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Unter Schweizer Schutz


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Ja.

      Lawrence: Du hast mir einmal erzählt, dass du leere Schutzbriefe hattest und der Untergrund sie ablichtete und später die Namen einsetzte.

      Jean: Wir hatten Kameras, um sie abzulichten.

      Lawrence: Hast du Carl Lutz im Glashaus mal angetroffen?

      Jean: Ich habe ihn ausserhalb des Glashauses gesehen. Da war ein kleiner Park nicht allzu weit davon, wir trafen uns meist dort, und wir sahen ihn vier- oder fünfmal.

      Lawrence: Wer sind «wir»?

      Jean: [Herschi] Reich, [Giorgio] Perlasca und manchmal [Angel] Sanz Briz.

      Lawrence: Kannst du dich an irgendetwas erinnern, das Carl Lutz sagte, hast du etwas mitbekommen? Hat er jemals über diese Dinge gesprochen?

      Jean: Ich bin sicher, früher konnte ich das, aber jetzt, wo du mich fragst, 80 Jahre später, erinnere ich mich nicht mehr.

      Lawrence: Aber du wusstest, wer er war.

      Jean: Ja, natürlich.

      Lawrence: Und du kanntest seine Position?

      Jean: Gewiss. Ich bin nicht sicher, ob er wusste, wer ich war. In Wirklichkeit dachte er wohl, ich sei ein deutscher Soldat, der für den Feind arbeitete.

      Lawrence: Wie oft gingst du ins Glashaus?

      Jean: Wohl einmal pro Tag. Das Glashaus selbst war ein Glaslager, aber damit wir die Leute unterbringen konnten, mussten wir diese grossen Glasscheiben wegräumen; es brauchte fünf oder sechs Leute, um eine von ihnen wegzuschaffen, es war ein ständiges Hin und Her.

      Lawrence: Hast du das Glashaus in deutscher Uniform betreten?

      Jean: Ja.

      Lawrence: Wenn du die Juden von ihrer geplanten Deportation wegholtest, haben sie da mit dir gesprochen, wussten sie, wer du warst?

      Jean: Sie hatten grosse Angst, da sie nicht wussten, wohin wir sie bringen würden, und wir hatten Angst, es ihnen zu sagen, denn wenn uns jemand geschnappt hätte, hätten wir alle Ärger bekommen. Darum sagten wir zu ihnen nur: «Wir bringen Sie an einen sicheren Ort; bitte bleiben Sie ruhig.» Einmal hat mich einer erkannt, und wir sagten: «Machen Sie sich keine Sorgen.» Sie hatten Todesängste ausgestanden. Sie wussten, dass sie umgebracht werden sollten, kannst du dir das vorstellen? Und dann holen wir eine Gruppe von 70 bis 90, kollektiv zum Tod verurteilte Menschen, und sie schreien; weinende Kinder, schreiende Frauen.

      Lawrence: Was hast du dabei gedacht? Hattest du jeden Tag Angst? Dachtest du, dass du auffliegen würdest?

      Jean: Ja, ich hatte wirklich Angst, dass mich jemand erkannte, und einmal ist genau das passiert. Ich erinnere mich, wie ich mit Herschi und zwei anderen durch Budapest lief, als plötzlich eine Bande Deutscher auftauchte. Einer von ihnen war ein ehemaliger Klassenkamerad von mir, und ich bemerkte ihn, fing für eine Sekunde seinen überraschten Blick auf. Ich wollte mich nicht umdrehen. Ich bat meinen Freund Herschi, er soll nachsehen, ob der andere schaut. Er sagte: «Mann, und wie der schaut, er geht sogar rückwärts.» Da bogen wir nach rechts ab, gelangten irgendwie in ein Haus und von dort aufs Dach eines anderen Hauses. Ich weiss nicht, was geschah, ob sie uns verfolgt haben oder nicht; ich habe keine Ahnung. Wir verschwanden im Sonnenuntergang.

      Lawrence: Du hast mir auch von den Gewaltmärschen erzählt. Du bist mit dem Motorrad hingefahren.

      Jean: Ich hatte ein hervorragendes deutsches Motorrad. Ich brauchte das für mein Prestige. Ich kam also mit dem Motorrad angefahren, befahl den Deutschen, dies und das zu tun, und sie stellten keine Fragen, taten es einfach.

      Lawrence: Es gab auch ein paar LKWs, zwei, drei LKWs, die dir folgten.

