermissten Verwandten in Ungarn erstellte.

      Mitte November wurde allen Inhabern von Briefen befohlen, in die «geschützten Häuser» in und um die Pozsonyi-Strasse umzusiedeln. Der Befehl war nicht gerade willkommen, da die grosse List mit unseren Schutzbriefen nun aufzufliegen drohte. Das Chaos war unbeschreiblich, denn die Zahl der Personen, die tatsächlich im Besitz der Dokumente waren, war viel grösser als die Zahl der offiziell ausgestellten Briefe. Bevor die Menschen anfingen, in die geschützten Häuser umzuziehen, wurden wir Zeugen einiger herzzerreissender Szenen. Dieses neue Problem führte zu einem weiteren Ansturm auf unser Konsulatsgebäude [das Glashaus], das mit über 2000 Menschen bereits aus allen Nähten platzte. Wir brauchten dringend ein weiteres Gebäude. So zogen mehrere Angestellte in die Wekerle-Sándor-Gasse 17. Wir kämpften natürlich und forderten, dass auch einige unserer eigenen Jugendlichen umsiedeln konnten. Die Beamten nahmen ihre Familien mit, und so lebten im neuen Büro bald etwa 120 Menschen. Während in der Vadász-Gasse weiterhin die «Baumfäller und Wasserschöpfer» ihrer Arbeit nachgingen, setzte sich die «diplomatische» Tätigkeit am neuen Standort fort, insbesondere die Verbindung zu den Behörden und die Erstellung von Listen.

      Wir richteten in der Wekerle-Sándor-Gasse auch ein Vorratslager ein. Von hier aus wurden anschliessend die geschützten Häuser mit Lebensmitteln versorgt. Die Existenz des Vorratslagers war für uns auch ein Vorwand, noch ein paar Leute mehr im Gebäude unterzubringen. Das war dringend notwendig, da die Situation in der Vadász-Gasse zusehends gefährlicher wurde, denn es beschlossen immer mehr unserer Freunde, ins Glashaus zu ziehen. Eine gewisse Müdigkeit hatte zweifellos auch dazu beigetragen, die Menschen waren erschöpft vom ständigen Versteckspiel. Jetzt, da sie die Möglichkeit hatten, sich an einem extraterritorialen Ort zu verstecken, entschieden sich viele von ihnen für das Glashaus, was den einfacheren Weg bedeutete. Wir waren von dieser Lösung nicht übermässig begeistert und haben sie unseren Freunden nicht immer empfohlen. Zwar hatte sich die Vadász-Gasse bisher bewährt, aber es gab viele Zweifel, ob das Gebäude bis zum Ende durchhalten würde. Es war den Pfeilkreuzlern ein Stachel im Fleisch. Sie wussten sehr wohl, dass die Vadász-Gasse nichts anderes als ein riesiger Bunker war. Trotzdem hatte es grosse Vorteile, unsere Leute in der Vadász-Gasse zu konzentrieren. Zum ersten Mal seit Monaten waren alle unsere Freunde zusammen und konnten ihre Probleme frei diskutieren. Wir nutzten unsere Situation, indem wir, so gut es ging, eine Haschomer Hazair-Gemeinschaft gründeten. Wir führten Seminare, Diskussionen und sogar Unterhaltungsabende durch.

      Am 24. Dezember 1944 verschärfte sich die Belagerung um Budapest. Wir spürten eine gewisse Erleichterung; mit diesem Tag war die Gefahr der Deportation gebannt. Wir mussten zwar mit weiteren Ausschreitungen rechnen, schlimmer noch als zuvor, aber die grösste Angst war immer die Gefahr der Deportation gewesen. Mitten in der Stadt – vor den Augen der Zivilbevölkerung – wagten die Faschisten keine gross angelegten Morde. So waren wir uns auch der Gefahren im Zusammenhang mit der Zerstörung des Ghettos nicht bewusst.46

      Eines Tages [am 31. Dezember 1944] tauchte ein aufgeregter Polizist in der Wekerle-Sándor-Gasse auf und erzählte uns, eine bewaffnete Pfeilkreuzlertruppe habe das Konsulat in der Vadász-Gasse umzingelt. Mehrere Granaten wurden in das Gebäude geworfen und die Bewohner auf die Strasse getrieben. Wir hielten alle für eine Sekunde den Atem an; da war er, der Moment, den wir alle befürchtet hatten. Aber innerhalb einer Minute hatten wir zum Hörer gegriffen und alle zuständigen Behörden über den Vorfall informiert: das Auswärtige Amt, die Polizei, das Militärhauptquartier der Hauptstadt und alle möglichen Stellen. Glücklicherweise waren diese Interventionen erfolgreich, und fast augenblicklich trafen Polizei und städtische Beamte in der Vadász-Gasse ein. Bis heute weiss ich nicht mit Sicherheit, wem wir es zu verdanken haben, dass die Massendeportation von etwa 1500 Menschen, die bereits die Strasse füllten, verhindert wurde, aber eines war in diesem Moment sicher: Die grosse List des Konsulats hat wunderbar funktioniert. Die Behörden respektierten den exterritorialen Status des Gebäudes, und unser Volk war gerettet. Die Vadász-Gasse hatte einen grossen Sieg zu verzeichnen – und fünf Tote.

      Richard Friedl emigrierte 1947 mit seiner Frau Katalin (1921–2003) und seinem kleinen Sohn Alfred ins damalige Palästina. Sie liessen sich im Kibbuz Ha’ogen nieder, wo viele der Haschomer Hazair-Mitglieder aus Ungarn und der Tschechoslowakei lebten. 1951 wurde ihr zweiter Sohn, Alex, geboren. Richard Friedl, der seinen