Die verschiedenen Staatsreformen in Belgien
Belgien geriet in eine Transformationsphase mit mehreren Gesetzesänderungen, um die Befugnisse, die vom Zentralstaat ausgeübt wurden, an andere Einheiten zu übertragen. Diese Entwicklung hat Belgien nach und nach in einen Föderalstaat umgewandelt. Gegenwärtig scheint diese Transformation keineswegs zu Ende zu sein.
Wir wollen kurz auf die Staatsreformen eingehen, die zu einer Veränderung des Status der Deutschsprachigen Gemeinschaft geführt haben.
Die Staatsreform von 1968–1973
Das Jahr 1968 ist ein Krisenjahr: Die alte Universität Löwen (1425 gegründet) wird geteilt, und der frankophone Teil muss die Stadt, die auf flämischem Territorium liegt, verlassen. So entstand Louvain-la-Neuve, eine auf dem Reißbrett geplante Stadt, in der sich der französischsprachige Teil der Universität seitdem niedergelassen hat. Gleichzeitig bekommen Flamen, Wallonen aber auch die Deutschsprachigen eine kulturelle Autonomie, und so wird die deutsche Kulturgemeinschaft geschaffen. Die erste Sitzung des neu geschaffenen Rats (Rat der deutschen Kulturgemeinschaft) findet am 23. Oktober 1973 statt.
Die Zweite Staatsreform von 1980–1983
Die Gemeinschaften bekommen autonome Dekretbefugnisse in kulturellen und personenbezogenen Angelegenheiten sowie in den zwischengemeinschaftlichen und internationalen Beziehungen; der Staat gibt diese Befugnisse unwiderruflich ab. Für die Deutschsprachigen bedeutet dies den effektiven Anfang einer nicht mehr vom belgischen Staat bestimmten Politik. Die politischen Parteien können jetzt vor Ort einen politischen Kurs ansteuern, der von „nationalen“ Interessen abgekoppelt ist.
Das Gesetz vom 31. Dezember 1983 ist in dieser Hinsicht entscheidend: Am 30. Januar 1984 wird der Rat der Deutschsprachigen Gemeinschaft geschaffen. Außerdem entsteht die erste Exekutive, nämlich eine Regierung mit insgesamt drei Ministern.
Die Dritte Staatsreform von 1988–1990
Für Ostbelgien stellt diese Staatsreform, bei der die Befugnisse in Sachen Unterrichtswesen übertragen werden, einen weiteren entscheidenden Schritt dar. Seit dieser Reform ist die Deutschsprachige Gemeinschaft autonom in der Regelung ihres Unterrichtswesens. Die Finanzierung verläuft allerdings so, dass der Zentralstaat der Gemeinschaft jedes Jahr eine Summe zur Verfügung stellt, die diese dann ausgeben kann, wie sie es autonom bestimmt. Dies führte zum Ausbau einer Verwaltung. Durch Dekrete regelt die Gemeinschaft die jeweiligen Aspekte wie die Rahmenpläne, die Lehrerausbildung usw., wie sie es demokratisch wünscht.
Es folgten weitere Staatsreformen, von denen die Deutschsprachige Gemeinschaft ebenfalls – aber in geringerem Maße – betroffen war. Diese Punkte werden, wenn nötig, in den folgenden Abschnitten erörtert.
4 Die Politik und die rechtliche Stellung der DG heute
4.1 Überblick
Der belgische Staat hat sich, wie gesagt, in den letzten Jahrzehnten grundsätzlich neu organisiert; und zwar in Richtung Föderalstaat. Der Zentralstaat behält gewisse Befugnisse (Armee, Währung, belgische Außenpolitik usw.), doch kommen den neu geschaffenen Einheiten exklusive vom Zentralstaat abgegebene Befugnisse zu. Die Steuergelder werden jedoch größtenteils weiter vom Zentralstaat erhoben, was den neuen Einheiten bisher nur eine begrenzte finanzielle Autonomie überlässt. So dürfen die Regionen zum Beispiel die Erbschaftssteuer kassieren; doch werden die sogenannten „Dotationen“ des Staates nach einer festen Regel (Einwohnerzahl plus Territorium) verteilt.
Die aktuellen politisch-administrativen Einheiten in Belgien umfassen:
drei Regionen: die flämische Region, die wallonische Region und Brüssel
drei Gemeinschaften: die flämische Gemeinschaft, die französische Gemeinschaft und die Deutschsprachige Gemeinschaft
Die Befugnisse werden, grob formuliert, nach territorialen Aspekten (auf Ebene der Regionen) und personengebundenen Aspekten (auf Ebene der Gemeinschaften) verteilt.