      Jean: Jemand aus dem Untergrund hatte ein paar LKWs gekauft. Wir verkleideten die Fahrer als ungarische oder deutsche Soldaten, und sie fuhren hinter uns her. Gemeinsam folgten wir den Deutschen, die die Juden aus Budapest wegführten [Richtung österreichische Grenze]. Wir hielten sie auf und zeigten ihnen Papiere, auf denen stand, die Juden wären Kriminelle oder irgendetwas in der Art – es war jedes Mal eine andere Geschichte. Wir sagten den Deutschen, die Juden müssten zurückgebracht werden. In der Regel widersetzte sich niemand. Die Deutschen waren vor allem froh, dass wir sie ihnen abnahmen, denn sie hätten einen mehrtägigen Marsch vor sich gehabt. Es gab keine Fragen. Wenn sie sich widersetzten, eliminierten wir sie.

      Lawrence: Wer wusste Bescheid, was im Glashaus vor sich ging? Wusste es der Untergrund? Ich meine, alle Untergrundmitglieder oder nur ein paar von ihnen? Wer wusste es?

      Jean: Diese Frage kann ich wirklich nicht beantworten; je weniger es wussten, umso besser war es.

      Lawrence: Und weisst du, was geschah, wenn die Leute einmal im Glashaus waren? Haben sie das Glashaus wieder verlassen? Wie lange sind sie dortgeblieben?

      Jean: Nun, weisst du, die Periode hat, sagen wir, ab September, Oktober, November, Dezember bis zum 15. Januar gedauert. So ungefähr dreieinhalb Monate. Und die Leute, sagen wir, kamen nicht alle zur gleichen Zeit an; und dann waren es, bevor du es realisiert hast, plötzlich 3000. Also entfernten sie die Glasscheiben und stellten sie in ein anderes Gebäude.

      Lawrence: Hast du auch Leute gesehen, die das Glashaus verlassen haben?

      Jean: Verlassen? Die Leute kamen und gingen, aber nur Leute, die damit in Verbindung standen.

      Lawrence: Erzähl uns von Giorgio Perlasca. Er hat dich kontaktiert und gebeten, ihn am Josefstädter Bahnhof zu treffen.

      Jean: Ich übersetzte für Perlasca, weil er kein Deutsch konnte. Perlasca gab sich als der spanische Botschafter aus. Als wir zum Bahnhof kamen, waren da ältere Frauen, ältere Männer und Kinder. Es war Winter, es war kalt, sie waren schlecht ausgerüstet, hatten kaputte Schuhe, es war ein entsetzlicher Anblick. Eichmann und Perlasca stritten sich. Die Deutschen waren dabei, mehrere hundert Juden zu deportieren, und Perlasca sagte, dies seien spanische Staatsbürger. Nach einer langen Weile gab Eichmann auf und sagte: «Na gut, nimm sie.» Und wir hatten zwei LKWs und brachten sie zurück, und sie überlebten. Übrigens habe ich Eichmann die Hand geschüttelt, kannst du dir das vorstellen? Er kniff mich und sagte: «Du bist ein richtiger deutscher Soldat», weil er mit mir Deutsch gesprochen und gehört hatte, dass ich einen echten deutschen Akzent hatte.

      Die erweiterte Familie Grünstein, Veľký Sevľuš, Tschechoslowakei, heutige Ukraine 1928: Der vierjährige Egon Grünstein ist in der ersten Reihe, 3.v.l., Sidi 4.v.l.

      Lawrence: Magst du erzählen, was passierte, nachdem Eichmann Budapest verlassen hat? Der Untergrund sagte zu dir, Eichmanns Stellvertreter fahre über die Széchenyi-Kettenbrücke ins deutsche Stabsquartier. Sie schickten dich und drei andere an eine Kreuzung in der Nähe der Brücke. Dort habt ihr euch in verschiedenen Ecken versteckt, und auf ein Zeichen kamt ihr hervor.

      Jean: Halt!

      Lawrence: Das Zeichen war «Halt»; die anderen sprangen aus ihren Verstecken hervor, überfielen die Deutschen und erschossen sie. Und du hast mir gesagt, sie steuerten den Wagen zu einem Gebäude, einer Art Lagerhaus, rissen ihnen die Offiziersuniform ab und ...

      Jean: ... und stiessen das Auto in die Donau; da liegt es wahrscheinlich noch heute.

      Lawrence: Und was hast du davon zurückbehalten?

      Jean: Ein Gewehr, ich habe es ihm abgenommen und habe es immer noch.

      Lawrence: Lass uns zum Ende des Kriegs übergehen, als die Russen kamen. Du warst als deutscher Soldat gekleidet.

      Jean: Na ja, ich hatte die Uniform abgelegt, als die Russen anrückten.

      Lawrence: Und was geschah dann?

      Jean: Was geschah, war ganz einfach. Um fünf Uhr morgens klopfte es an die Tür des Glashauses. Da war ein Tor. Sie klopften mit einem Gewehr, und ich war derjenige, der rausging, um nachzusehen. Da standen ein paar russische Soldaten. Einer von ihnen schaute mich an und fragte, ob ich Jude sei. Ich sagte Ja. «Ich bin auch Jude», sagte er, und fragte: