beendet. Sie konnten sich frei bewegen und die Stadt blindlings ausrauben.
Mein Cousin, Dezsö Molnar, und einige seiner Leute wurden von der Sowjetarmee erbarmungslos verschleppt. Ich weiss nicht, wie und wohin sie verschwanden, niemand von der Familie weiss es. Aber sie holten Dezsö am 16. oder 17. Januar aus dem Glashaus. Ich stelle mir vor, dass er einige Tage später während des Marsches im Schnee gestorben ist. Und von den anderen beiden, die geholt wurden, wurde einer erschossen und der andere ist in der Nähe erfroren, sagte mir die Familie. Es wurden vermutlich noch andere verhaftet, aber ich weiss nicht, wie sie verschwunden sind. Für die Russen bedeuteten die Schutzhäuser gar nichts. Das Schweizer Kreuz bedeutete nichts. Lutz bedeutete nichts. Juden zu retten bedeutete nichts. Zur selben Zeit wurde auch Wallenberg verschleppt, und sein Schicksal gibt noch immer Rätsel auf.
Nach 1945
Im letzten Teil des Interviews erinnert sich Paul Fabry an sein Leben in der Nachkriegszeit, an jene, die im Untergrund an seiner Seite gearbeitet haben, und an Carl Lutz.
Wie haben wir all das durchgestanden? Wie haben wir es geschafft? Wie haben wir überlebt? Und warum wurde dieser gute Mann, Arthur Weiss, verhaftet? Und warum wurden jene hundert Menschen nicht verhaftet? Und warum endeten diese tausend Menschen in Bergen-Belsen, ohne zu wissen, wohin es ging? Warum wussten sie nicht, dass der andere Zug nach Auschwitz fuhr? Sie hatten keine Angst, sie glaubten, dass es mit dieser Welt bald zu Ende sei – vielleicht werde ich einfach gehen, irgendwo wird eine Tür offen sein. Aber die Tür war nicht offen, sie führte geradewegs in die Gaskammer; es war zu spät. Da war weder Logik noch Gerechtigkeit oder irgendeine göttliche Antwort oder eine prophetische Stimme, die einen rettete. Meistens war es Glück, oder ein mutiger Akt, oder ein dummes Risiko im richtigen Moment. Wir wurden uns der Gefahr erst richtig bewusst, als sie vorbei war.
Seit 1949 bin ich in Amerika mehrfach angesprochen worden, um über den Holocaust, das Glashaus und die anderen Schutzhäuser zu erzählen. Einmal wurde ich gebeten, am Holocaust-Gedenktag in der grössten Synagoge von New Orleans über den Terror dieser Jahre zu sprechen. Es war eine grosse Menschenmenge da, Leute aus dem ganzen Süden [der USA]. Ich erklärte, wie die Schutzhäuser funktionierten, wie Carl Lutz Tausende und Abertausende von Dokumenten anfertigen liess, wie Tausende und Abertausende von Menschen mit der Identität und Staatsbürgerschaft von Ländern umherliefen, in denen sie nie gewesen sind – und wie das Glashaus um die 2000 oder 3000 Menschen rettete. Am Ende meiner Rede kam eine elegant gekleidete Dame in den Sechzigern oder frühen Siebzigern zu mir und sagte: «Herr Fabry, wissen Sie was, ich war als kleines Mädchen im Glashaus im Budapest. So habe ich mit meiner Familie überlebt. Und ich wusste nie, wem ich dafür danken konnte. Jetzt weiss ich es. Und jetzt weiss ich auch, dass ich vor diesen Offizieren in den eigenartigen Uniformen, die an der Tür standen, keine Angst zu haben brauchte. Ich dachte, sie seien dort, um uns einzusperren, und dass es für uns dort zu Ende sei, weil sie uns nicht rausliessen.» Es war Dr. Judy Roheim, eine hochangesehene Psychiaterin aus Baton Rouge, Louisiana. Und es passierte auch mehrmals bei meinen Besuchen in Budapest. Einmal sprach ich bei einem meiner Besuche in einer Radiosendung. Danach rief jemand im Hotel an und sagte: «Ich wusste nicht, dass Sie noch am Leben sind. Ich war während des Kriegs in der Ukraine Ihr Fahrer.» Ich hatte ihn angestellt, als er in einem jüdischen Arbeitslager war, ich steckte ihn in eine Uniform ohne Rangabzeichen und fuhr mit ihm bis nach Berlin. Kornai András ist heute ein erfolgreicher Geschäftsmann in Kanada. Seine Schwester in Ungarn dankte mir, dass ich ihm das Leben gerettet habe – aber eigentlich wurde er zu einem richtigen Freund und half uns beiden, an der Front zu überleben.
