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Leopardis Bilder


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Variante seiner selbst denkt (Abschnitt 2 Bilder fingieren). Spento il diurno raggio in occidente entspricht noch nicht vollständig der Bildlogik späterer Gedichte. Da es sich um eine Überarbeitung der cantica handelt, des dantesken Langgedichts Appressamento della morte, wird das Defizitäre qua Fragmentierung inszeniert. Auch die Anordnung der Frammenti spiegelt diese Struktur: Der Gedichtband der Canti besteht aus canti und frammenti, und die Frammenti rahmen nicht nur die Canti, sondern setzen sie ins Bild als Lyrik, die erst nach der so genannten mutazione totale in me im Jahre 1819 möglich ist (cf. 1517, Zib. 143sq.), wie etwa im ersten Fragment Odi, Melisso (Abschnitt 3 Bilder beobachten).16

      1 Bilder erinnern – transzendentale Erinnerung

      Leopardi denkt und dichtet Bilder immer funktional bzw. in Relation zu anderen Bildern. Funktionalität ist der Gegenbegriff zu Substantialität. Insofern Leopardi Bilder funktional und nicht substantial verwendet, gibt es keinen (romantischen) Wesenskern (der Dichtung), sondern (nur) eine Verwendungsweise vom Wort ‹Bilder›. Dadurch verlieren die Bilder ihre Abbildfunktion. Allgemeiner ergibt sich so eine Definition von Kunstwerken, von der gilt, dass «der Ordnungszusammenhang des Werkes […] allererst die Bedeutung seiner einzelnen Momente [stiftet].»1 Dieser «Konvenienzbegriff»2 entgeht klassizistischen Restriktionen und ersetzt den Schönheitsbegriff durch den der Stimmigkeit.3 Leopardi konzipiert eine bildtheoretische Variante dieser reflexiven Struktur.4 Etwas ist schön, d.h. zusammenpassend, wenn eine lyrische Aussage auf ein vergangenes Bild der Einheit verweist. Leopardis Dichtung tarnt also ein (romantisches) Transzendenzstreben als eine (moderne und in sich gewendete) Sprachwerdung; mit L’infinito formuliert: Das Unendliche zu sagen, erfüllt sich nicht nur in einem Scheitern, sondern auch in einem prinzipiell nicht-gegenwärtigen Sprechen. Im Zibaldone versteht Leopardi Erinnerungen als Bilder und diese als Nukleus seiner Dichtung. Innerhalb der weit verstreuten und jenseits einer in sich konzisen Argumentation gibt der Zibaldone Auskunft über Leopardis Bildlogik, die man argumentativ in drei Schritten rekonstruieren kann: (i) Leopardi konzipiert eine poetologische Erinnerung, die funktional und konstruiert ist. Wegen ihrer paradoxen Zeitlichkeit steht am «Anfang der Temporalität […] die transzendentale Erinnerung», damit die «Erinnerung an etwas, das es nie gab.»5 Der Augenblick, in dem man sich an ‹etwas› erinnert, verweist auf eine vergangene Fülle und dichte Erfahrung. (ii) Leopardi formuliert aber einen Einspruch gegen die Vorstellung, dass das Erinnerte auf Vergangenes und Wirkliches Bezug nehme. Der Akt des Erinnerns ruft das vermeintlich Erinnerte nicht nur hervor, sondern produziert es vielmehr. Sich zu erinnern ist ein Schöpfungsakt und damit poietisch. Die Erinnerung bzw. die Retention ist nach Leopardi das primäre Medium jeder Erfahrung und verweist auf die Kindheit, genauer auf Bilder des Kindes:

      Così che la sensazione presente non deriva immediatamente dalle cose, non è un’immagine degli oggetti, ma della immagine fanciullesca; una ricordanza, una ripetizione […] della immagine antica. (1587, Zib. 515)

      Die gegenwärtige Erfahrung wird also durch die Erinnerung vermittelt und die Erinnerung nimmt nicht auf Dinge Bezug, sondern auf Bilder aus der Kindheit. Aber auch diese Bilder wiederholen nur – und hier klingt es zunächst stark platonisch – die ursprüngliche «immagine antica». Damit hat auch jede gegenwärtige Erfahrung keinen unmittelbaren Bezug auf die Wirklichkeit. Erfahrung ist also keine substanzielle Beziehung zwischen Ich und Welt, sondern eine funktionale Relation, die nur im Kontext von Bildern und durch sie besteht. Das Gleiche gilt auch für Leopardis poetisches Material, das sich durch eine vage, unbestimmte, und damit schöne, Bildlichkeit auszeichnet:

      [Le] immagini e sensazioni indefinite […] non sono altro che una rimembranza della fanciullezza […]. (1598, Zib. 515)

