Lingyan Qian

Sprachenlernen im Tandem


Скачать книгу

Gattungen und spontane kommunikative Handlungen

      Ferner weist Luckmann (1986) auf den Unterschied zwischen kommunikativen Gattungen und spontanen kommunikativen Handlungen hin. Während es sich in kommunikativen Gattungen um historisch kulturell eingebettete Gesamtmuster handelt, baut der Handelnde in spontanen kommunikativen Aktionen schrittweise sein Handlungsmuster auf, um sein Ziel zu erreichen. Ausgehend von seiner Absicht wählt er sprachliche kommunikative Mittel aus seinem eigenen Wissensvorrat und bildet damit nach Grammatikregeln (Syntax, Phonologie, Morphologie, Semantik) Sätze für die kommunikative Interaktion in den jeweiligen Situationen. Zuweilen setzt der Handelnde stilistische Mittel und rhetorische Verfahren ein, je nach seiner Fähigkeit, seinem Bildungsniveau und der kommunikativen Situation. Die spontanen kommunikativen Handlungen werden nicht nach einem Gesamtmuster durchgeführt, sondern sind aus einer Mischung von bestimmten Routinen und strategischen Entwürfen geprägt.

      Funktionen kommunikativer Gattungen

      Die Gundfunktion kommunikativer Gattungen besteht nach Günthner/Knoblauch (1997: 283) darin, dass Orientierungsrahmen gebildet werden, auf die sich Interagierende sowohl bei der Produktion kommunikativer Handlungen als auch bei der Rezeption beziehen. Die Handelnden orientieren sich damit an einem vorgeprägten Muster. Der Interaktionsablauf wird dabei mehr oder minder gesteuert und die Kommunikation dadurch erleichtert.

      Kommunikative Gattungen haben eine weitere Funktion. Sie spielen eine Rolle für den sozialen Kontext, in dem sie Verwendung finden. Gattungen sind wesentliche kommunikative Verfahren zur interaktiven Konstruktion gesellschaftlicher Kontexte. Mit kommunikativen Gattungen kann man z.B. „eine soziale Beziehung zwischen den Interagierenden konstruieren“, „Wissensgefälle etablieren“, „Gemeinsamkeit von Normen (beispielsweise im Klatsch) bestätigen“ oder einen Bezug zur sozialen Situation herstellen (Günthner/Knoblauch 1997: 284).

      Andererseits haben kommunikative Gattungen eine reflexive Beziehung zu den sozialen Kontexten. Sie sind nicht einseitig den sozialen Kontexten unterworfen und von ihnen bestimmt. Die Herstellung institutioneller Kontexte stellt auch eine Funktion kommunikativer Gattungen dar (Günthner/Knoblauch 1997: 284). Mit der Verwendung kommunikativer Gattungen wie z.B. Bewerbungsgespräch, Referat oder Verkaufsgespräch stellen die Kommunikationsteilnehmer entsprechende soziale Kontexte her. Diese Kontexte wiederum spielen eine Rolle bei der Interpretation der Interaktion.

      Kommunikative Gattung und ähnliche sprachwissenschaftliche Begriffe

      Im Hinblick auf die Untersuchung verfestigter sprachlicher Handlungstypen hat sich im deutschsprachigen Raum der Begriff „sprachliche Handlungsmuster“ (Ehlich/Rehbein 1979) etabliert. Inhaltlich und terminologisch sind „sprachliche Handlungsmuster“ nahe dem Begriff „kommunikative Gattung“ (Luckmann 1986). Nach Ehlich/Rehbein (1979) ist es mit der Gesellschaft verbunden. Darunter versteht man nämlich „gesellschaftlich produzierte und reproduzierte Handlungsformen“ (Ehlich/Rehbein 1979: 250). Somit gelten „sprachliche Handlungsmuster“ als die verfügbare Handlungsvorgabe und regeln die Durchführung eines Handlungstyps. Trotz der begrifflichen Nähe unterscheiden sie sich jedoch von der kommunikativen Gattung. Dazu schreibt Birkner (2001):

      Im Unterschied zum Gattungskonzept bedienen sich Handelnde festgefügter, auf spezifische Zwecke begründeter Handlungsmuster und wählen Muster nicht, wie es Luckmann betont, als Orientierungen aus, die für die Lösung gesellschaftlicher Probleme geschaffen wurden und einen relativen Handlungsspielraum bieten. Kommunikative Gattungen existieren nicht außerhalb ihrer sprachlichen Realisierung, sie werden in der Interaktion erworben, tradiert und verändert. Handlungsmuster sind darüber hinaus theoretischer bestimmt, in ihren Ablaufstrukturen viel stärker festgelegt und werden in der linguistischen Analyse als vorhersagbar behandelt. (Birkner 2001: 41)

      In Zusammenhang mit der diskursanalytischen Forschung über sprachliche Handlungstypen ist der von Levinson (1979) geprägte Begriff „activity type“ erwähnenswert. Mit „activity type“ unterstreicht Levinson (1979) die enge Verbindung zwischen der sprachlichen Bedeutung und den menschlichen Handlungen. Er charakterisiert „activity type“ als zielgerichtetes, sozial konstituiertes, abgrenzbares und hinsichtlich u.a. der Beteiligten, des Settings und der erlaubten Beiträge beschränktes kommunikatives Ereignis (Levinson 1979: 368). Das deckt sich mit dem Konzept kommunikativer Gattung. Aber trotzdem gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen „activity type“ und „kommunikativer Gattung“. Nach Birkner (2001: 40–41) ist der Zweck von Gattungen die Lösung gesellschaftlicher Probleme, während das Ziel des „activity type“ in den rationellen Plänen individuell Handelnder angesiedelt ist.

