Zeit im Glashaus? Hast du manchmal dort übernachtet?
Jean: Ich habe oft dort übernachtet. Am Morgen ging ich in die deutsche Kaserne und erhielt meine Informationen. Ich musste jeden Tag um acht dort sein, weil die deutschen Offiziere die Truppen antreten liessen und die Tagesbefehle erteilten. Es mussten alle anwesend sein, weil die Truppen inspiziert wurden.
Lawrence: Du hast mir auch erzählt, dass du den Weihnachtsabend mit deutschen Soldaten verbracht hast.
Jean: Wir feierten Weihnachtsabend in der Kaserne, und ich war einfach einer von denen, die feierten, das war nichts Ungewöhnliches. Ich meine, besonders an solchen Orten fragt keiner, wer du bist, was du bist oder woher du kommst. Der Alkohol war wichtiger.
Charlotte: Was hielten die Deutschen davon, dass Sie ins Glashaus gingen?
Jean: Die Deutschen? Ich habe sie nie danach gefragt.
Charlotte: Aber Sie waren doch in der Kaserne. Sahen sie denn nicht, dass Sie von dort ins Glashaus gingen?
Lawrence: Dad, du hast mir mal erzählt, dass du den Verdacht hattest, der Untergrund habe einige Leute in der deutschen Armee bezahlt, damit du dortbleiben konntest.
Jean: Ich bin mir sicher, dass sie das taten. Das stimmt. Kein Zweifel möglich. Ich bin sicher. Denn es sind so viele eklatante Dinge passiert: Es wäre unmöglich gewesen, dass die Deutschen nichts davon mitbekamen.
Egon Grünstein (alias Hans Karl Schleier), Passfoto für den deutschen Ausweis 1944
Lawrence: Was geschah, als die nächste Welle Russen ankam? Gingen sie ins Glashaus?
Jean: Sie stürmten durch das Haus, randalierten, und waren darauf aus, die Frauen zu vergewaltigen, nicht zu fassen, vor allen anderen. Zwei Kerle hielten sie fest, drei andere sahen zu, und dann wechselten sie einander ab. Nicht zu fassen! Das war am schwersten zu ertragen; wir hatten auf die Russen gewartet, unsere Retter, und dann kamen plötzlich solche Russen. Ein Mann aus meiner Heimatstadt sagte «Здра́вствуйте» [«Hallo»] zu ihnen. Der Russe fragte ihn, wer er sei, und der Mann aus meiner Heimatstadt antwortete: «я евре́й» [«Ich bin Jude»]. Der Russe führte ihn zwei Häuserblocks weiter und erschoss ihn, das war’s. Am nächsten Tag ging ich. Ich machte mich auf den Heimweg. Ich sah leere Häuser und Leichen. Ich brauchte acht Stunden im Zug bis nach Veľký Sevľuš. Meine Familie hatte aus 28 Mitgliedern bestanden, nur zwei von ihnen haben überlebt: meine Schwester Sidi [Grunstein Gluck] und ich. Die übrigen Familienmitglieder, einschliesslich meiner drei Brüder, Béla, Tibor und Miklós, und meiner sechsjährigen Schwester Vera, waren nach Auschwitz deportiert worden, und keiner von ihnen ist zurückgekommen.
Das auf Englisch geführte Gespräch zwischen Jean Greenstein und seinem Sohn Lawrence Greenstein wurde gekürzt und zugunsten besserer Lesbarkeit sprachlich leicht überarbeitet. Es wurde am 7. November 2016 in Tarzana, Kalifornien, aufgenommen. Das Gespräch wurde von Charlotte Schallié initiiert und fand in ihrem Beisein statt.
Aus dem Englischen von Lis Künzli
David Gur
David Gur mit seiner Frau, Prof. Naomi Gur, und ihrer Tochter Michal Laor in Ramat Gan, Israel 2015
Ramat Gan, Israel
Geboren als Endre Grósz am 20. März 1926 in Okány (Ungarn).
«In jedem Augenblick konnte ein Stück Papier ein Menschenleben bedeuten»
Im September 1943 schloss sich David Gur (Endre Grósz) in Budapest der zionistischen Jugendbewegung Haschomer Hazair an. Nach der Besetzung Ungarns durch die Deutschen am 19. März 1944 wurde er für das «Werkstatt»-Team rekrutiert, das gefälschte Dokumente herstellte. Kurze Zeit später leitete David Gur die zentrale Werkstatt des zionistischen Jugendwiderstands in Ungarn. Der Untergrund hatte seine Aktivität am Tag der deutschen Besetzung aufgenommen.