      (iii) Die Struktur der Erinnerung geht allerdings ins Unendliche und nimmt letztlich auf nichts Bezug. Zwei kaum besprochene Überlegungen im Zibaldone führen zu diesem Schluss: Der bambino, der noch kein fanciullo ist, besitzt kaum Bewusstsein, insbesondere keine facultas memorandi, nur eine ursprünglichere facultas imaginandi6: «Il bambino che non può aver contratto abitudine, non ha memoria […;] manca formalmente della facoltà della memoria» (1745, Zib. 1255). Daraus folgt allerdings: «nessuno si ricorda delle cose dell’infanzia» (ibid., M.H.). Jede gegenwärtige Erfahrung bezieht sich auf die Erinnerung, und deren Bilder verweisen immer nur auf Bilder, nicht aber auf die Sache selbst; oder, mit Kant gesprochen, auf das Ding an sich (selbst betrachtet). Damit kommt der «sensazione presente» ihre Abbildfunktion «della immagine fanciullesca» abhanden. Leopardi dekonstruiert somit den Mythos der Kindheit, den er maßgeblich in der italienischen Literatur verankert hat. Dieser Gedankengang erklärt zugleich auf theoretische Weise, dass (fast) alle Canti – eine Ausnahme bildet die Palinodia al Marchese Gino Capponi7 – Erinnerungsgedichte sind.8

      Eine paradigmatische Umsetzung der transzendentalen Erinnerung leistet La sera del dì di festa. Die Erinnerung verweist hier auf eine letztlich endlose Kette von Bildern. Es werden Zeitbilder entworfen, die mit der modernen Flüchtigkeit der Zeichen umgehen. Diese liest Leopardi etwa am ephemeren Leben der Bücher ab, spricht sie allerdings mit Pindar9 auch dem Menschen zu, der nur Traum von einem Schatten sei.

      La sorte dei libri oggi, è come quella degl’insetti chiamati efimeri (éphémères) […]. (2340, Zib. 4270)

      La vie, disoit Pindare, n’est que le rêve d’une ombre […]; image sublime, et qui d’un seul trait peint tout le néant de l’homme. (1988, Zib. 2672)

      La vita umana […] non essendo cosa di più sostanza che un sogno di un’ombra. (507, Proposta di premi fatta dall’Accademia dei Sillografi)

      Diesem «image sublime» entspricht ein Primat der illusioni gegenüber dem, was man «realtà» nennt. In La sera del dì di festa gibt es gleich fünf Monologpartner, die verschiedene Bildebenen darstellen, auf denen der moderne Erfahrungsverlust besonderer Augenblicke gestaltet wird.10 Die ontologische Fundierung der Bilder nimmt ab. Der Eindruck von objektiver Fülle – der Mond (vv. 1-4) – wird jäh durch die Erinnerung an die unerfüllbare persönliche Hoffnung – die Dame (vv. 4-24) – unterbrochen. Diesem Bild der Trauer widerspricht die Freude der dritten Figur des Anderen, des Handwerkers (vv. 24-33). Er verstärkt aber zugleich die Trauer, da sie mit einem weiteren Bild des Anderen – die Antike bzw. Rom (vv. 33-37) – assoziiert wird, die unendlich weit entfernt ist. Damit schließt sich einerseits der Kreis, denn für Leopardi sind Natur und Antike Beinahe-Synonyme. Andererseits ist der Kreis damit aufgebrochen, da der poetisch-logische Primat jeweils auf dem zweiten Bild liegt: Erst die Erinnerung an die Dame lässt den Mond so hell erscheinen. Die Mondlandschaft, mit der La sera del dì di festa anhebt, evoziert ein Versprechen reinster Gegenwart. Der Einschub der Größe der Antike ist ein erster Abschluss. Das déjà-écouté-Erlebnis des Gesangs des Handwerkers offenbart sich als Bild unvordenklicher Wiederholung:

      mi si stringe il core ~ già similmente mi stringeva il core. (123, v. 28, 46)

      Der Mythos des Ursprungs wird dekonstruiert und das Ende des Gedichts (v. 46) ist kein wirkliches Ende. Denn der Augenblick, in dem sich das Herz zusammenzog, verweist auf einen anderen Gesang bzw. canto (v. 28), den dieser wiederholt. Diese transitive Funktion von Erinnerungsbildern sinnentleert die Gegenwart. Die ironische Brechung besteht am Ende gerade im erinnerten Bild, da die ästhetische Idee des Festtags und die nachhallende Erwartung einer Erfahrung des Heiligen «non sono altro che una rimembranza della fanciullezza» (v.s., Zib. 515). Die Verdopplung steigert die zeitliche Extension und die gefühlte Intensität des Ausgeschlossenseins. Das profanierte Fest wird zum Bild einer transzendentalen Erinnerung. Der jetzige Gesang entspricht dem erinnerten nur «similmente». Der erinnerte Gesang wird nicht nur im damaligen Jetzt gehört, sondern prinzipiell immer wieder, wie das Imperfekt «s’udi[v]a» anzeigt. Er ist zugleich vager, da er räumlich unbestimmt ist. Die nicht-identische Erfahrung des Verlusts anlässlich eines vergleichbaren damaligen Gesangs mündet in eine abschließende Unbestimmtheit.

      Eine vergleichbare Bildlogik transzendentaler Erinnerung prägen Le Ricordanze aus.11 Mit der ambivalenten Distanz des Silvia-Bildes aus dem gleichnamigen, vorherigen canto