Die Umverteilung der Befugnisse geht nur schleppend voran, da Brüssel ja ein Territorium ist, das sich in der flämischen Region befindet, die Bevölkerung jedoch in einer großen Mehrheit aus Frankophonen besteht. Deshalb wurde Brüssel zu einer eigenständigen Region im Sinne der Verfassung. Das Gleiche gilt für gewisse Randgemeinden von Brüssel, die ganz auf flämischem Territorium liegen, aber von einer Mehrheit von Frankophonen bewohnt werden, so dass das territoriale und das personengebundene Prinzip in Konflikt miteinander geraten. Diese Auseinandersetzungen haben mehr als eine belgische Regierung zum Sturz gebracht.
Wie wurde in diesem Kontext die Deutschsprachige Gemeinschaft behandelt? Sie besteht heute aus neun Gemeinden. Malmedy ist aus dieser Problematik herausgenommen worden, die Stadt gehört ganz der wallonischen Region und der französischen Gemeinschaft an, es gibt allerdings noch sogenannte „Fazilitäten“ (facilités), die einem Deutschsprachigen dort erlauben, sich auf Deutsch an die Verwaltung zu wenden. Ferner liegt in Malmedy das Hauptübersetzungszentrum der wallonischen Region, das verpflichtet ist, für die Region eine gewisse Anzahl Dekrete ins Deutsche zu übersetzen. Das liegt an der besonderen Situation der Deutschsprachigen Gemeinschaft. Hier sei auch vermerkt, dass eine Kommission von Spezialisten aus Sprach- und Rechtswissenschaftlern eine französisch-deutsche Rechtsterminologie festgelegt hat, die für jedermann zugänglich ist in der Terminologiedatenbank SEMAMDY.1
Wie die Bezeichnung verrät, verfügt die Deutschsprachige Gemeinschaft heute über alle Befugnisse, die in Belgien einer Gemeinschaft zustehen. Doch die Deutschsprachige Gemeinschaft ist im belgischen Sinne keine Region. Sie liegt sprachlich am Rande der französischsprachigen Wallonie, doch ihr Territorium liegt im Territorium der Wallonie. Die Deutschsprachige Gemeinschaft ist also keine Region im Sinne des Grundgesetzes und ist deshalb nur teilweise autonom. Dies hat einmal den damaligen Ministerpräsidenten der Wallonie Jean-Claude Van Cauwenberghe zu der Aussage veranlasst „Die DG, das sind deutschsprachige Wallonen“ (Le Soir, 16.8.2002). Juristisch war es – und ist es noch – zutreffend, doch die Deutschsprachigen fühlten sich durch diesen Ausdruck verletzt, da sie gefühlsmäßig keine Wallonen sind.
Auf Landesebene verfügt die Deutschsprachige Gemeinschaft über einen Gemeinschaftssenator, zur Zeit Karl-Heinz Lambertz, der übrigens darüber hinaus seit 2017 den Vorsitz des europäischen Ausschusses der Regionen innehat. Die Vertretung im Senat ist also garantiert, was nicht der Fall ist für das belgische Parlament. Die verschiedenen Parteien versuchen allerdings im Wahlbezirk Verviers, dem einen oder anderen Deutschsprachigen zu einem Sitz im Parlament zu verhelfen, wie zum Beispiel für die deutschsprachige Abgeordnete Kattrin Jadin.
Das Gebiet der Deutschen Gemeinschaft2
Die Deutschsprachige Gemeinschaft verfügt über ein Parlament (PDG), das in Eupen tagt. Es besteht aus 25 Mitgliedern und verabschiedet Dekrete, die Gesetzeskraft haben.
Die Instrumente der Autonomie der DG selber beruhen auf den drei Säulen: Legislative, Exekutive, Judikative. Die Exekutive, die Regierung, wird geführt von einem Ministerpräsidenten, gegenwärtig Oliver Paasch. In der Regierung sind insgesamt vier Minister (am Anfang waren es nur drei). Wir werden im Folgenden noch kurz auf ihre Befugnisse eingehen.
Auch im Gerichtswesen gibt es eine gewisse Autonomie. Es gibt einen für Belgien 27. Gerichtsbezirk mit zwei Kantonen Eupen und Sankt Vith. Die Gerichtssachen bis zur ersten Instanz werden also örtlich in deutscher Sprache behandelt. Die Einstellung der Richter wird in Belgien vom Hohen Justizrat vorgenommen. Das Bewerbungsverfahren im Hohen Justizrat kann ganz in deutscher Sprache durchlaufen werden. Sowohl im Hohen Justizrat als auch in den höchsten juridischen Instanzen (die höchste ist der Kassationshof) kann die deutsche Sprache verwendet werden (Henkes 2012: 13). Zwei Hohe Magistrate des Kassationshofes sind gebürtige Ostbelgier: André Henkes und Tamara Konsek.