der anderen Strassenseite standen ungarische Arbeiter, die auf eine Mitfahrgelegenheit warteten. Öffentlichen Verkehr gab es nicht mehr. Ich bin sicher, der ungarische Soldat wusste, dass ich Jude bin und fliehe; er beschloss, mich mein Glück versuchen zu lassen. Ich ging auf die andere Strassenseite und stellte mich zwischen die Gojim, die ungarischen Arbeiter. Ein deutscher Militärlaster kam vorbei, und alle sprangen auf und ich mit ihnen – in den Rachen des Löwen. Da ich Angst hatte, dass ich wegen meines jüdischen Aussehens auffliegen würde, schaute ich die ganze Zeit gerade vor mich hin, zum Ende des Lastwagens.
Die Fahrt endete an der Margaretenbrücke in Budapest. Ich ging auf die Brücke und sah, dass unten eine kleine Fähre Leute ans andere Ufer beförderte. Auf der Brücke bemerkte ich plötzlich, dass Leute [am Ende der Brücke in der Richtung, in die ich ging] stehen blieben und sich zusammendrängten. Ich war sicher, dass Papiere kontrolliert wurden. Ich hatte keine. Und wenn jemand verdächtig schien, zogen sie ihm ohnehin die Hosen runter, um nachzuschauen, ob er Jude war oder nicht. Ich wechselte auf die andere Seite, drehte um in Richtung Buda und ging dort zur Fähre hinunter.
Die Soldaten, die die Fähre bewachten, sagten zu mir, dass nur Verletzte berechtigt seien einzusteigen. Ich entfernte mich, fand eine Glasscherbe und benutzte sie, um mir die Hand aufzuschneiden. Dann umwickelte ich die blutende Hand mit dem Hemd und kehrte als «Verletzter» zurück, mit deutlichen Blutflecken. So gelangte ich auf die andere Seite.
Ich wusste durch meine Kameraden in der ungarischen Bewegung, dass sich jemand von unserer Führung im Hauptquartier des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz befand, in der Mérleg-Gasse. Das war Mimisch Herbst [Jizchak Herbst]. Ebenso wusste ich, dass es die einzige Adresse war, die ich hatte; ich musste dort hinkommen. Während ich die Strasse entlangrannte, gab es einen Luftangriff, und ich ging in einen Schutzraum hinunter. Dort lachten Leute über Juden, die mit erhobenen Händen auf der Strasse vorbeigeführt wurden. Ich erkannte, dass es zu gefährlich war, im Luftschutzkeller zu bleiben, und als der nächste Alarm kam, ging ich hinaus und suchte weiter nach der Mérleg-Gasse. Ich wusste nicht, wo sie war, nur, dass sie in der Umgebung war und im rechten Winkel zur Donau verlief. Also ging ich die Donau entlang, bis ich die Strasse ausfindig gemacht hatte.
Ich kam zu dem Haus. Ich sah Hunderte Menschen mit kleinen Kindern vor der Eingangstür stehen. Es waren Eltern, die ihre Kinder in die Obhut des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz übergaben, und von dort wurden die Kinder in jüdische Kinderheime gebracht. Als ich Männer in Uniformen der ungarischen Faschisten [Pfeilkreuzler] am Eingang stehen sah, entfernte ich mich.
Ich hatte Hunger. Es war etliche Tage her, dass ich etwas gegessen hatte. Ich ging in ein bombardiertes Haus hinein. Es war verboten, das zu machen; es war auch gefährlich, denn man konnte dafür hingerichtet werden. Aber für Juden machte das keinen Unterschied, man brachte sie aus irgendeinem Grund um. Ich fand nichts in dem zerstörten Haus, und ich kehrte zum Gebäude des Roten Kreuzes zurück. Die Faschisten hatten den Ort inzwischen verlassen, und ich kämpfte mit der Menge, um in das Gebäude hineinzukommen. Alle wollten mit ihren Kindern hinein. Sie sagten zu mir: «Du bist kein Kind. Warum drängst du dich durch?» Ich wusste, meine einzige Chance war dann, wenn sie zwei, drei Leute mit ihren Kindern hineinliessen, und da drängte ich mich hinein. Sie wollten mich hinauswerfen, sie zogen mich regelrecht aus, und ich fing an zu schreien: «Mimisch! Mimisch!», in der Hoffnung, er würde kommen und mich retten. Ein anderer aus der Leitung, Mosche Alpan – er wurde «Pil» [«Elefant» auf Hebräisch] genannt – kam mir zu Hilfe und befreite mich aus der Menge.
Später an diesem Abend ging Klári Alper [eines der weiblichen Mitglieder] mit mir hinaus. Wir gaben vor, ein Liebespaar zu sein, und so erreichte ich das Glashaus. Das war Ende Oktober, Anfang November 1944. Ich brauchte keine Papiere, um in das Glashaus hineinzukommen. Alle kannten Klári Alper, so dass ich keine Probleme hatte, als ich in der Nacht dort ankam.