Von denjenigen, die zur «Operation Glashaus» gehörten, starb einer in Lima, Peru. Ein anderer starb in Australien. Ein dritter war in Paris gelandet. Ein Einziger ist in Budapest geblieben, derjenige, der das Rundfunkgerät brachte, das über das Erez-Israel-Büro von Carl Lutz kam. Er war der ruhigste, der verschlossenste von allen; ein wahrer Aristokrat mit einem starken Standesbewusstsein, und er lebte in ständiger Angst. Er änderte zweimal seinen aristokratischen Namen, weil er Angst hatte, sie könnten entdecken, dass sein Grossvater Graf war und seine Grossmutter Baronin und dass sie ein paar Generationen zuvor in der Regierung waren. Sogar seine Kinder trugen andere Namen. Er war der Einzige, der die ganze Zeit pessimistisch war. Er ist dort gestorben, arm und ohne Unterstützung. Ja, da waren auch jene, die das Ende des Kriegs nicht erlebten und sich nicht sagen konnten: «Zum Teufel, das ist vorbei, jetzt muss ich das vergessen und weiterleben.» Es gab welche, die das nicht konnten.
Ich habe einen Doktortitel von der Budapester Rechtsfakultät, habe aber nie als Anwalt praktiziert, ich wurde Diplomat. Nach dem Krieg stand ich in Ungarn im diplomatischen Dienst. Irgendwann war ich der ungarische Geschäftsträger in Ankara, Türkei. 1947, als die Kommunisten die Macht übernahmen, trat ich von meiner Stelle zurück. Schliesslich emigrierte ich in die USA, wo ich mich als liberaler Europäer in amerikanischem Umfeld betrachte. Die jüngeren Mitglieder meiner Familie sind tief im konservativen Leben verwurzelt, sie leben von Texas über New Mexico bis nach Kalifornien verstreut. Sie sind in einer anderen Welt gross geworden, einer sicheren Welt des Wohlstands. Für sie bin ich ein archaisches Überbleibsel der Viktorianischen Ära, zu der Budapest bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs gehörte. Die Geschichte von Vizekonsul Lutz in Budapest gehört für sie in die Geschichtsbücher.
Der gute Bürokrat
Ich würde sagen, Carl Lutz ist ein Vorbild menschlicher Güte aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Er war ein grundgütiger Mann. Es gibt grosse politische Helden, es gibt grosse Staatsmänner; doch eine solche humanistische Persönlichkeit, die so vielen Menschen half, bleibt so einzigartig, dass ich nicht glaube, dass es dazu irgendwo auf der Welt ein Pendant gibt.
Es war wirklich ein grosses Glück für uns, in Budapest einen Mann wie Carl Lutz zu haben. Er war im Kern ein guter Bürokrat. Sein Leben entsprach dem Schweizer System, zuverlässig, pünktlich. Bürokratische Regeln bestimmten sein Leben. Und als plötzlich die tragischen Zeiten ausbrachen, tat er genau das Richtige.
Carl Lutz wurde später vorgeworfen, es sei falsch gewesen, was er getan hatte. Er wurde beschuldigt, gut gewesen zu sein, dem Ruf seines Gewissens gefolgt zu sein, im Geist eines freien Schweizer Denkers, die Freiheit von Tausenden Menschen gerettet zu haben. Es muss eine sehr schmerzvolle Erfahrung für ihn gewesen sein.
Ausschnitte aus der gekürzten und leicht überarbeiteten Interview-Abschrift zum Dokumentarfilm «Carl Lutz – Der vergessene Held» (2014) von Daniel von Aarburg. Das Interview wurde am 19. Juni 2012 von Daniel von Aarburg in New Orleans geführt.
Aus dem Englischen von Lis Künzli
Mordechai Fleischer
Mordechai Fleischer, Giv’atajim, Israel 2017
Giv’atajim, Israel
Geboren als Paul György Fleischer am 29. Juni 1926 in Bratislava (Tschechoslowakei; heute Slowakei), gestorben am 7. April 2019 in Petach Tikwa (Israel).
«Am 19. März 1944 gingen wir alle in den Untergrund»
Meine Kindheit habe ich in Bratislava verbracht. Wir waren eine assimilierte Familie. Der Name meines Vaters war Karl – Chaim auf Hebräisch. Meine Mutter hiess Regine, ihr hebräischer Name war Rivka. Mein Vater arbeitete in einer Druckerei, und meine Mutter war Hausfrau. Um 1942 herum, als es schon Einschränkungen gab, begann meine Mutter, für verschiedene Leute Handarbeiten zu machen, um unser Einkommen zu vergrössern und etwas zum Familienunterhalt beizusteuern. Ich hatte eine Schwester, Elisabeth, die drei Jahre älter war als ich.
Mein Vater war Sozialdemokrat und in der Partei aktiv. Er war auch Vorsitzender der Druckarbeitergilde. Wir wohnten in einem Gebäude der Druckarbeiter, das «Haus Gutenberg» hiess, nach Johannes Gutenberg, der die Druckpresse erfunden hatte. Unsere Bewohnerschaft war gemischt; ein grosser Teil waren Juden, aber ca. 50 % waren Gojim. Unsere Beziehungen zu den meisten Hausbewohnern waren sehr herzlich,