Viele Werke der Alten sind Fragmente geworden. Viele Werke der Neuern sind es gleich bei der Entstehung […].5
Wir haben es hier aus zwei Gründen mit einer fragmentierten Einbildungskraft zu tun: Einerseits ersetzt Leopardi im Fragment das lyrische Dichter-Ich, das seinen stile roco6 verhandelt, durch eine «donna», ein lyrisches Sie bzw. Du – «ella», «colei» (v. 4, 30) –, das auffallend passiv bleibt. Andererseits wird dieses lyrische Ich nicht benannt, kommentiert nur einmal explizit das Geschehen und ist ansonsten abwesend:
Sola tenea la taciturna via
la donna, e il vento che gli odori spande,
molle passar sul volto si sentia.
Se lieta fosse, è van che tu dimande:
piacer prendea di quella vista, e il bene
che il cor le prometteva era più grande.
Come fuggiste, o belle ore serene!
Dilettevol quaggiù null’altro dura,
nè si ferma giammai, se non la spene. (vv. 19-27)7
Die abwesende Innerlichkeit der «donna» entspricht dem impliziten Status eines lyrischen Ichs, das Leopardis spätere Dichtung ansonsten prägt. Dieser mimetische Unterschied inszeniert damit gleichsam, mit einem Ausdruck aus den ersten 100 Seiten des Zibaldone, die gegen Di Breme und die Romantik gerichtet sind, «[l]a natura, purissima, tal qual’è, tal quale la vedevano gli antichi» (1471, Zib. 15). Die donna verkörpert sinnbildlich das Antike und Unbewusste, wodurch für uns ein Bild der ‹nackten Natur› entsteht8, und nur für das implizite lyrische Ich bzw. für den Leser besteht ein lustvoller ‹Schiffbruch mit Zuschauer›.9 Wir haben es also mit einer Vorstufe späterer Dichtung zu tun, indem auch das überarbeitete frammento nicht die Reflexivität nachfolgender Gedichte erreicht. Intratextuell ist der Mangel an ausgearbeiteten Poetologemen offensichtlich, die für Leopardi typisch sind: Der Mond, «la rugiadosa luna» (v. 18) – das Adjektiv ist von Vergil entlehnt –, wird als poetisches Bild nicht entwickelt, aber man liest seine poetische Abwesenheit vor dem Hintergrund etwa von Alla Luna oder La sera del dì di festa.10 Ebenso erinnert etwa «cantando al vento» (v. 10) an den theophanen Wind in L’infinito. Ex negativo wird aber reflektiert und bestimmt, worin das Defizitäre liegt.11 Die Anordnung von Spento il diurno raggio in occidente als letztes der frammenti geht mit diesem Umstand um und komplementiert die Struktur der Beobachtung damit so, dass sie sich der Bildlogik der Erinnerung annähert (cf. Abschnitt 1). Damit wird fraglich, ob die Frammenti lediglich «un’appendice ai Canti» sind, die besser mit La ginestra abschlössen.12
Das Gedicht konzentriert sich auf zwei Elemente: (i) Die Verse 1-27 stellen eine idyllische Nacht dar und beobachten eine anonyme «donna» (v. 20), die zu einer «amorosa meta» (v. 4) bzw. einem «dilettoso loco» (v. 39) geht. Nach einem romantischen Sonnenuntergang wird zunächst das setting dargestellt. «Spento il diurno raggio in occidente» (v. 1) leitet eine Lichtverschließung bzw. eine Augenverdunklung ein. In späteren Gedichten wird die Blick- und Weltverdunklung meist weniger ausführlich geschildert, so heißt es etwa in Il tramonto della luna lakonisch «e si scolora il mondo» (198, v. 12). Mit anderen Gedichten teilt das frammento ein nicht-idyllisches Sprechen bzw. ein Jenseits der Idylle.13 Das Mädchen ist nur gerichtet auf das liebliche Ziel, und das beobachtete Gewitter beginnt jenseits dieses locus amoenus: «là del dilettoso loco» (v. 39). Eine Stille – «queto», «queta» (v. 2) –, erinnert an den Beginn von La sera del dì di festa14. Das Ziel des Rendez-vous15 – «volta all’amorosa meta» (v. 4) – scheint eine dantische Lebensentscheidung16 einzuführen, aber nicht in einem Wald, sondern in einer Heidelandschaft: «ad una landa» (v. 5). Diese Öffnung steht damit intertextuell bereits in einer Schließung des Horizonts17, die sich verspätet einstellt im «bosco» (v. 38). Ein implizites18 lyrisches Ich beobachtet ein lyrisches Du, die donna, und das Gewitter. (ii) Die Verse 28-76 stellen das Sich-Entfalten des Gewitters dar, das den tragischen Tod der donna herbeiführt. In Vers 34 findet sich die bemerkenswerte Formulierung: «Spiegarsi ella il vedea per ogni canto». Das «Spiegarsi» nimmt die barocke, leibnizsche Metapher der Falte19 bzw. des Sich-Entfaltens auf, «per ogni canto», also an jedem Ort oder in jedem Gedicht, nimmt die Ambivalenz von Raum und Dichtung auf, mit der bereits das vorherige 38. frammento schließt:
S’apre il ciel, cade il soffio, in ogni canto
posan l’erbe e le frondi, e m’abbarbaglia
le luci il crudo Sol pregne di pianto. (212, vv. 13-15)
Io qui vagando al limitare intorno endet im Zeichen einer entpoetisierten Gegenwart des lyrischen Sprechens, in der es «schlecht um transzendente Bezüge»20 steht, in einem abschließenden Augenblick, wo Himmelöffnung und Licht nicht Epiphanie, sondern überall und je ein Ende der Inspiration verheißen.21 Die Inspirationslosigkeit findet sich ebenfalls im 39. Fragment als Motiv: Proleptisch ist von Beginn an klar, dass die Natur nicht (zu uns) sprechen wird, denn pars pro toto für die Landschaft – als Bild für den Versuch zu dichten – nimmt der frühe Vers «I ramuscelli ivan cantando al vento» (v. 10; M.H.) die späteren Verse vorweg «Veniva il poco lume ognor più fioco; | E intanto al bosco si destava il vento» (v. 37sq.). Versteht man Vers 34 als eine emblematische und metapoetische mise en abyme, ergibt sich eine Logik, die sich überall, in jedem Winkel, auch in jedem der canti, entfaltet. Der letzte gedankliche Abschnitt der Versteinerung (vv. 67-76) beginnt mit einem «lampo» (v. 67) und schließt damit einen Bogen zurück zur Vorlage, die mit «Era morta la lampa» (291, v. 1) beginnt, wobei das Thema des appressamento, des Herannahens, nicht nur in der Anzahl auf 76 Verse reduziert wird, sondern auch – wörtlich – kondensiert wird auf ein «all’appressar del nembo» (v. 48); kein Herannahen des Todes, sondern des Gewitters. Damit sind eine erste Verbildlichung und Bildlichkeit des Langgedichts hintergangen. Diese Änderung hat Folgen fürs Ganze und für die Bedeutung des Endes des Gedichts:
Beide Teile haben jeweils eine Art Epitaph. In den Versen 22-27 bricht das ansonsten implizite und abwesende lyrische Ich aus seiner Beobachterrolle aus und verbindet die beiden Teile mit einer philosophischen Perspektive. Die letzten vier Verse verändern nochmals den Satzrhythmus innerhalb des adversativen «Ma» (v. 70) und führen eine fatale quiete dopo la tempesta ein.
E si rivolse indietro. E in quel momento
si spense il lampo, e tornò buio l’etra,
ed acchetossi il tuono, e stette il vento.
Taceva il tutto; ed ella era di pietra. (vv. 73-76)
Wind und Sturm sind ein rekurrentes Denkbild in Leopardis Dichtung. Es lässt sich zwischen einem harmonisch-theophanen und einem bedrohlich-katastrophalen Wind- bzw. Sturm-Bild unterscheiden. Das frammento fällt insofern aus dieser Dichotomie heraus, als der Übergang von einem sanften, idyllischen Hauch zum stürmischen Wind sich vollzieht.22 Das frammento wird zusammengehalten von einem eingeklammerten lyrischen Ich, das Flauberts Erzähler-Ideal zu erfüllen scheint; «[d’être] comme Dieu dans l’univers, présent partout et visible nulle part»23. In dem angesprochenen Einschub zwischen Idylle und Sturm (vv. 22-27) findet sich eine in Leopardis Lyrik einmalige Leseransprache «Se lieta fosse, è van che tu dimande» (v. 22, M.H.), die man auch als einen versteckten Ausruf der donna verstehen kann, als eine unmarkierte psychologische Interpretation oder Projektion – analog zum style indirect libre – des lyrischen Ichs, der ihr auch ein naives Glücksversprechen des Herzens unterstellt (v. 23sq.) und die Flüchtigkeit der Eindrücke zur Existenzmetapher philosophisch radikalisiert (vv. 25-27). Die ersten Verse, die dann den Sturm einleiten, nehmen eine gegenüber dem Appressamento entscheidende doppelte semantische Verschiebung vor, die mit der zuvor zitierten Verschiebung in La sera del dì di festa in den Versen 28 und 46 vergleichbar ist.
e la dolcezza in cor farsi paura (292, v. 33, M.H.) ~ e il piacere in colei farsi paura. (v. 30, M.H.)
Nicht mehr «la dolcezza», sondern «il piacere» wird zur Angst. Mit dieser Änderung wird die