Ich bin im ungarischen Dorf Okány geboren. Mein Vater Miklós Grósz war Holz- und Kornhändler. Wir waren, fern der jüdischen Tradition, eine der zehn assimilierten jüdischen Familien des Dorfes. Ich schloss das Gymnasium an einer protestantischen Schule einer Nachbarstadt ab. Juden machten nur einen kleinen Prozentsatz der Schülerschaft aus. Auch wenn die meisten Lehrer nicht gerade für ihre Judenfreundlichkeit bekannt waren, gab es doch keinen offenen Antisemitismus.
1943, als ich siebzehn war – und ein Reifezeugnis hatte –, waren die Pforten der Institute für höhere Bildung den jungen Juden verschlossen. So ging ich nach Budapest und wurde Lehrling in einer jüdischen Baufirma. Tagsüber arbeitete ich, und nachts lernte ich Bauzeichnen. Im September versuchte ich mich der Untergrundbewegung Haschomer Hazair anzuschliessen, was mir gelang. Die meisten Aktivisten stammten aus den Reihen der ungarischsprachigen Flüchtlinge aus der Slowakei, die in Budapest lebten. Ende März wurde ich aufgrund meiner zeichnerischen Fähigkeiten ins Team der Fälscherwerkstatt aufgenommen. Später war ich als Leiter der Werkstatt direkt in die Widerstandsbewegung und all ihre Aktivitäten involviert. Der Werkstatt kam im Untergrund eine Schlüsselrolle zu, da sie der zionistischen Jugendwiderstandsbewegung, deren einzelne Mitglieder in enger Abstimmung miteinander arbeiteten, für sämtliche Operationen die nötigen Mittel bereitstellte. Ihre Tätigkeiten umfassten:
Arisierung: Führende Mitglieder des zionistischen Jugendwiderstands wurden mit Dokumenten ausgestattet, die sie als arische Christen auswiesen. Diese neue Identität ermöglichte ihnen das Überleben und die Rettung anderer.
Missionen in den Provinzen und Zwangsarbeitslagern: Mitglieder des zionistischen Jugendwiderstands suchten isolierte jüdische Gemeinden auf, um sie vor der bevorstehenden Ghettoisierung und Deportationen zu warnen. Jüdischen Jugendlichen wurde Fluchthilfe geleistet, und sie wurden mit Geld, falschen Dokumenten und Adressen in Budapest ausgestattet.
«Tijul»: Als sämtliche Länder rund um Ungarn von den Deutschen besetzt waren, bestand die einzige Hoffnung auf Entkommen darin, die rumänische Küste am Schwarzen Meer zu erreichen. Die zionistische Jugendbewegung stellte gefälschte Dokumente bereit und organisierte für Tausende jüdischer Jugendlicher den illegalen Grenzübertritt und rettete sie so vor der Vernichtung.
Kinderheime: Tausende jüdischer Kinder blieben allein in Budapest zurück, als ihre Eltern deportiert wurden. Die zionistische Jugendbewegung kümmerte sich um sie, richtete Kinderheime ein, suchte nach den Kindern und brachte sie in Heimen unter, wo sie versorgt und geschützt wurden. Das Team der Betreuer wurde mit gefälschten Berechtigungsscheinen und Identitätspapieren ausgestattet. Die Konvois mit dem Proviant für die Heime wurden von Wachen eskortiert, die sich aus Mitgliedern der zionistischen Jugendbewegung zusammensetzte, deren Papiere sie als Soldaten oder Pfeilkreuzler-Milizionäre auswiesen.
Hilfe für nichtjüdische Antinazigruppen: Vertreter lokaler Antinazigruppen wurden auf Anfrage von der zentralen Werkstätte des zionistischen Jugendwiderstands mit Papieren ausgestattet, die es ihnen erlaubten, ihre Untergrundaktivitäten zu organisieren.
Um die Rettungsaktionen durchzuführen und die dafür nötigen Unterlagen rechtzeitig fertigzustellen, musste die zentrale Werkstatt unter der ständig präsenten Gefahr funktionieren. Um nicht aufzufliegen, zog sie ständig um. Das richtige Dokument war die effektivste Waffe und Munition für sämtliche Operationen der zionistischen Widerstandsbewegung. Die Werkstatt für gefälschte Dokumente war der Dreh- und Angelpunkt des Überlebenskampfes.
Das Herstellen falscher Dokumente, das in Ungarn und Budapest einen äusserst wichtigen, autarken Bereich der Untergrundarbeit darstellte, war in anderen europäischen Untergrundbewegungen nur Mittel zum Zweck. Dies ist den spezifischen Umständen des ungarischen Untergrunds und den Möglichkeiten der jüdischen Rettungsaktivitäten geschuldet. In anderen Ländern waren die Hauptziele der bewaffnete Kampf, Sabotage und aktiver Widerstand. In Ungarn konzentrierte sich die jüdische Untergrundbewegung – mangels Alternativen –