Mordechai Fleischer, Bratislava, Tschechoslowakei, heutige Slowakei ca. 1942
Im Glashaus war ich in einer Gruppe der Jugendbewegung aktiv, aber wir machten nicht viel. Einige Male begleitete ich Simcha Hunwald als Sekretär. Wir beschäftigten uns selbst hauptsächlich damit, Hebräisch zu lernen und Vorbereitungen zu treffen. Wir verbrachten viel Zeit damit, unsere Zukunft nach der Befreiung zu planen. Wir wussten, am Ende würde Budapest besiegt werden, und wir überlegten uns Wege, wie wir der russischen Armee helfen könnten. Wir wohnten im hinteren Gebäude, in einem der Keller. Es war grauenhaft eng dort, wir schliefen auf Etagenbetten. Wir bereiteten uns vor, indem wir mit einer nutzlosen Pistole spielten, die wir vielleicht [so dachten wir] bei zukünftigen Aktionen benutzen könnten – aber das war hauptsächlich symbolisch. Wir machten kaum etwas im Glashaus. Die Leute versteckten sich einfach, quetschten sich zusammen, und es war an allem Not, sowohl an Essen wie an Möglichkeiten. Wir waren sehr elend dran. Ich zog monatelang immer das gleiche Hemd und die gleiche Unterwäsche an.
Zu irgendeinem Zeitpunkt erhielt ich eine neue Aufgabe und zog vom Glashaus in ein anderes Gebäude unter Schweizer Schutz, in der Wekerle-Gasse. Dort wurde beschlossen, dass wir in einer Dreiergruppe arbeiten sollten. Einer war Breuer Meir, und der dritte war ein Neuer, ich weiss seinen Namen nicht mehr. Wir zogen los, um Proviant zu beschaffen, den wir danach in die Kinderhäuser und ins Ghetto transportierten. Wir unternahmen eine Reihe solcher Transporte von dort aus. Von dem Ort wegzukommen [wo wir den Proviant erhielten], war einfach grauenhaft – und höchst gefährlich! Einer von uns zog den Karren, und die beiden anderen schoben. Er war voll beladen und mit einer Decke zugedeckt [um den Proviant zu tarnen], aber die Bevölkerung war ausgehungert, und oft fielen sie über den Karren her.
Infolge der grauenhaften Hygienezustände [sowohl in der Wekerle-Gasse als auch im Glashaus] bekam ich die Krätze, und meine ganze Haut bedeckte sich mit Wunden. Im Gegensatz zu den Männern, die man leicht als Juden identifizieren konnte, indem man ihnen mit Gewalt die Hosen herunterzog, konnten die Frauen und Mädchen mit gefälschten Ausweisen hinausgehen [auf denen nicht vermerkt war, dass sie Jüdinnen waren]. So brachte mir eine der Kameradinnen, Zippi Schechter, irgendeine Salbe. Da ich sie direkt, ohne sie vorher zu verdünnen, auftrug, bekam ich furchtbare Verbrennungen, hohes Fieber und fantasierte.
In der Zeit, in der ich krank war, brachen meine beiden Kameraden – mit dem Karren – ohne mich auf und verschwanden. Wir wissen nicht, was ihnen zugestossen ist. Höchstwahrscheinlich hat man sie am Donauufer umgebracht; das war damals die Methode. Die hygienischen und gesundheitlichen Bedingungen haben mich beeinträchtigt, aber letzten Endes haben sie mir das Leben gerettet.
Wenige Tage später kamen die Russen in die Stadt. Wir wurden befreit. Und wieder fingen wir an, uns zu organisieren. Jeder von uns erhielt verschiedene Aufgaben, von denen die meisten mit den Kindern zusammenhingen, die sich in der Obhut des Roten Kreuzes befanden. Da ich eine slawische Sprache beherrschte, Slowakisch, konnte ich mich ein wenig mit den Russen unterhalten. Meistens stand ich Wache. Mir ist eine kuriose Situation in Erinnerung geblieben: Einmal kam ein russischer Soldat zu uns, ging hinein, und ich erklärte ihm, dass er hier keine Mädchen finden würde, sondern nur kleine Kinder, die den Krieg überlebt hatten – die russischen Soldaten suchten schliesslich überall nach Mädchen. Er hatte einen nicht allzu grossen Teppich auf der Schulter; es war Winter. Er nahm den Teppich und sagte: «Nimm den Teppich, deck sie zu, damit ihnen nicht kalt wird.» Das war typisch russisches Benehmen: Er war gekommen, um Mädchen zu vergewaltigen, und am Ende hatte er Mitleid mit den Kindern – «Deck sie zu.»
Anschliessend wurde ich Betreuer von Kindern auf ungarischem Gebiet, und als ich im Mai 1945 erfuhr, dass meine Geburtsstadt, Bratislava, befreit worden war, kehrte ich nach Hause zurück, um herauszufinden, ob meine Eltern überlebt hatten. Ich ging zu dem Lager, das dem Mann – ein Goj – gehörte, der meine Schwester gerettet hatte; er war Textilkaufmann. Während des Kriegs hatte er einen der Kameraden aus unserer Jugendbewegung als seinen Geschäftsführer gewählt. Er hatte auch einen Bunker gebaut und viele Juden versteckt. Nach dem Krieg erhielt er den Titel «Gerechter unter den Völkern». Ich ging also zu seinem Geschäft und spähte durchs Schaufenster. Plötzlich schlug mir das Herz bis zum Hals – da drinnen war meine Schwester! Ich ging hinein und fand auch meine Mutter dort. Sie sagten mir, dass mein Vater gleich von der Arbeit zurückkommen