      3.1.1 Die Struktur kommunikativer Gattungen

      In der Gattungsanalyse wird die Struktur der kommunikativen Vorgänge auf der Grundlage natürlicher Interaktionsdaten untersucht. Dabei handelt es sich um verschiedene Ebenen. Zunächst wird eine Differenzierung zwischen „Binnenstruktur“ textueller Elemente und „Außenstruktur“ sozialstruktureller Aspekte vorgenommen (Luckmann 1986: 203). Dazwischen liegt die „strukturelle Zwischenebene“ (Günthner/Knoblauch 1997: 288). Im Folgenden erläutern wir diese Ebenen.

      Unter Binnenstruktur kommunikativer Gattungen sind textinterne Elemente, verbal und nonverbal, zu verstehen. Sie sind konstitutiv für die betreffenden Gattungen. Dazu zählen phonologische Variationen und prosodische Mittel, wie Intonation, Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit, Pausen, Rhythmus, Akzentrierung, Stimmqualität. Die Auswahl einer spezifischen Sprachvarietät (z.B. Hochsprache, Jargon, Dialekt, Soziolekt, Sprachregister) wie auch der Einsatz expressiver Ausdrücke (z.B. mimische, gestische Elemente) gehört ebenfalls dazu. Syntaktische Konstruktionen (z.B. Frageformate, Imperativformen, Pronomen, Passivkonstruktionen, Konjunktionen) sind auf der binnenstrukturellen Ebene angesiedelt. Ferner gehören stilistische und rhetorische Figuren (z.B. Metaphern, Ellipsen, Wortspiele, Lautmalereien, hyperbolische Ausdrücke) sowie die bereits verfestigten Klein- und Kleinstformen (z.B. Sprichwörter, formularische Ausdrücke, idiomatische Redewendungen, verbale Stereotype) zum Repertoire der Binnenstruktur kommunikativer Gattungen. Gliederungsmerkmale sind ebenfalls der binnenstrukturellen Ebene zuzuordnen. Inhaltliche Verfestigungen, die Themen oder Motive betreffen, sowie die Rahmung (wie die Formen des Adressatenbezugs, in/direkte Adressierung der Hörer, das „recipient-design“), die die Beziehung zwischen Sprechenden und Rezipienten indiziert, können konstitutive Merkmale kommunikativer Gattungen sein. Darüber hinaus bildet die Interaktionsmodalität (ernst, spaßhaft, lustig, seriös, fiktiv usw.) ein Merkmal der Binnenstruktur kommunikativer Gattungen. In der Analyse der Binnenstruktur müssen auch die Besonderheiten des Mediums (mündlich, face-to-face, medial usw.) berücksichtigt werden.

      Die strukturelle Zwischenebene kommunikativer Gattungen umfasst die Aspekte der dialogischen Konstruktion. Dabei ist die Konversationsanalyse, die sich mit Gesprächsorganisation (wie Redewechsel, Paarsequenzen, Prä-, Post- und Einschubsequenzen, Präferenzstrukturen) auseinander setzt, für die Analyse dieser Ebene besonders wichtig. Darüber hinaus zählen Rituale – wie Kontaktaufnahme und -beendigung, Begrüßung und Verabschiedung, Einladung, Entschuldigung, Danken und Wünschen – auch zum Repertoire der strukturellen Zwischenebene kommunikativer Gattungen.

      Die Außenstruktur kommunikativer Gattungen bezeichnet die Beziehungen zwischen Gattungen und sozialen Milieus, kommunikativen Situationen, Geschlechterkonstellationen, Alter und Status der Handelnden, der Institutionen usw. Nach Bergmann/Luckmann (1995) geht es hier um die Strukturebene, die aus dem Zusammenhang zwischen kommunikativen Handlungen und der Sozialstruktur abzuleiten ist.

      Zur Außenstruktur gehört erstens die Beziehung zwischen Gattungen und kulturellen Gruppen. Kommunikative Gattungen sind häufig kulturellen Gruppen oder sozialen Milieus (z.B. Familien, Studentengruppen, Sportclubs usw.) zugeordnet. Außerdem zeichnen sie sich auch durch typische soziale Veranstaltungen aus. Mit sozialen Veranstaltungen sind strukturierte Handlungen gemeint, die zeitlich und räumlich festgelegt und teilweise institutionalisiert sind. Dazu zählen z.B. Hochschulseminare, Eltern-Lehrer-Gespräche wie auch informelle Tischgespräche in Familien und unter Freunden. Die Verwendung bestimmter Gattungen in solchen sozialen Situationen fördert die Konstruktion der Gruppenzugehörigkeit